We take as given the idea of distinction and the idea of indication, and that we cannot make an indication without drawing a distinction. We take, therefore, the form of distinction for the form. – George Spencer Brown
Nachdem Sascha die Sicherheitsschleuse am Eingang zum Weihnachtsmarkt passiert hat, geht sie zielstrebig zum Kunsthandwerkerzelt auf der Mitte des Platzes und passiert dabei Glühweinstände und Santa-Portraits. Im Zelt ist es leicht überhitzt, wenn man aus dem Schneegriesel von draußen kommt, doch auch das nimmt sie in Kauf. Den gesuchten Stand findet sie schnell, den Künstler, der hier seine Zeichnungen ausstellt und verkauft, erkennt sie sofort. Sie haben sich per Signal hier verabredet, die letzte Begegnung liegt Jahre zurück. Sascha fühlt sich freudig begrüßt von den unverwechselbaren Tuschezeichnungen, von denen eine bereits in ihrer Wohnung hängt. Nun wird es Zeit für eine weitere, wie sie findet, außerdem möchte sie eine andere im Advent verschenken.
Ryn Shaparenko wurde 1968 in Kiew in der seinerzeitigen Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik geboren. Er studierte von 1989 bis 1995 an der Staatlichen Akademie für Gewerbekunst in Petersburg und erwarb den Abschluss eines Diplom-Designers. Bis 2002 lebte und arbeitete er als freischaffender Künstler und Grafiker in Petersburg und Krakau, seit 2003 ist Berlin seine Basis, sein Atelier liegt im Prenzlauer Berg. Er hat seine Werke in Einzel- und Gruppenausstellungen in Petersburg, Wien, Potsdam und Berlin präsentiert, seit dem behördlich angeordneten Herunterfahren des kulturellen Lebens ist er wie so viele andere Künstler weitgehend abgeschnitten von der Rezeption durch Kunstfreunde. Ein Webshop zum digitalen Vertrieb der Arbeiten ist mittlerweile vorhanden, die geplante Anschaffung einer professionellen Passepartout-Schneidemaschine soll seine künstlerischen Techniken erweitern. Bis Ende Dezember 2021 ist er noch auf dem Weihnachtsmarkt am Gendarmenmarkt mit einer Koje präsent und bietet seine Zeichnungen, Drucke und Postkarten zum Verkauf.
Seine Arbeiten wirken intellektuell, sie kommen ganz überwiegend ohne Objektbezug aus, auf weißem Karton dominieren die Farben Schwarz und Rot. Grauwerte kommen durch unterschiedlich starke Schraffuren zustande, seit einigen Jahren verwendet er auch leuchtende Schmuckfarben wie Blau, Gelb und Grün. Der Schwerpunkt seiner Gestaltung liegt entschieden auf der Linie, die gerade oder auch geschwungen sein kann, schmal oder fett, die den Zeichengrund strukturiert und auf der zweidimensionalen Fläche einen körperlichen Eindruck hinterlässt. Ryn ist ein Zeichner, kein Maler. Sein Schaffen steht unter der Vorgabe „Das Studium der Linie an sich“. Er gibt seinen abstrakten Arbeiten keine Titel, sondern lediglich Werknummern, um die Wahrnehmung und die Interpretation durch die Betrachterin nicht durch Worte in eine Richtung zu lenken. Es dominieren Formate von der Größe eines Handtellers, einzelne Arbeiten erreichen die Ausmaße von DIN A3 und darüber hinaus. Sie sind als einzelne Zeichnungen zu erwerben, auf Wunsch eingefügt in einen Passepartout und einen Rahmen. Jedes Original wird mit einem Echtheitszertifikat verkauft.
