Wijk

Die große Mehrzweckhalle De Moriaan ist im frischen Blau-Weiß ausgekleidet, die Bühne für die Großmeister ist mit Bändern abgesperrt. An sich unnötig, denn der Großteil der Halle wird nicht genutzt, die vielen Amateure an den Brettern des Open bleiben pandemiebedingt ebenso draußen wie die Kiebitze. Weitgehend leer, hat die Halle etwas Gespenstisches zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Das Turnier in Wijk aan Zee an der niederländischen Nordseeküste, nach dem aktuellen Sponsor Tata Steel Chess, doch von den Habitués nur Wijk genannt, eröffnet im Januar traditionell den Reigen der Schachturniere. Vom 14. bis zum 30. Januar 2022 kommen Spieler der Weltspitze zusammen, um in zwei Gruppen über jeweils 13 Runden den Gewinner auszuspielen.

Heuer ist es die 83. Ausgabe, damit ist das Turnier in Wijk das älteste der Traditionsturniere des internationalen Schachkalenders. Die Premiere fand 1938 statt, lediglich im letzten Kriegsjahr 1945 fiel es aus. Bis 1944 wurden nur niederländische Spieler eingeladen, nach dem Krieg auch Spieler aus dem Ausland. Ab den 1960er Jahren wurde der kleine Ort an der See vermehrt von starken Großmeistern besucht, die sich mit den besten niederländischen Vertretern maßen. Im letzten Jahr 2021 konnte erstmals seit 1985 wieder ein Lokalmatador das Turnier für sich entscheiden. 1938 bis 1967 wurde in Beverwijk gespielt, ab 1968 im Nachbarort Wijk aan Zee, beide zur Gemeinde IJmuiden gehörig, etwa 25 km entfernt von Amsterdam gelegen. Bis 1999 als Hoogovenstoernooi, also Hochofenturnier, firmierend, danach nach dem neuen Eigner des Stahlwerks Corus genannt, seit 2011 unter der Marke Tata Steel Chess laufend.

Tata Steel mit Sitz im indischen Mumbai ist einer der größten Stahlproduzenten weltweit mit Fertigungsstandorten in 26 Ländern. Das Turnier in Wijk aan Zee ist insofern eine rühmliche Ausnahme im jährlichen Schachzirkus, weil es mit der Tata Gruppe einen langfristig engagierten institutionellen Sponsor hat. Andere Turniere sind entweder abhängig von der Laune eines privaten Mäzens (früher etwa das Melody Amber oder gegenwärtig der Sinquefield-Cup) oder von der Gunst und dem Geld autoritärer Regime (Russland, China, jüngst Dubai). Obwohl Schach sich in der Pandemie als viel beachteter Online-Sport gezeigt hat, obwohl die Netflix-Serie „Das Damengambit“ bei vielen Händlern für eine große Nachfrage an Brettern und Figuren gesorgt hat und obwohl einzelne Großmeister mehrere Hunderttausend Abonnenten auf Kanälen wie Twitch oder YouTube haben, tun sich die Organisatoren chronisch schwer damit, ihre Turniere und Wettkämpfe auf eine solide finanzielle Basis zu stellen.

Von den Weltmeistern seit 1946 haben lediglich Vassily Smyslov und Bobby Fischer nicht in Wijk gespielt, ansonsten haben alle Supergroßmeister ihre Visitenkarte abgegeben; Rekordhalter mit sieben Erfolgen ist der aktuelle Weltmeister Magnus Carlsen. Unvergessen ist der erste Auftritt des seinerzeitigen Schachweltmeisters Garri Kasparow 1999, der in der vierten Runde eine Glanzpartie mit zwei Turmopfern gegen Veselin Topalov gewann und sie bis heute als seine beste Leistung am Brett einstuft. 2013 siegte der damalige Weltmeister Viswanathan Anand mit Schwarz gegen Levon Aronian auf spektakuläre Weise, in einer tiefen Vorbereitung der Slawischen Verteidigung des Damengambits stellte er zwei Leichtfiguren en prise und setze unwiderstehlich matt. Rekordteilnehmer ist Loek van Wely, der zwischen 1992 und 2017 insgesamt 25 Mal dabei war, ohne allerdings je in die Nähe der Preisränge zu gelangen; schachlich tritt der niederländische Großmeister kürzer, mittlerweile sitzt er als Senator im Parlament. Einmal weniger dabei war van Welys Landsmann, der Schachautor Jan Hein Donner, der das Turnier 1950, 1958 und 1963 als Sieger beenden konnte.

