World Cup

Der Norweger Magnus Carlsen hat im Schach nahezu alles erreicht. Er war fast zehn Jahre lang Weltmeister und steht seit 2011 mit großem Abstand an der Spitze der Weltrangliste. Die großen Turniere des Kalenders von Wijk aan Zee über London und St. Louis bis Stavanger hat er mehrfach gewonnen, auch den Titel des Champions im Schnellschach und im Blitz hat er einige Male erobert. Nun ist es ihm endlich gelungen, auch den World Cup zu gewinnen, der dieses Jahr in Baku ausgetragen wurde – wie gehabt souverän und stilvoll.

Als Magnus Carlsen im Sommer 2022 ankündigte, seinen WM-Titel nicht mehr zu verteidigen, befiel eine große Depression die Schachwelt. Was ist der Titel noch wert, wenn der stärkste Spieler des Planeten nicht mehr antritt? Bereits nach seinem bravourösen Sieg im Wettkampf gegen den Russen Ian Nepomniachtchi im Dezember 2021 in Dubai ließ Carlsen durchblicken, dass er die erneute Strapaze einer Vorbereitung auf ein WM-Match nur gegen einen Herausforderer der nächsten Generation auf sich nehmen wolle. Sein Wunschgegner Alireza Firouzja, ein Franzose iranischer Herkunft, konnte sich im Kandidatenturnier von Madrid nicht durchsetzen, stattdessen gewann erneut Ian Nepomniachtchi, Jahrgang 1990 wie Carlsen selbst. Dieser machte seine Ankündigung wahr und verzichtete auf den WM-Kampf, den schließlich im April dieses Jahres Ding Liren als erster Chinese für sich entschied.

Titel hin, Krone her – Carlsen bleibt das Maß aller Dinge in der Schachwelt. Er spielt weiterhin Turniere, am Brett und im Netz, auch wenn er die Lust am klassischen Schach mit langer Bedenkzeit leicht verloren hat und kürzere Formate bevorzugt. Den World Cup hat er bislang nicht gewinnen können, umso motivierter ging er dieses Mal im aserischen Baku zu Werke. Gleich drei Plätze für das nächste Kandidatenturnier in Toronto im April 2024 waren zu vergeben, doch daran war Magnus Carlsen nicht interessiert. Ihm ging es um den Sieg am Kaspischen Meer und das damit verbundene Prestige. Das Format mit zwei klassischen Partien pro Runde im K.-O.-System kam ihm sehr entgegen, da es die Opponenten zu mehr Risikobereitschaft zwingt als Rundenturniere, bei denen jeder gegen jeden spielt.

In der ersten Runde hatte der Norweger ein Freilos, in der zweiten Runde fertigte er den jungen Georgier Levan Pantsulaia glatt mit 2:0 ab, bevor dann in der dritten Runde sein Landsmann Aryan Tari besiegt wurde. In der vierten Runde kassierte Carlsen seine einzige Niederlage im ganzen Wettbewerb gegen den jungen Deutschen Vincent Keymer, allerdings konnte er in der zweiten Partie auf Bestellung ausgleichen und mit seiner Routine auch den Stichkampf für sich entscheiden. Im Achtelfinale wartete mit Vasyl Ivantschuk eine echte Schachlegende, der Ukrainer durfte erst nach einer Sondergenehmigung das Land verlassen und in Baku am Brett sitzen – und beide Partien sang- und klanglos verlieren. Im Viertelfinale dann traf Carlsen auf den jungen Inder Dommaraju Gukesh, den er locker in die Schranken verwies – der Exweltmeister hatte sich eingespielt.

Im Halbfinale ließ er dem Lokalmatador Nijat Abasow keine Chance, seinem druckvollen Spiel über die ganze Partie konnte der junge Aseri nichts Richtiges entgegensetzen. Im Finale gegen einen weiteren indischen Superstar zeigte Carlsen, welche Qualitäten ihn für über zehn Jahre die Schachwelt dominieren ließen: Die beiden Partien mit klassischer Bedenkzeit gegen Rameshbabu Pragnanandhaa endeten unaufgeregt remis, auch weil sich Carlsen eine Lebensmittelvergiftung zugezogen hatte, die sein Spiel nach vorn beeinträchtigte. Im Stechen zog er dann alle Register. In der ersten Partie demonstrierte er seine singulären Endspielkünste, als er in des Gegners Zeitnot das Spiel urplötzlich verschärfte und mit reduziertem Material einen Mattangriff inszenierte, dem sein Kontrahent erlag. Mit Weiß hielt er dann in der zweiten Schnellschachpartie das Spiel immer in der Remisbreite und brachte die Mission erfolgreich zuende. Ein klarer Favoritensieg.

Sein über zehn Jahren liegt Carlsens Schach offen vor aller Augen, und dennoch gelingt es keinem Gegner, ihn zu überrumpeln. Der Norweger spielt mit Weiß 1. e4, 1. d4, 1. c4 oder 1. Sf3 nach Belieben, mit Schwarz reagiert er mit der Sizilianischen, der Berliner, der Slawischen oder der Grünfeld-Indischen Verteidigung, dabei alle Haupt- und Nebenlinien kennend. Er vermeidet die scharfen forcierten Abspiele und zwingt den Gegner früh zum Selberdenken in langen Manövern, das stellt nicht nur seine Generationenkollegen, sondern auch die Veteranen und die Jungstars vor große Probleme. Im Endspiel agiert er besser selbst als die Computer, die ihr Grundübel der Überbewertung des Materials gegenüber der Aktivität und der Felderschwäche noch immer mit sich herumschleppen. Carlsen weiß, wo seine Figuren am besten stehen, er lähmt die Initiative seiner Gegner und lässt am Ende gestandene Großmeister hilflos erscheinen. Diese verlieren, ohne sich eines entscheidenden Fehlers bewusst zu sein.

Ding Liren mag jetzt der Weltmeister sein, der beste Spieler bliebt weiterhin Magnus Carlsen, der eine ganze Epoche geprägt hat und weiterhin voller Biss und Ehrgeiz am Brett sitzt. Seine Physis ist ein weiteres Alleinstellungsmerkmal, durchtrainiert und topfit wie ein Modellathlet sitzt er am Brett, stundenlang über Konzentration verfügend, ohne fahrig oder müde zu werden. Für die Konkurrenz führt weiter kein Weg am Mann aus Tonsberg vorbei, auch wenn er ein selbsternannter König ohne Land geworden ist. Ein Triumph wird aber selbst diesem Ausnahmekönner verwehrt bleiben: Bei der Schacholympiade wird er keine Medaille erringen, dazu ist die norwegische Auswahl einfach zu schwach im Vergleich zu den dominierenden Nationen aus China, Indien, Russland, Armenien, Usbekistan, Frankreich, Polen und den USA. Aber ein Teamplayer ist Carlsen sowieso nie gewesen.