Match des Jahrhunderts

Mit Beginn des Kalten Krieges wird die Sowjetunion stärkste Nation des Schachs. Diese Dominanz drückt sich bei den WM-Titeln bei den Männern und Frauen ebenso aus wie bei den Goldmedaillen der Schacholympiaden, die die ϹБОРНАЯ ab 1948 im Abonnement gewinnt. Ihre erdrückende Überlegenheit in jenen Präprofijahren des Schachs verdankt sich der Förderung, die die sowjetische Führung ihren besten Spielerinnen und Spielern angedeihen lässt. Offiziell sind sie Staatsamateure, die einem erlernten Beruf nachgehen; faktisch genießen sie neben einem Stipendium, das es ihren erlaubt, sich vollends dem Schach zu widmen, ein Bündel an Privilegien.

Vor diesem Hintergrund erschien das Vorhaben, ein Match der UdSSR gegen den „Rest der Welt“ auszutragen, als sportliche Zirkusnummer: Wer zweifelte ernsthaft am Ausgang einer solchen Veranstaltung? Als das sogenannte „Match des Jahrhunderts“ Ende März 1970 in Belgrad begann, lagen die Prognosen zwischen 21:19 und 24:16 zugunsten der Sowjets. Der Weltschachbund FIDE und der jugoslawische Schachverband traten als Organisatoren auf, pro Auswahl wurden zehn Bretter aufgeboten, es wurde über vier Runden gespielt. Die Wettkampfbörse von 100.000,- USD (nach heutigem Wert etwa 650.000,- USD) stellte für seinerzeitige Verhältnisse eine Rekordsumme dar. Das blockfreie Jugoslawien, selbst mit Svetozar Gligoric, Milan Matulovic und Borislav Ivkov am Start, bot sich als neutraler Ausrichter an – Schach als diplomatische Mission im Dienst der Völkerverständigung.

Beide Seiten nahmen die Auseinandersetzung sehr ernst, besonders für die favorisierte Sowjetunion stand das Prestige des Primus auf dem Spiel. Sie nominierte neben dem aktuellen Weltmeister Boris Spasski gleich drei Ex-Champions, ihnen zur Seite standen samt und sonders WM-Kandidaten. Das Durchschnittsalter der Spieler (tatsächlich wurde keine Frau berücksichtigt), lag bei 42,5 Jahren; Paul Keres und Mikhail Botvinnik, die schon in den 1930er Jahren an Spitzenturnieren teilgenommen hatten, gingen auf die 60 zu. Beim im Mittel vier Jahre jüngeren „Rest der Welt“-Team gelang es dem Kapitän Max Euwe, gerade zum FIDE-Präsidenten gewählt, Bobby Fischer zur Teilnahme zu bewegen. Der US-Amerikaner hatte anderthalb Jahre zuvor seine letzte ernste Partie gespielt und nahm es klaglos hin, dass statt seiner der Däne Bent Larsen aufgrund seiner jüngsten Turniersiege das 1. Brett für sich reklamierte.

Tatsächlich saßen sich im Frühjahr 1970 die zehn Besten ihrer „Lager“ gegenüber, auch wenn es hier wie da individuelle Rivalitäten gab; Deutschland wurde durch den Dresdner Wolfgang Uhlmann repräsentiert. Die Anfang 1970 eingeführte Weltrangliste der Elo-Zahlen zur Dokumentation der relativen Stärke der Spieler wurde von Bobby Fischer mit weitem Vorsprung angeführt (2720), auf den nächsten zehn Plätzen folgten acht Sowjets (2670 bis 2620). Der Wettkampf verlief in einer Atmosphäre intensiver Spannung, am Ende behielt die UdSSR mit 20,5:19,5 denkbar knapp die Oberhand. An den oberen vier Brettern setzten sich die „Weltspieler“ in ihren Mini-Matches durch, im Mittelfeld und am Ende der Setzliste sorgten die Sowjets verlässlich für Punkte. Von den insgesamt gespielten 40 Partien wurden 19 entschieden, eine fantastische Quote.

