Die Verzauberung ist die Voraussetzung aller dramatischen Kunst. – Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik
Wenn das Deckenlicht im Zuschauerraum langsam erlischt, setzt unverzüglich die Magie ein. Im satten Dunkel des Gestühls stellen sich die Augen scharf, die Ohren hören fast noch besser als bei Licht. Auf der Bühne stehen Schauspielerinnen und Schauspieler, getaucht ins Helle der Scheinwerfer, sie fangen an zu sprechen und sich zu bewegen und spielen anscheinend nur für sie. Kerstin rutscht in die Handlung hinein und verfolgt konzentriert die Entwicklung der Geschichte, die sie als Buch im Regal zu stehen hat. Sie wird Teil der Inszenierung, der Genius Loci breitet seine Arme aus, das Publikum nimmt seine Rolle bereitwillig an. Wie sehr es darin aufgeht, zeigt sich in der Intensität des Applauses.
Das Wort Theater ist entlehnt aus dem griechischen theastai, was soviel wie schauen, anschauen bedeutet. Das Publikum auf seinen Stühlen wird zum Zeugen einer Darbietung, die es unterhalten soll, belehren, aufklären oder auch aufrütteln, je nach Autor, Dramaturg und Regisseur. Es interagiert mit den Gestalten auf der Bühne, wider besseres Wissen nimmt es sie als Irina Nikolaevna Arkadina und Konstantin Gavrilowich Treplev an und nicht als professionelle Avatare, die nur eine Rolle verleiblichen. Das Glücksgefühl, das eine Theateraufführung spendet, lässt sich schwer in klare Worte fassen. Das Hirn folgt dem Geschehen, geschmeckt wird es vom Bauch und goutiert vom Herzen. Nicht immer ist ausgemacht, welches Organ das dominante sein wird. Sicher nur, dass jeder Moment unwiederbringlich sein wird, nicht zu lösen vom gegebenen Ort zur richtigen Zeit.
Geschätzte 250 Personen sitzen im großen Saal des Hauses, die Reihen sanft im dreiviertel Kreis ansteigend, wie weiland in Athen oder Epidauros. Die Bühne wird eingenommen von einem mächtigen Baum, der bis zum Dach des Hauses reicht; er ist sorgfältig zersägt und wieder zusammengesetzt, seine Blätter sind täuschend echt aus Plastik, ein Meisterstück der Bühnenbildnerin. Die weiteren Requisiten bestehen aus Liegestühlen, einem Tisch und Getränkeflaschen. Nicht zu vergessen die titelgebende „Möwe“, die als Trophäe erlegt und später präpariert wird, damit sie an die Dame des Herzens verschenkt werden könne. Das Stück, das im Milieu der Künstler und Schriftsteller angesiedelt ist, dreht sich vordergründig um eine Mutter/Sohn-Beziehung und die hier ersehnte Aufmerksamkeit; weiter werden mehrere vergebliche Lieben vorgestellt, so richtig glücklich ist keines der realen Paare.
Der Schutzpatron des Theaters ist Dionysos, der Gott des Weines, der Fruchtbarkeit und des Rausches. Ihm zu Ehren entstehen in der klassischen griechischen Epoche die Tragödien, entlehnt aus dem griechischen tragoidia, dem Bocksgesang. Diese Kunstform, die mit mehreren Schauspielern und dem Chor, der das Volk der Polis symbolisiert, hat über die Zeiten nichts von ihrer Eindringlichkeit verloren. Aischylos, Sophokles und Euripides gehören ebenso wie Shakespeare, Molière, Goethe, Tschechow und Brecht zum Kanon, immer wieder variiert und neu entdeckt. Die Tragödie ist verschwistert mit dem religiösen Kultus, jede katholische Messe ist überreich versehen mit Riten und dramaturgischen Einfällen; sie appelliert an die Sinne, den Verstand und das Gewissen und gibt sich reichlich Mühe, das Geheimnis des Glaubens zu offenbaren.
