Juliette

Das französische Kino hat weiß Gott zu allen Zeiten sagenhafte Schauspielerinnen hervorgebracht, die zum Ruhm der Grande Nation auf der Bühne, der Leinwand und dem Laufsteg zu sehen waren und sind. So verschieden sie auch sind von Catherine Deneuve über Isabelle Huppert und Sandrine Bonnaire bis zu Marion Cottilard, sie alle haben das je ne sais quoi, das sie als Französinnen ausweist und erkennen lässt, egal, welche Rolle in welchem Film sie gerade spielen. Das gilt auch für die vielleicht größte unter diesen Aktricen, Juliette Binoche, mit ihren Rehaugen, der Pagenfigur und dem Porzellanteint. Das europäische Kino wäre unvollständig ohne die Filme, an denen diese reine Schönheit mitgewirkt hat.

Juliette Binoche wird 1964 in Paris geboren. Der Vater ist Regisseur und Bildhauer, die Mutter, polnischer Herkunft, ist Lehrerin und Schauspielerin. Sie wächst in einer kulturell und intellektuell offenen Atmosphäre auf und spielt bereits als Kind Theater. 1984 hat sie einen kleinen Auftritt im Film „Maria und Joseph“ von Jean Luc Godard, den Durchbruch als international gefragte Schauspielerin schafft sie 1988 mit der Verfilmung des Romans „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ von Milan Kundera. In der Folge dreht sie verrätselte Arthouse-Filme ebenso wie romantische Komödien und existentielle Dramen, dabei arbeitet sie mit so renommierten Regisseuren wie Louis Malle, André Téchiné, Leos Carax, Michael Haneke und Krzysztof Kieślowski zusammen.

Zu ihren bekanntesten Filmen zählen „Die Liebenden von Pont-Neuf“ (1991), „Verhängnis“ (1992), „Drei Farben: Blau“ (1993), „Der englische Patient“ (1996), „Chocolat“ (2000), „Caché“ (2005), „Die Liebesfälscher“ (2010) und „Die Wolken von Sils Maria“ (2014). Für „Drei Farben: Blau“ wird sie mit dem französischen Filmpreis César ausgezeichnet, für „Der englische Patient“ erhält sie den Oscar für die beste weibliche Nebenrolle. 2019 ist sie Jury-Präsidentin während der Berlinale. Juliette Binoche ist Mutter einer Tochter und eines Sohnes aus zwei Beziehungen. Sie lebt in ihrer Geburtsstadt Paris, engagiert sich in der Ökologiebewegung, versteht sich als Feministin und malt in ihrer Freizeit. Morgen wird sie 59 Jahre. Félicitations!

All ihr darstellerisches Können zeigt sie exemplarisch gebündelt in dem zweieinhalbstündigen Epos „Der englische Patient“, einem der künstlerisch und kommerziell erfolgreichsten Filme der 1990er Jahre. Der Film spielt im Jahr 1945, die Deutschen sind nahezu besiegt und stehen vor der Kapitulation. Ein kanadischer Konvoi fährt durch Italien Richtung Norden, an Bord die Krankenschwester Hana, gespielt von Juliette Binoche. Sie beschließt, mit einem schwer verletzten und durch Brandwunden im Gesicht stark entstellten Patienten, gespielt von Ralph Fiennes, in einer Klosterruine zu bleiben, bis der Patient vom nahenden Tod erlöst wird. Sie pflegt ihn und nimmt ihm mit regelmäßigen Morphiumspritzen seine Schmerzen, in den anfangs zögerlichen Gesprächen freunden die beiden sich an. Schließlich beginnt der Namenlose angesichts seiner erhaltenen Aufzeichnungen, aus denen ihm Hana vorliest, sich seines früheren Lebens zu erinnern. Hinter ihm steht eine tragische verbotene Liebe zu einer verheirateten Frau, die er in der Wüste zurücklassen musste.

