ДЕНЬ ПОБЕДЫ

  Die Hauptfunktion des Gedächtnisses liegt also im Vergessen, im Verhindern der Selbstblockierung des Systems durch ein Gerinnen der Resultate früherer Beobachtungen.
Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft

Die Kumpanei der Diktatoren währte keine zwei Jahre. Am 23. August 1939 unterzeichneten die Außenminister der Sowjetunion und des III. Reiches, Vjatscheslav Molotov und Joachim Ribbentrop, in Moskau einen Nichtangriffspakt zwischen ihren Ländern. Eine Woche später überfiel Deutschland Polen und entfesselte damit den II. Weltkrieg, wiederum drei Wochen später marschierte die Rote Armee in Polen ein und annektierte dessen östlichen Teil und einige Monate später das Baltikum. Diese Aufteilung des nordöstlichen Europas zwischen Hitler und Stalin sah das Geheime Zusatzprotokoll des Nichtangriffspaktes vor, dessen Existenz die Sowjetunion bis zum Dezember 1989 leugnete. Am 22. Juni 1941 schließlich brach Nazideutschland den Pakt, mit dem „Unternehmen Barbarossa“ begann der Krieg gegen die UdSSR.

Am 8. Mai 1945 kapitulierte das III. Reich bedingungslos vor den Alliierten, den USA, Frankreich, Großbritannien und der Sowjetunion. Der II. Weltkrieg kostete rund 55 Millionen Menschen das Leben, über 25 Millionen davon auf dem Territorium der UdSSR. Der 8. Mai ist in Frankreich ein Feiertag; in Russland, dem Nachfolgestaat der UdSSR, ist es der 9. Mai, weil die Nachricht der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht erst tags darauf in Moskau bekannt wurde. In allen Ländern, die im II. Weltkrieg kämpften, ist dieses Datum Anlass zum Gedenken – in Russland (wie davor in der Sowjetunion) hat der ДЕНЬ ПОБЕДЫ, der Tag des Sieges, einen überragenden Platz im nationalen Gedächtnis.

Dieses Jahr, 75 Jahre nach Kriegsende, sollte der ДЕНЬ ПОБЕДЫ in Russland ganz besonders groß und aufwändig begangen werden. Doch die globale Corona-Pandemie machte auch dieser Veranstaltung einen Strich durch die Rechnung. So musste Russlands Präsident Vladimir Putin virusbedingt auf die traditionelle Militärparade auf dem Roten Platz in Moskau verzichten, es blieb beim einsamen Niederlegen eines Rosenstraußes am Grabmal des Unbekannten Soldaten und einer kurzen Ansprache an die Kadetten, die wie eh und je dicht an dicht standen und als Antwort „Hurra! Hurra! Hurraaaa!“ schrien. Die lang geübte Flugshow gab es für die Bevölkerung in Zeiten der Quarantäne nur im Fernsehen zu verfolgen.

Putin knüpft beim Gedenken an das Ende des II. Weltkrieges an Posen, Gesten und Worte seines Vorbildes Josef Stalin an. Dieser appellierte, als er nach Tagen des Schweigens nach dem Überfall der Wehrmacht im Sommer 1941 an die Bevölkerung sich wandte, an die Liebe der Menschen zu Mütterchen Russland und rief zum Großen Vaterländischen Krieg gegen den Aggressor auf. Die heimische Erde sollte verteidigt werden – nicht das kommunistische Regime mit seinen Exzessen der Zwangskollektivierung, der Millionen Hungertoten, der Schauprozesse gegen altgediente Bolschewiki und der willkürlichen Verhaftung, Deportation und Ermordung Hunderttausender. Als die Rote Armee die deutschen Invasoren schließlich 1944 aus dem Land drängen konnte, zog der rote Diktator die Zügel der Repression fester an denn je, die von vielen Menschen erhoffte Freiheit ihres Lebens blieb ein quälender Traum.

Vladimir Putin ist ein Großmeister des selektiven Erinnerns und Gedenkens. So gilt ihm Josef Stalin, der die Sowjetunion 25 Jahre lang in Angst und Schrecken hielt, als der Generalissimus, der sein Land vor den Nazibarbaren gerettet habe. Dass es für diesen Sieg voller Opfer der militärischen und finanziellen Hilfe der Briten und vor allem der US-Amerikaner bedurfte – geschenkt. Dass er über Monate Hinweise seiner Geheimdienste auf einen bevorstehenden Überfall der Deutschen ignorierte – egal. Weiter sei es Josef Stalin zu danken, dass die junge UdSSR binnen einer Generation den Sprung vom rückständigen Agrarstaat zur Atommacht schaffte – wenn auch um den Preis der Versklavung von Millionen Menschen in den Minen des Gulag. Nicht zuletzt brach die Allianz gegen Hitler in der Stunde ihres Triumphes auseinander – kaum wehte das rote Banner mit Hammer und Sichel auf dem Reichstag in Berlin, brachten sich die Divisionen der USA und der UdSSR in Erwartung des Rüstungswettlaufs des Kalten Krieges in Stellung.

