Der am Südwestrand der Stadt gelegene Ortsteil Wannsee zählt zu den teuersten und begehrtesten Wohngegenden in Berlin. Am westlichen Ufer des Großen Wannsees entstand Anfang des 20. Jahrhunderts eine exklusive Kolonie mit Anwesen auf riesigen Grundstücken mit Wasserzugang. In einer dieser Villen, 1914 von einem Fabrikanten erbaut und seit 1941 in Staatsbesitz, fand im Januar 1942 eine Besprechung statt, die unter dem Titel „Wannsee-Konferenz“ in die Geschichte einging. Unter Leitung des Chefs des Reichssicherheitshauptamtes, SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich, verständigten sich 15 Funktionäre aus der SS, der NSDAP, der Reichskanzlei und einigen Ministerien auf die industrielle Ermordung der Juden in ganz Europa.
Die Entscheidung über die geplante – und zum Zeitpunkt der Besprechung bereits angelaufene – Ermordung der Juden wurde am Wannsee nicht gefällt, dazu waren die Teilnehmer im Range von Staatssekretären gar nicht befugt. Die Sitzung verfolgte vielmehr drei Ziele: Zunächst sollten die Anwesenden aus der SS und der Ministerialbürokratie darüber informiert werden, dass es bei der „Endlösung der Judenfrage“ um alle Juden in ganz Europa gehe, um geschätzte 11 Millionen Menschen; sodann sollten die Ministerien des Innern, des Äußeren, der Justiz und des Ostens zu einer umfänglichen Kooperation in dieser Frage mit der SS bewegt werden; schließlich sollte die Kommandogewalt, freundlicher ausgedrückt: die Federführung, bei dieser Mammutaufgabe bei der SS-Spitze, personifiziert durch Reinhard Heydrich, liegen. Nach etwa 90 Minuten Dauer wurde in allen drei Fragen Zustimmung zur Position des Gastgebers erzielt.
Die „Wannsee-Konferenz“ drängt sich für eine Dramatisierung geradezu auf. Die Gesprächsdauer von rund anderthalb Stunden plus Eröffnung und Epilog korrespondiert ideal mit der durchschnittlichen Länge eines Kino- oder TV-Films. Die feudale Villa bietet einen vornehmen Kontrast für ein monströses Projekt, ausgeführt von hohen Beamten, Geheimdienstlern und Polizei in entsprechenden Uniformen. Nicht zuletzt haben in Deutschland pseudo-dokumentarische Darstellungen des III. Reiches eine Dauerkonjunktur, erst recht, wenn sie, wie im vorliegenden Fall, im abgeschlossenen Ambiente eines edel ausgestatteten Salons spielen. Die Villa der Wannsee-Konferenz ist heute eine Gedenkstätte an die Historie des Judenmordes; gleich dreimal wurde hier der Verlauf der Besprechung verfilmt: 1984 als deutsche, 2001 als britisch-amerikanische und 2021 erneut als deutsche Produktion. Die beiden ersten Werke sind in voller Länge auf YouTube zu finden, die letzte in der ZDF-Mediathek. Allen drei Kammerspielen ist gemein, dass sie die Besprechung chronologisch in Echtzeit zeigen, ohne Schnitte oder Einspielung historischen Materials, ohne verfremdende Musik, bei nur wenigen Außenaufnahmen.
Aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft liegen den drei Verfilmungen zwei Quellen zugrunde: Zum einen ein Exemplar des Protokolls der Konferenz, das 1947 im Archiv des Auswärtigen Amtes gefunden wurde; zum anderen die Aussagen des teilnehmenden SS-Obersturmbannführers Adolf Eichmann im Prozess in Jerusalem 1961. Diese beiden Quellen erlauben, neben der namentlichen Auflistung der Teilnehmer und ihrer Funktionen, die Rekonstruktion der 90 Minuten hinsichtlich der besprochenen Themen, möglicher Streitpunkte und letztlich gefundener Lösungen. Ein weiteres wichtiges Dokument ist ein Schreiben von Reichsmarschall Hermann Göring vom Juli 1941 an Reinhard Heydrich, in dem dieser mit der Erarbeitung eines Vorschlages zur Organisation der „Endlösung der Judenfrage“ beauftragt wird. Es ist dieses Mandat aus der Hand Görings, das Heydrich als Gastgeber, Hauptredner und Dirigent der Konferenz auftreten lässt – diese Rolle wird von niemandem am Tisch angezweifelt.