Der Film verschränkt zwei Geschichten in einer. Die Erzählebene spielt in der abgeschiedenen toskanischen Klosterruine, hineingeschoben werden immer wieder Szenen der Arbeit des Patienten als Geograph und Archäologe in der Sahara. Durch einen Flugzeugunfall hat er sein Gedächtnis verloren, das nun auf dem Krankenlager peu à peu wieder zurückkommt, darin enthalten sein Name, Graf Lazlo Almasy. In der Sahara lernt er auch Katharine, die Frau eines Kollegen kennen, gespielt von Kristin Scott Thomas, mit der er eine Affäre beginnt, die sich zu einer Lebensliebe auswächst. Dadurch, dass diese Szenen in der Vergangenheit liegen, ist der Zuschauerin nicht immer deutlich, welche Frau nun die Hauptrolle und welche die Nebenrolle spielt. Hana aka Juliette Binoche ist im Leben ihres sterbenden Patienten anwesend, sie kocht sein Essen und wechselt seine Bettwäsche, sie liest ihm vor und fungiert als seine Mnemosyne, die ihm hilft, sein früheres Leben auf dem Krankenlager noch einmal im Geiste zu erleben, um damit abzuschließen.

Juliette Binoche spielt Hana mit einer tiefen Melancholie und zugleich Lebensfreude. Sie hat während des Krieges ihren Partner verloren und musste überdies mitansehen, wie ihre Freundin von einer Mine zerfetzt wurde. Sie, die als Krankenschwester anderen routiniert hilft, kommt in der Einsamkeit der Pflege ihres Patienten selbst etwas zur Ruhe. Sie tauscht ihre feldbraune Uniform gegen ein geblümtes Sommerkleid, trägt die lockigen Haare wieder offen und spielt freudig wie ein Mädchen die Fugen Johann Sebastian Bachs auf einem unversehrt gebliebenen Klavier im Kloster. Als ein britischer Soldat, der als Spezialist zur Detektion und Entschärfung von Minen arbeitet, im Kloster auftaucht und dort Station macht, steht Hana unversehens zwischen zwei Männern. Dem einen bringt sie professionelle Fürsorge entgegen, dem anderen verschüttet geglaubte Gefühle.

Eine der ergreifendsten Szenen des Films spielt in einer kleinen Kirche in Arezzo. Kip, so der Name des britischen Soldaten, fährt Hana mit seinem Motorrad in den nahe gelegenen Ort und verspricht ihr eine Überraschung. Im Dunkel der Kirche befestigt er ihr einen Tragegurt um die Hüften und schließt über einen Karabiner ein Seil daran. Hana schaut ihm dabei ungläubig wie erwartungsvoll zu. Dann entzündet Kip eine Leuchtrakete und gibt sie Hana in die Hand. Über einen Haken an der Kirchendecke zieht er Hana unter das Dach, dort sieht sie im Magnesiumlicht der Rakete an den Wänden alte Renaissancefresken von Piero della Francesca. Hana in der Luft schwebend staunt und freut sich wie ein Kind, der vom Boden mit der Seilkonstruktion sichernde Kip wirkt wie ihr Tanzpartner. Mit ihm entdeckt Hana ihre eingefrorene Weiblichkeit hinter dem Grauen des Krieges wieder.

Der Film endet für Hana offen, für Almasy tödlich. Nachdem er seine Beziehung zu Katharine im Geiste durchlebt hat, kann er endlich sterben. Mit stummer Geste und letzter Kraft stößt er mit der Hand die Packung mit Morphiumspritzen neben seinem Lager um, Hana versteht den Wunsch und gibt Almasy unter Tränen die ersehnte Überdosis. Sie verlässt das Kloster und macht sich auf den Weg zu ihrem Konvoi Richtung Florenz. Im ganzen Film gelingt Juliette Binoche das eigentlich Unmögliche: Die Zuschauerin, die sie natürlich erkennt und womöglich ihretwegen in die Vorstellung gegangen ist, sieht zuerst Hana und nicht die berühmte Schauspielerin. Welcher es gelingt, Rolle und Identität im Spiel zu verschmelzen, darf sich zurecht Künstlerin nennen. Juliette Binoche bekommt das immer wieder hin, in ihren grandiosen Filmen ebenso wie in den beiläufigen Arbeiten. Das Publikum darf sich auf weitere Auftritte von ihr freuen, mit ihrem ebenmäßig zarten Gesicht, den Grübchen beim Lächeln, dem federnden Gang und dem Leuchten des Leibes. Très francaise.