Kerstin erinnert sich an einen Besuch in den Vatikanischen Museen, im ersten Jahr des Pontifikats Benedikts XVI. Sie wird inmitten des Touristenstroms durch die marmorverkleideten Säle gespült, dann steht sie plötzlich in der Stanza della Segnatura, vor ihr die „Schule von Athen“ von Raffael. Unwillkürlich treten ihr die Tränen in die Augen, sie findet sich losgelöst von den Touristen, die wie sie auf das weltberühmte Fresko blicken und schwatzend weitergeschoben werden. In ihrer Bibliothek hat sie einen exzellent gestalteten Bildband über Raffaels Schaffen in den Palästen des Vatikan, Detailfotos zeigen die Feinheiten der Komposition und den Pinselstrich bis ins kleinste Relief. Und doch kann das beste Foto nicht die Intensität der unverstellten Anschauung vermitteln, die Kerstin vor dem und vom Original geschenkt wird. Die Aura eines Kunstwerks ist nicht reproduzierbar.
Die deutsche Theaterlandschaft wird ob ihrer Dichte und Vielfalt in aller Welt beneidet, und das völlig zurecht. Die Metropolen sowieso, aber auch die mittleren Universitätsstädte verfügen über (mindestens) ein Drei-Sparten-Haus (Schauspiel, Oper, Ballett plus Orchester) mit festem Ensemble und dynamischem Spielplan. Zu etwa 80 Prozent werden diese Häuser aus dem Kulturetat der Länder finanziert, die verbleibenden 20 Prozent kommen über die Ticketpreise, Catering und Sponsoren in die Kassen. Dieses Investitionsmodell ist die Grundlage für die ausführliche Beschäftigung mit den Klassikern wie auch der zeitgenössischen Auftragsarbeit gleichermaßen. In den angelsächsischen Ländern beträgt der Anteil der öffentlichen Hand an den Theatern hingegen maximal 30 Prozent, der übergroße Rest muss am Markt eingeworben werden.
Manchmal wird das Theater wegwerfend als museale Kunstform apostrophiert, die in der Konkurrenz mit dem Radio, dem Film, dem Fernsehen und dem Internet nur noch Rückzugsgefechte schlagen könne. Wie kurzsichtig diese Behauptung ist, lässt sich etwa am epischen Theater Bertolt Brechts zeigen. Diese Revolution des Theaters wurde in den späten 1920er Jahren eingeläutet und nach dem II. Weltkrieg zur Hochform gebracht, in Abgrenzung zum bewegten, tonunterlegten Bild, simultan auf etlichen Leinwänden gezeigt. Im Gegensatz zum Kino, das nicht umsonst auch Filmtheater genannt wird, lebt jeder Abend aufs Neue vom Spiel im Original auf der Bühne. Es ist wohl dieser völlig unökonomische Verbrauch an Ressourcen, der den Zauber des Theaters birgt.
Nach drei Stunden ohne Pause ist die Inszenierung schließlich am Ende, der hoffnungsvolle, aber enttäuschte Dichter erschießt sich, niemand kann zufrieden sein. Der Applaus wirkt wie eine Absolution, wieder und wieder werden die Miminnen und Mimen auf die Bühne geklatscht, als Zeichen der Dankbarkeit für das Geleistete. Über mangelnden Zuspruch müssen sich Stück und Theater nicht beklagen, auch die verbleibenden Aufführungen vor der Sommerpause sind ausverkauft. Und auch die jungen Leute, denen dank TikTok eine nur noch Sekunden umfassende Aufmerksamkeitsspanne nachgesagt wird, bleiben gebannt bis zum Schluss. Kerstin tritt aus dem ikonischen Bau des Architekten Erich Mendelsohn ins Freie und wird von sommerlicher Wärme empfangen, der Asphalt speichert die Sonne des Tages. Sie schließt ihr Fahrrad auf und fährt durch die leeren Straßen der Nacht nach Hause. Theater macht glücklich, ist ihr letzter Gedanke vor dem Einschlafen.