In der Masters-Gruppe des Jahres 2022 sind die Routiniers der Generation 30+ Magnus Carlsen, Fabiano Caruana, Sergey Karjakin, Sam Shankland und Shakhriyar Mamedyarov am Start; sie werden sich mit aufstrebenden jungen Spielern wie Richard Rapport, Jan-Krzysztof Duda, Andrey Esipenko, Rameshbabu Praggnanandhaa, Daniil Dubov und Vorjahressieger Jorden van Foreest messen. Vor allem die beiden Letztgenannten werden unter besonderer Beobachtung stehen, treffen sie doch in Wijk auf ihren Chef Magnus Carlsen, dem sie bei der Vorbereitung des WM-Matches in Dubai als Sekundanten dienten. Der 18 Jahre alte Weltranglistenzweite Alireza Firouzja bleibt abwesend, obwohl die Organisatoren ihn eingeladen haben. Offenbar hat der Junior ob seines raschen Ruhmes bereits peinliche Allüren entwickelt, dem Vernehmen nach war ihm die Antrittsgage zu niedrig.

In der Challengers-Gruppe dürfte Surya Shekhar Ganguly, ehemaliger Sekundant Viswanathan Anands, Favorit auf den Turniersieg sein. Weiter sollte von Interesse sein, wie sich die beiden jungen Frauen Polina Shuvalova und Jiner Zhu in diesem Feld behaupten. Einziger Deutscher in Wijk in diesem Jahr ist Roven Vogel, jüngster Teilnehmer ist der 14 Jahre junge Marc‘ Andria Maurizzi. Spielort ist wie gehabt die Veranstaltungshalle De Moriaan, spielfreie Tage sind gruppenübergreifend der 19., der 24. und der 27. Januar 2022. Besuche vor Ort sind aufgrund der pandemischen Lage nicht möglich, das Turnier wird auf mehreren Schachservern übertragen und kommentiert.

Die Gemeinde IJmuiden hat eine im Landesvergleich weit überdurchschnittlich hohe Rate an Lungenkrebsfällen. Anwohner, Umweltschützer und Ärzte machen dafür das Stahlwerk, das zu den wichtigsten Arbeitgebern der Region zählt, mit seinen Feinstaub-Emissionen verantwortlich und haben eine Klage gegen Tata Steel wegen vorsätzlicher Luftverschmutzung eingereicht. Im Winter wirkt der Strand von Wijk, der bei Touristen beliebt ist und wo sich noch Reste vom Atlantikwall der nationalsozialistischen Besatzer finden, idyllisch; doch kommt es gerade in der kalten Jahreszeit im Januar und Februar zu schwarz verfärbtem Schnee, dessen Partikel von einem Kohlenberg des nahen Stahlwerks stammen. Lokale Politiker, die es sich mit dem Betreiber des größten Industriekomplexes der dicht besiedelten Niederlande nicht verderben wollen, sehen keine kausalen Zusammenhänge zwischen Stahlproduktion und gesundheitsgefährdender Luftverschmutzung.

Im ersten Corona-Jahr 2020 profitierte das Turnier vom frühen Termin im Januar, von einer Absage war keine Rede. Im Jahr 2021 wurde die Streichung diskutiert, schließlich wurde die Masters-Gruppe angesetzt. Heute kommen die Masters und die Challengers zusammen, die vielen Vereinsspieler vom Open bleiben draußen, die Besucher ohnehin. Auch die beliebten Reisen vom Turnierort etwa in ein Museum oder eine Universität in Den Haag oder Rotterdam, wo dann eine Runde ausgetragen wurde, entfallen dieses Jahr. Von einem Festival, gar einem Familientreffen, kann unter diesen Umständen keine Rede sein, bestenfalls von einem Signal in Richtung Normalität in Zeiten wachsender gesellschaftlicher Spannungen aufgrund der politischen Pandemie-Maßnahmen, die, bestürzend in den liberalen Niederlanden, mit brutaler Polizeigewalt gegen Demonstranten durchgesetzt werden. Die Schachfans können sich freuen auf zwei Wochen hochklassiges Schach aus der Zwischenwelt von Wijk, wie jedes Jahr.