Das vor 50 Jahren herausgegebene Turnierbuch wurde zum Jubiläum neu editiert, die Schachfans haben nun die Gelegenheit, die Partien aus Belgrad nachzuspielen und sich an den (englischen) Originalkommentaren der Kontrahenten zu erfreuen. Unvergessen dürfte die Partie am 1. Brett zwischen Bent Larsen und Boris Spasski sein, in der Weiß mit 1. b3 eröffnet, die nächsten Züge allzu sorglos abspult und von Schwarz nach kraftvollem Spiel nach gerade 17 Zügen zur Aufgabe gezwungen wird. Am 2. Brett zeigt sich Bobby Fischer gegen den hypersoliden Exweltmeister Tigran Petrosian auf der Höhe seines Könnens und gewinnt zwei strategische Perlen – und das nach einer schachlichen Pause von 18 Monaten. Am Brett 5 gelingt Efim Geller gegen den Lokalmatador Svetozar Gligoric eine Modellpartie in der Spanischen Eröffnung, die thematische Stärke des hellen Läufers demonstrierend. Und am Brett 10 zeigt Paul Keres gegen Borislav Ivkov, warum er noch immer zur Weltspitze zählt; mit lebhaftem Figurenspiel und makelloser Endspieltechnik steuert der Este drei Punkte zum Sieg der UdSSR bei.

Die Neuausgabe des „Matches des Jahrhunderts“ ist angereichert mit etlichen Schwarz/Weiß-Fotos, vor allem die Gruppenbilder vermitteln die Stimmung eines heiteren Klassentreffens. Auf die Analyse der Partien mit einer starken Software wurde verzichtet, einige nachgedruckte Artikel aus der jugoslawischen und sowjetischen Schachpresse erlauben ein Lugen hinter die Kulissen. Schachhistorisch markiert das „Match des Jahrhunderts“ eine Zäsur: Die alten Kämpen Mikhail Botvinnik, Paul Keres, Samuel Reshevsky und Miguel Najdorf gehen bald darauf in Rente (während Viktor Korchnoi 1978 und Vassily Smyslov 1983 noch nach der WM-Krone greifen werden); Bobby Fischer ist nach Jahren der Abstinenz wieder da, scheint zu allem entschlossen und gibt einen Vorgeschmack auf das, was bis 1972 beim ebenfalls „Match des Jahrhunderts“ genannten WM-Kampf in Reykjavik geschehen wird; die alles überstrahlende Figur des Schachs der 1970er und frühen 80er Jahre hingegen wird nicht erwähnt – der Siegeszug des 20 Jahre alten Anatoli Karpow beginnt erst mit seinem geteilten 1. Rang (mit Leonid Stein) beim Aljechin-Memorial 1971.

Heute wäre ein bedeutungsschweres Ereignis wie jenes des „Matches des Jahrhunderts“, wie es griffig genannt wurde, kaum mehr denkbar. Zum einen fehlt das eine dominante Land der Schachwelt; an die Stelle der sowjetischen Hegemonie ist ein Oligopol aus Russland, Armenien, der Ukraine und Georgien, zudem Indien, den USA, Frankreich und China getreten, wie ein Blick auf die Medaillenränge der Schacholympiaden zeigt. Des Weiteren ist die Dichte der (immer jünger werdenden) Spitzenspieler heute unvergleichlich höher als vor fünfzig Jahren; diese Einzelkämpfer messen sich regelmäßig bei Superturnieren und treffen als Legionäre in diversen nationalen Ligen aufeinander. Außerdem stellt sich die Frage der Finanzierung; die FIDE ist hinreichend damit beschäftigt, Sponsoren für die WM-Matches und die Olympiaden zu akquirieren, letztere sind längst die Familientreffen des globalen Schachs.

Nicht zuletzt ist das Zeitalter polarer Systemkonkurrenz passé. Das Quasi-Vorläufermatch von 1945, der Radiowettkampf zwischen den USA und der UdSSR (4,5:15,5), stand ganz im Zeichen des Wettbewerbs zwischen Kapitalismus und Kommunismus; die Neuauflage des „Matches des Jahrhunderts“ 1984 in London (21:19 für die UdSSR) fand nur mehr beiläufige Beachtung, die Perestroika warf bereits ihre Schatten voraus. Und nach Garri Kasparows Niederlage 1997 gegen Deep Blue ist auch der Kampf Hirn gegen Chip uninteressant geworden. Das Belgrader Match von 1970 traf definitiv einen Nerv: Die Partien im Haus der Gewerkschaften wurden von 2.000 Zuschauern live verfolgt, draußen auf dem Marx-Engels-Platz blickten zahllose Kartenlose auf ein großes Demonstrationsbrett. Heute verzücken die international agierenden Großmeister die Kiebitze, wenn sie sie online zu einer Partie Geschwätzblitz fordern.