Vladimir Putin zeichnet ein eindimensionales Bild seines Vorgängers, dessen Titulierung als „Führer“ er übernommen hat. In seiner Lesart hat Josef Stalin die Sowjetunion gegen alle Feinde von innen und außen verteidigt und dem Imperium zu nie gesehener Größe verholfen. In der Zeit des Tauwetters unter Nikita Chruschtschow wurde am Personenkult um den Generalsekretär der KPdSU zwar Kritik geübt, diese wurde allerdings unter Leonid Breschnew wieder kassiert. Und nach der kurzen Archivrevolution während der Perestroika schlägt das historische Pendel nun wieder fort vom differenzierten Kenntlichmachen der Verbrechen unter Josef Stalin. Wer heute in Russland zu des Diktators Terror forscht und an einer regionalen Geschichte des Gulag arbeitet, sieht sich rasch dem Vorwurf ausgesetzt, ein „ausländischer Agent“ zu sein, und muss mit einer Anklage vor Gericht rechnen. Auch das Politbüro sah in den 1930er Jahren überall Spione, Diversanten, schädliche Elemente und Konterrevolutionäre.

Es ist ein gängiges Muster der Geschichte, dass autoritäre Potentaten außenpolitische und kriegerische Geschehnisse zur Legitimierung ihrer Macht nach innen nutzen. Putins Beliebtheit im Volk lässt nach 20 Jahren Herrschaft im Kreml spürbar nach; eine parlamentarische Opposition durfte sich im Russland des 21. Jahrhunderts nicht entwickeln, eine freie Presse hat es nie gegeben, die letzten Dissidenten wurden entweder ermordet oder ins Exil getrieben. Der Tag des Sieges mit seiner Demonstration militärischer Stärke kommt Putin im jährlichen Kalender wie gerufen, nach innen den gütig strengen Quasi-Zaren und nach außen den wieder erstarkten Imperator auf der Weltbühne zu geben. In seiner persönlichen Historie zieht er die Kontinuität von der Moskauer Rus über die Romanov-Dynastie und Josef Stalin in die Gegenwart – Russland bedürfe seiner eisernen wie hegenden Hand, um nach innen einig zu bleiben und nach außen gegen Feinde sich zu wappnen. Der ДЕНЬ ПОБЕДЫ schließt nahtlos an die Dauermobilisierung der kommunistischen Gesellschaft der 1930er Jahre an, als das Subjekt im Kollektiv verschwand.

Auch Putin kann die historischen Fakten wie etwa den Hitler/Stalin-Pakt nicht übergehen, aber er kann sie kreativ interpretieren. So erklärte er bar jeder Evidenz, Polen trage durch sein „aggressives Verhalten“ Ende der 1930er Jahre eine Mitschuld am Ausbruch des II. Weltkrieges, zudem hätten die baltischen Republiken 1940 um eine Aufnahme in die UdSSR „gebeten“. Und die Annexion der Krim 2014 beschied er mit dem Hinweis, die Halbinsel im Schwarzen Meer habe „immer schon“ zu Russland gehört. Frankreich und Großbritannien haben nach dem II. Weltkrieg ihre Kolonialreiche aufgelöst, an ihre Stelle traten die Frankophonie und das Commonwealth. Die Sowjetunion und nach ihr Russland taten nichts gegen die Überdehnung ihres bis zum Pazifik und zur zentralasiatischen Wüste messenden Reiches. Putin, der im Kollaps der UdSSR die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ sieht, denkt weiter in diesen imperialen Kategorien. Sein Großmachtanspruch, der sich in allerlei Drohgebärden gegenüber ehemaligen Sowjetrepubliken Luft macht, resultiert nicht zuletzt aus dem Ende der Nazidiktatur am 8. Mai 1945.

Je länger diese Ereignisse nun zurückliegen, desto leichter sind sie im Sinne des heutigen Regimes zu vereinnahmen und zu konstellieren. Je weiter weg der ДЕНЬ ПОБЕДЫ im Nebel der Geschichte liegt, desto besser lässt er sich emotional zuspitzen für die Sache der Gegenwart. Anders formuliert: Ein Land, das eine dringend erforderliche wirtschaftliche Transformation beharrlich vor sich her schiebt und dem es an politischer Legitimation zunehmend gebricht, dichtet sich eine Vergangenheit zurecht, deren untergegangene Sonne noch immer wärmt, auch wenn das Auge im Dunkel nur mehr Schemen auszumachen vermag. Wahr wird das, was der Sieger dazu erklärt. In diesem Sinn wird aus dem Generalissimus einfach eine kauzige Gestalt bei Anton Cechov; drei Generationen nach dem Ende des II. Weltkriegs ist der Tag des Sieges zum Mythos geronnen, den die noch lebenden Veteranen nur stützen. Die Verklärung im Gedenken daran steht Russland im Heute im Weg.