2024

Als Wladimir Putin, 1952 in Leningrad geboren, im Jahr 1999 von Boris Jelzin zum Ministerpräsidenten Russlands ernannt wurde, war er kaum einem politischen Beobachter (m/w/d) bekannt. Nach seinem Jurastudium wirkte der nüchterne Bürokrat für einige Jahre als Agent des sowjetischen Auslandsgeheimdienstes KGB in Dresden, nach der Epochenwende 1989/91 kehrte er nach Petersburg zurück und arbeitete in der dortigen Stadtverwaltung für den frei gewählten Bürgermeister Anatoli Sobtschak. 1998 stieg er zum Leiter des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB auf. Der schwer alkoholkranke Präsident Boris Jelzin empfahl in seiner Neujahrsansprache 2000 Wladimir Putin als seinen Nachfolger, drei Monate später wurde dieser dann gewählt.

Zwanzig Jahre später ist Wladimir Putin nach wie vor im Amt, allen verfassungsrechtlichen Schranken und wachsendem Unmut in der Bevölkerung zum Trotz. Die russische Verfassung von 1993 stattet, ähnlich wie in Frankreich, den Präsidenten mit monarchischen Vollmachten aus. Das vom Volk direkt gewählte Staatsoberhaupt ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, legt die Hauptrichtung der Innen- wie der Außenpolitik fest und ernennt mit Zustimmung der Duma (dem Unterhaus des Parlamentes) den Ministerpräsidenten. Die Regierung ist nicht dem Parlament, sondern dem Präsidenten gegenüber verantwortlich; dieser hat ein Vetorecht gegenüber Gesetzesentwürfen und kann selbstständig Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen. Die Amtszeit des Präsidenten beträgt vier Jahre, eine einmalige konsekutive Wiederwahl ist zulässig.

Soweit die Theorie. Zum Ende seiner zweiten Legislatur 2008 wechselte Wladimir Putin ins Amt des Ministerpräsidenten, der bisherige Regierungschef Dmitri Medwedjew rochierte ins Präsidentenamt. Putin blieb als Chef der Exekutive der eigentliche Herrscher Russlands und nahm anstelle des nominellen Statthalters auch die wichtigen repräsentativen Aufgaben wahr. 2012 ließ Putin sich erneut zum Präsidenten küren, mit einer zwischenzeitlich auf sechs Jahre verlängerten Amtszeit. Als er 2018 ein weiteres Mal im Amt bestätigt wurde, machte das Wort vom „Problem 2024“ die Runde: Was passiert, wenn Putin zum Ende seiner dann vierten Amtszeit im Jahr 2024 den Buchstaben der Verfassung gemäß den Kreml verlassen muss?

In dieser Woche hat das russische Parlament in Moskau zu einer dreisten Klärung dieses Sachverhaltes gefunden: Die russische Verfassung soll in mehreren Punkten reformiert werden, so wird es erstmals einen Gottesbezug in der Präambel geben, auch ein Mindestlohn soll verankert werden. En passant sollen die bisherigen Amtszeiten des Präsidenten auf Vorschlag der Duma „genullt“ werden – Putin kann, woran er keinen Zweifel lässt, sich 2024 um das höchste Staatsamt bewerben, als hätte er es niemals innegehabt. Spielt seine Gesundheit mit, könnte er bis ins Jahr 2036 die russische Autorität bleiben, er wäre dann 84 Jahre alt. Nach der Ausformulierung der reformierten Verfassung durch die Duma muss das Volk noch zustimmen, was in Russlands erstickter Demokratie als Formsache gilt.

Diese Verfassungsfarce macht einmal mehr deutlich, dass Russland nur auf dem Papier eine Präsidialdemokratie ist, faktisch aber eine Präsidialdiktatur (Manfred Hildermeier). Die formal unabhängige Justiz wird seit den 2000er Jahren politisch missbraucht im Kampf gegen Dissidenten, die staatlich kontrollierten Fernsehsender und Zeitungen leisten lediglich Hofberichterstattung, oppositionelle Parteien werden in ihrer Arbeit und im Wahlkampf massiv behindert (bis hin zur Exilierung und Ermordung ihrer Vorsitzenden), zivilgesellschaftliche Akteure (m/w/d) werden als „ausländische Agenten“ diffamiert. Gelegentliche Lockerungen der polizeilichen Willkür gegen Kritiker verstärken nur das Gefühl der Unberechenbarkeit des öffentlichen Lebens.

Dabei hatte sich Wladimir Putin in seinen ersten Jahren im Kreml große Popularität im Volk erworben. Er griff mit harter Hand in der abtrünnigen Teilrepublik Tschetschenien durch und legte die machtgierigen Oligarchen, die zu Jelzins Zeiten großen Einfluss auf die Regierungspolitik ausübten, an die Kette. Putin profitierte im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts von einem Fallen des Rubelkurses und einem Dauerhoch des weltweiten Ölpreises. Es gelang ihm, nach der Bonanza der 1990er Jahre das postsowjetische Russland wirtschaftlich zu stabilisieren und die grassierende Kriminalität zu senken. Allerdings verpasste er eine grundlegende Transformation der russischen Ökonomie, die bis heute einseitig auf den Verkauf von Öl und Gas ausgerichtet ist; in der digitalen Industrie spielt Russland mit seiner stolzen Ingenieurstradition global keine Rolle mehr, ebenso wenig in der Pharmazie, der Chemie oder der Mobilität.

Einen demokratischen Wettbewerb unter Parteien haben Wladimir Putin und sein Zirkel nie zugelassen, Wahlen für höchste Ämter und Mandate verkommen angesichts der massiven Propaganda zu Akklamationen. Putin bedient sich ungeniert der staatlichen Strukturen zur Durchsetzung seiner politischen und finanziellen Interessen und stattet seine Gefolgsleute mit einflussreichen Posten aus. Der Geheimdienst, die Polizei und das Militär zeigen sich bis heute loyal bis devot; in einer zensierten medialen Öffentlichkeit kommt Kritik am Staatschef nicht vor. Kriege mit russischer Beteiligung im Kaukasus, in der Ukraine und im Nahen Osten lenken zudem von innenpolitischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten ab. Putin trat nach dem Vorschlag zur Annullierung seiner Jahrzehnte an der Spitze des Staates ans Rednerpult der Duma und führte gönnerhaft aus, dass das russische Volk noch nicht soweit sei, politische Macht losgelöst von (s)einer Person auszuüben.

Mit diesem imperialen Gebaren aktualisiert Putin eine Aussage seines Vorgängers Boris Jelzin, nach der Russland an Zaren und Führer gewöhnt sei. Damit verkennt er ein zentrales Element einer pluralistischen Demokratie, nach dem politische Macht stets zeitlich begrenzt verliehen wird und Amt sowie Person immer auseinanderzuhalten sind. Putin hingegen identifiziert sich mit dem Amt des Präsidenten der Russischen Föderation, ganz so, wie es sein Vorbild Josef Stalin mit der Sowjetunion und der KPdSU getan hat. Kein Wunder, dass Putin den offiziellen Titel ВОЖДЬ (Führer) für sich reklamiert – auch das ein Erbe Josef Stalins, den er gegebenenfalls nach Jahren an der Spitze des Regimes überrunden wird. Dem roten Diktator, der die UdSSR ein Vierteljahrhundert in Angst und Terror hielt, hätte die Lösung des „Problems 2024“ sicherlich gefallen.