Die drei Farben Rot, Schwarz und Weiß waren die maßgeblichen Töne in der Agitprop- Kunst der sowjetischen Avantgarde der 1920er Jahre, auch, weil seinerzeit die technischen Möglichkeiten der Reproduktion von Farbe begrenzt waren. Von Ryns Zeichnungen geht eine strenge Schönheit der Stille aus, wie sie Karten, Aufrissen, Koordinatenkreuzen und überhaupt darstellender Geometrie eignet. Solche Zeichnungen dienen als Abbild der Wirklichkeit, sie bannen die menschliche Anschauung eines Raumes mit Körpern auf die Fläche eines Papiers. Ryns Kreativität geht darüber und auch über eine Fotografie weit hinaus, die ja immer nur das einfangen kann, was für das Auge sichtbar ist. Ryn schafft Formen, Verbindungen und Zusammenhänge, die in seinem Kopf und Herzen existieren und offeriert sie zum Abgleich der Betrachterin – visuelle Kommunikation. Die Kompositionen sind nicht um ein klares Zentrum herum arrangiert, was bedeutet, dass es der Betrachterin überlassen ist, wie sie den Rahmen an die Wand hängt, hoch oder quer. Sie führt ihr Auge selbst.
Schwarz wird nicht nur als Linienfarbe, sondern auch als Füllfarbe eingesetzt, der Kontrast zum hellen Rot ist hart und scharf, klassisch in der politischen Agitation. Einzelne Grundelemente des menschlichen Alltags wie das Quadrat, das Dreieck und der Kreis tauchen immer wieder auf, so dekorativ wie signifikant. Einzelne Linien verlaufen gerade wie mit dem Lineal gezogen, andere schlängeln sich über die Fläche, wieder weitere öffnen und verjüngen sich zur Spirale. Die Linie funktioniert als Differenz, sie teilt die Fläche in Zonen, dann wieder verbindet sie einzelne Elemente. Im Zusammenspiel schaffen mehrere Linien einen Körper – so kann die Betrachterin auf einer Grafik in kubistischer Anmutung ein Auge sehen, das von feinen Wimpern gesäumt wird. Angedeutete Schatten und perspektivische Verkürzungen geben den Werken räumliche Tiefe. Ryn ist mit jeder Wahrnehmung einverstanden, diese lässt sich vom Standpunkt der Beobachtung nicht trennen, der wiederum das Ergebnis visueller Erfahrungen ist.
Ryn sieht sich selbst in der Tradition des Suprematismus stehend, einer Kunstrichtung der russisch-sowjetischen Avantgarde etwa zwischen 1915 und 1930, die entscheidend von Kasimir Malewitsch (1879 bis 1935) geprägt wurde. Unter „Suprematie“ (lateinisch Vorherrschaft) verstand Malewitsch den Vorrang der reinen Empfindung vor der gegenständlichen Natur. Der Suprematismus sucht die Befreiung vom konkreten Objektbezug und seiner naturgetreuen Abbildung, er beschränkt sich auf fundamentale geometrische Formen, die den Weg zur Erkenntnis weisen sollen. Legendär ist sein „Schwarzes Quadrat“ von 1915, ein Ölgemälde, das eine stumme Verdichtung der Farbmasse sein sollte. Ebenso wie das im selben Jahr entstandene „Rote Quadrat“ handelt es sich bei dem Werk strenggenommen um ein Parallelogramm, dessen Winkel nicht recht sind. Malewitsch entfernt sich vom Auftrag des Dekors und des Wohlklangs, der klassischerweise an die Malerei herangetragen wird, und belässt es bei einem intensiven Farbeindruck bar jeder literaten Botschaft.