Seit 1933 verfolgte das III. Reich die Politik der systematischen Entrechtung der Juden in Deutschland, anfangs ohne sie physisch zerstören zu wollen. Sie wurden durch die Nürnberger Rassegesetze von 1935 immer weiter aus dem öffentlichen Leben entfernt, ihnen war die Arbeit im Staatsdienst verwehrt, sie durften keine „Arier“ mehr heiraten und keinen deutschen Wald mehr betreten. Das NS-Regime drängte sie massiv zur Auswanderung, was jedoch im Oktober 1941 auf Befehl des Reichsführers SS Heinrich Himmler verboten wurde. Zum Zeitpunkt der Wannsee-Konferenz waren bereits mehr als 500.000 deutsche und europäische Juden verhaftet, deportiert und erschossen worden, in der Regel durch lokale Einsatztruppen der SS. Das III. Reich hatte im Juni 1941 die Sowjetunion überfallen und im Dezember 1941 den USA den Krieg erklärt; es hielt Europa gut zur Hälfte besetzt und führte einen Luftkrieg gegen England. Durch diese militärisch bedingten Erweiterungen des Staatsgebietes und der Kommandogewalt fielen Millionen weiterer Juden in den Zuständigkeitsbereich deutscher Behörden – ihre schiere Masse wurde zu einem logistischen Problem. Ohne dass es ein schriftliches Dokument dazu gäbe, fasste die NS-Führung mutmaßlich mit Beginn des „Unternehmens Barbarossa“ den Entschluss zu ihrer Tötung.
Bei der Wannsee-Konferenz ging es in keiner Weise um Fragen der Moral oder der Legitimität, auch stand die bereits angelaufene Ermordung der Juden im industriellen Ausmaß nicht zur Diskussion. Den Teilnehmern der Besprechung schien der Konsens eigen, es handle sich um einen Kampf um Leben und Tod zwischen Deutschen und Juden, der ersteren auferzwungen worden sei. Die Konferenz drehte sich vor allem um die Fragen, wie die gewaltige Zahl der zu Tötenden bewältigt werden und ob es unter „Mischlingen“ Ausnahmen geben könne. Den SS-Offizieren war ebenso wie den Verwaltungsfachleuten und Juristen klar, dass es allein mit Erschießungen nicht gehen werde – zu langwierig, zu auffällig, zu materialintensiv, zu belastend auf Dauer für die Exekuteure. Adolf Eichmann, Reinhard Heydrichs „Judenexperte“, referierte von Experimenten mit Gas zur Tötung der Juden, dabei auf Erfahrungen mit der „Euthanasie“ Geisteskranker zurückgreifend. Hier gebe es mobile und stationäre Ansätze, das Einleiten von Kohlenmonoxid durch Schläuche ins Wageninnere oder das Freisetzen von Gas in geschlossenen Räumen.
Es ist die Sprache der Kanzleien und der Dezernate mit ihren raumgreifenden Passiv- und Partizipialkonstruktionen, die die drei vorhandenen Verfilmungen der „Wannsee-Konferenz“ zu Ereignissen des Grauens macht. Besonders Eichmann ist es bei seinen Vorträgen darum zu tun, das Handwerk des Mordens mit verschleiernden Begriffen auf Distanz zu halten: Er spricht von „Evakuierung“, was im vorliegenden Kontext Deportation in Lager meint; das „Einwaggonieren“ von Juden bedeutet ihr Einpferchen in Güterwaggons. Das „Auskämmen“ Europas von West nach Ost steht für ihre geografisch strukturierte Verhaftung; ihre „Sonderbehandlung“ bezeichnet ihre Ermordung; die allseits akzeptierte Sprachregelung der „Endlösung“ meint nichts anderes als die Vernichtung aller Juden in Europa. In dieser Semantik sind die Juden keine Menschen mit Herz, Hirn und Hand, sondern ein gesichtsloses Frachtgut, das ressourcenschonend aus allen Ecken des Reiches in die „Räume der Endlösung“ transportiert werden muss. Der projektierte Massenmord wird zu einer Aufgabe der Bereitstellung von Kapazitäten, wie geschaffen für Adolf Eichmann, der vor seiner Arbeit im Judenreferat der Gestapo im zivilen Speditionsgewerbe tätig war.
Als es am Konferenztisch nebenbei um „Humanität“ geht, stehen keineswegs die zu tötenden Juden im Vordergrund, sondern ihre Henker, die man nicht einer Verrohung durch das chronische Erschießen von Alten, Frauen und Kindern aussetzen dürfe. Hier scheinen die „Probevergasungen“ in einem Lager nahe des Dorfes Auschwitz, von denen Eichmann berichtet, Grund zum Optimismus zu geben: Kaum Kontakt mit Betroffenen, kurze Dauer des Vorgangs, Betrieb der Anlage rund um die Uhr, Verbrennung der Leichen in Öfen. Diesen Gedanken greift sein Chef Heydrich dankbar auf, der für die SS die nötigen Mittel, die Methoden, die Organisation, die Erfahrung und die Entschlossenheit zum Umsetzen dieser Vorhaben reklamiert. Die beklemmenste Szene der jüngsten Verfilmung des ZDF von 2021 zeigt während der Schilderungen der „Probevergasungen“ durch Eichmann der Reihe nach die Gesichter aller Zuhörenden in Großaufnahme. In ihren Mienen spiegeln sich Entsetzen, Ungläubigkeit und Ergriffenheit – sie werden Zeugen von und Komplizen an etwas bislang nicht Dagewesenem, dem sie sich nicht widersetzen, weil sie es für unausweichlich halten und weil sie keine persönlichen Konsequenzen fürchten.
Schließlich gibt es ja Reinhard Heydrich, den hohen SS-Offizier, der als Mann der Tat von einer „Parallelisierung der Linienführung“ spricht, im Sinne einer „Vereinfachung“ des Verfahrens, und an ihrer aller Loyalität gegenüber dem Führer und seinen Visionen appelliert. Er hält die Zügel fest in der Hand, lockert sie gelegentlich zum Trab und zieht sie an zum Nehmen des nächsten Hindernisses. Die Staatssekretäre streiten eifersüchtig über den Beritt „ihrer“ Ministerien und halten sich mit Verweisen auf Paragraphen und Akten schadlos, während die SS-Leute am Tisch zwischen Gähnen und Grimassen ob des Geredes schwanken. Keiner in der Runde will sich eine Blöße geben, am Sieg im Krieg zweifeln oder gar als Judenfreund sich verdächtigen lassen; die meisten Männer sind Ende 30 und wähnen noch eine Karriere vor sich, wie etwa Dr. Roland Freisler, Staatssekretär im Justizministerium, der zwei Jahre später Präsident des Volksgerichtshofes werden sollte. Am Wannsee akzeptieren sie vorbehaltlos Heydrichs Kommando, das sie des eigenen Denkens und Bewertens enthebt. Darin liegt der entlastende Sinn einer Hierarchie.
Der „Entjudung“, „Aufrassung“ und „Germanisierung“ des „Lebensraums im Osten“ widerspricht niemand im Saal, auch nicht im Pausengeplänkel unter vier Augen. Die anvisierte Ausbeutung der Juden durch Zwangsarbeit („effizient“) vor ihrer Hinrichtung („direkte Aktion“) wird willfährig zur Kenntnis genommen; den Praktikern des Tötens ist es wichtig, nicht noch mehr Juden in ihren ohnehin überfüllten Ghettos zu erhalten. Hier verspricht Heydrich Abhilfe, indem er die Reihenfolge der „Zuführung zur Endlösung“ priorisiert und ein höheres Tempo zum „Wegarbeiten“ der Fälle in Aussicht stellt. Die hohen Herren, durch wartende Chauffeure begleitet, tun sich gütlich am Buffet mit Lachs und Obst, genießen Kaffee und Cognac und bewundern die geschmackvolle Architektur der Villa mit dem weiten Blick auf den friedlich daliegenden Wannsee im Schneefall. Das Erfrieren der Wehrmachtsoldaten vor Moskau, das Anlaufen der Fabriken in den Todeslagern im Generalgouvernement, das Sterben von Millionen Menschen im Namen einer kranken Ideologie, all das reduziert sich im warmen Salon mit seinem knarrenden Parkett und seinen textilbespannten Wänden unter den hohen Decken auf mit der Maschine geschriebene Zahlenkolonnen auf einem Blatt Papier.