Ryn überträgt diese schweigende Malerei auf das Medium der Zeichnung, er übernimmt die Reduktion der Palette, geht aber mit der Linienführung seinen eigenen Weg. Piet Mondrian (1872 bis 1944) hat die Ideen Malewitschs weiterentwickelt und eigene Rechtecke in Schwarz, Rot, Gelb und Blau nebeneinander gereiht. Als weiterer Einfluss auf Shaparenkos Schaffen wäre Wassily Kandinsky (1866 bis 1944) zu nennen, nicht nur wegen seines programmatischen Aufsatzes „Punkt und Linie zu Fläche“ von 1926. Ähnlich wie Kandinsky geht auch Shaparenko analytisch an Farbe, Figur und Grund heran, seine geometrischen Geschöpfe testen die Spannung zwischen ihren Bestandteilen und der Umwelt, in der sie stehen. Shaparenko setzt den Weißraum bewusst als gestalterische Größe ein, seine Tuschezeichnungen wirken wie ein Schwarz/Weiß/Rot-Echo auf Kandinskys volle Palette. Die handwerkliche Akkuratesse im Umgang mit Tusche und Feder lässt an japanische Kalligrafie und ihre meditative Ruhe denken. Jedes Original wird vom Künstler mit einem Bleistift signiert, der Namenszug wirkt als integrales Atom der Komposition, als eine Stütze der maschinellen Teile.
Seine Arbeiten teilt Ryn in verschiedene Kategorien ein, die er „Organoide“, „Mechanoide“, „Netzwerke“, „Plain“ oder „Komponenten“ nennt. Je nach Seherfahrung, Geschmack, Stimmung und Abstand zum Objekt kann die Betrachterin eine Explosionszeichnung darin sehen, ein stark vergrößertes Insekt, ein Mobile, ein Detail einer Maschine, den Grundriss eines Stadtviertels oder den Schnitt durch einen Körper. In jedem Fall geht von den reduzierten Kompositionen eine subtile Dynamik aus, ohne dass immer klar wäre, was zum Grund gehört und was Figur ist. Bei besonders pastosem Farbauftrag entsteht die Anmutung eines Reliefs. Wird die Zeichnung um 90 oder 180° gedreht, ändert sich der Eindruck, einzelne Aspekte treten stärker hervor, andere Akzente verschwinden. Die eine Form erinnert an eine Zahl, eine andere an einen handgeschriebenen – lateinischen, kyrillischen, hebräischen – Buchstaben, doch sicher kann sich die Betrachterin nicht sein. Ihr gespeicherter Zeichenvorrat wird bei der Kontemplation vor einer Grafik aktualisiert, die Anordnung der Bögen, Winkel und Segmente erscheint vertraut und unbekannt zugleich. Eine Sehschule der Beruhigung durch Bewegung.
Ryn Shaparenko ist ein kleiner, freundlicher Mann mit leiser Stimme und osteuropäischem Akzent und offenen hellen Augen, mit hoher Stirn und Dreitagebart. Sascha hat sich für zwei noch in Folie geschweißte Grafiken entschieden, eine für sich, eine zum Verschenken. Ryn wählt die passenden Rahmen aus und entnimmt ihnen die dort gehaltenen Grafiken. Sorgfältig einigt er das Glas auf beiden Seiten mit Alkohol und fegt mit einer weichen Bürste jedes Staubkorn vom Karton, bevor er ihn in Passepartout und Rahmen einfügt. Dann schlägt er beide Werke mit einer Luftpolsterfolie ein, damit sie bruchsicher transportiert werden können. Am Ende besteht er darauf, Sascha einen Freundschaftsrabatt von 15 % auf den Verkaufspreis zu geben. Mit Worten des Dankes und der Anerkennung nimmt Sascha ihre Gaben entgegen und verlässt den unwirtlichen Ort des Weihnachtsmarktes mit seiner Oase dieser Kunstkoje. Erneut sagt sie sich auf dem Nachhauseweg, dass sie nun aber wirklich bald werde umziehen müssen, um Ryns Zeichnungen mit gebührendem Freiraum aufhängen zu können. Parallel dazu überschlägt sie ihre Termine der nächsten Woche, sie muss wiederkommen, um ein noch größeres Format zu erstehen. Der Sog der Zeichnungen lässt auch während des Schlafes und der Träume nicht nach.