Könnte es so zugegangen sein am 20. Januar 1942 am Großen Wannsee 56-58 im Gästehaus des RSHA? Die einzig erhaltene Niederschrift der Besprechung ist ein Ergebnis-, kein Wortprotokoll, stenografische Notizen liegen ebensowenig vor wie Fotos oder Tonaufnahmen. Fraglos sind die drei Verfilmungen der Wannsee-Konferenz Werke der Fiktion, sie beanspruchen keine authentische Gültigkeit. So ist jeder ihrer Regisseure frei in seiner künstlerischen Interpretation des Geschehens. Die ausführliche Debatte über verschiedene Tötungsmethoden in der Fassung von 2021 wird im Protokoll der Besprechung mit keinem Wort erwähnt, sie spitzt das Finale der Konferenz theatralisch zu. In der Version von 2001 werden die Beamten Kritzinger und Dr. Stuckart als quasi oppositionell zu den Plänen Heydrichs geschildert, was das Protokoll keineswegs hergibt. Und in der ersten Fassung von 1984 macht der Wortführer Reinhard Heydrich der Protokollantin en passant ein Jobangebot in Prag, das diese noch während der Sitzung annimmt – dabei ist nicht belegt, dass überhaupt eine Frau am Wannsee dabei war.
Diese Variationen des Themas sind lässliche Petitessen im Hinblick auf das große Ganze. Im Kern zeigt jeder Film eine Gruppe Krimineller, die beim gemeinsamen Reden, das das Handeln vorbereitet, eine unermessliche Schuld auf sich laden, während sie – jeder für sich und alle zusammen – davon ausgehen, das Richtige für das Reich zu tun. Jeder Film hat seine eigenen, auch zeitgebundenen und nationalen Stilmittel, das Ungeheuerliche der Besprechung mit ihrem Wettbewerb im Plauderton zu unterstreichen. Alle fangen aber gegebenenfalls die Atmosphäre unter den Managern des Massenmordes ein, mit ihren Formeln, ihren Volten, ihrer Eitelkeit, ihrer weltanschaulichen Kälte, ihrer Bereitschaft zum Gehorsam, ihrer Überhöhung des Schicksals, vor dem sie nicht kneifen wollen. Das gilt für die überzeugten Nationalsozialisten der SS ebenso wie für die Karrierebeamten aus den Ministerien, solange das Morden nach Regeln passiert. Vor der Konferenz sagt Heydrich zu seinen Schergen, man müsse die Anzugträger durch Mitwissen an der Sache beteiligen, um „die Reihen zu schließen“; nach der Konferenz sagt ein gelöster Heydrich zu Eichmann, das Protokoll als Versand „Geheime Reichssache“ solle so offen wie nötig und so andeutend wie möglich sein, damit niemand sagen könne, er habe von nichts gewusst.
Die ganze Pracht der Villa am Wannsee erschließt sich nicht von der Straße, von wo sie hinter hohen Bäumen kaum auszumachen ist, sondern bei einer Schifffahrt über den See Richtung Kladow. Dieses Refugium des Erfolgs, der Bürgerlichkeit und des Stils gibt die Kulisse ab für eine Planung eines Verbrechens ohne gleichen. In allen Verfilmungen geht es um die Täter, ihre Funktionen, ihre Perspektiven, ihre Macht – ihre Opfer sind nur Ziffern, die sich zu einer angepeilten Summe addieren. Der weitere Verlauf des Krieges hat die Fantasien der Männer am Tisch höllische Realität werden lassen. Es ist die hohe Schauspielkunst der Ensembles aller drei Versionen, die der Zuschauerin das drückende Gefühl gibt, beim schwarzen Ritual eines geheimen Ordens zugegen zu sein. Am Ende lassen sich die Herren von Domestiken in ihre schweren Mäntel helfen und fahren zurück in die Stadt in ihre Büros. Sie scherzen womöglich mit ihren Referenten, schäkern mit ihren Sekretärinnen und geben ihren Kindern einen Gute-Nacht-Kuss. Sie sind Exponenten der „Banalität des Bösen“, von der Hannah Arendt 20 Jahre später anlässlich des Prozesses gegen Adolf Eichmann sprechen sollte. Wer wird im Jahr 2042 zum 100. Jubiläum der Wannsee-Konferenz den nächsten Film drehen? Das Faszinosum des Unfassbaren überdauert Trümmer und Opfer.