Das Coronavirus hat nun auch die Schachwelt erreicht. Teimur Radjabov, einer von acht qualifizierten Teilnehmern des Kandidatenturniers in Jekaterinburg, hat die aus seiner Sicht unzureichende Strategie des Weltschachbundes FIDE hinsichtlich des Gesundheitsmanagements kritisiert und eine Verschiebung des Turniers angeregt. Dies lehnten die FIDE und der Russische Schachband (RSV) unter Hinweis auf die bereits erfolgten umfangreichen Organisationsmaßnahmen ab. Der Aseri sagte seine Teilnahme daraufhin ab und wurde schon durch den Franzosen Maxime Vachier-Lagrave ersetzt.
Das Kandidatenturnier in Jekaterinburg soll den nächsten Herausforderer des Schachweltmeisters Magnus Carlsen ermitteln. Ab dem 17. März (gegebenenfalls Aktualisierungsvorbehalt) treten Fabiano Caruana, Ding Liren, Wang Hao, Jan Nepomniachtchi, Alexander Grischuk, Kirill Alekseenko, Anish Giri und eben Maxime Vachier-Lagrave doppelrundig gegeneinander an; am 4. April wird der Sieger feststehen, der wahrscheinlich im Dezember dieses Jahres das Match um den WM-Titel spielen wird. Das wahrlich globale Teilnehmerfeld setzt sich zusammen aus drei Russen, zwei Chinesen, einem US-Amerikaner, einem Niederländer und einem Franzosen.
Jekaterinburg (benannt nach der Zarin Katharina I., zu Sowjetzeiten Sverdlovsk) ist die viertgrößte Stadt Russlands und liegt am Osthang des Urals an der Grenze zwischen dem europäischen und dem asiatischen Teil der Föderation. Hier wurden der frühere russische Präsident Boris Jelzin und die ehemalige Schachweltmeisterin Aleksandra Kosteniuk geboren, die Bolschewiki erschossen hier 1918 die Familie des Zaren Nikolaus II. Spielort ist das Hyatt Regency, wo die Spieler und ihre Stäbe auch untergebracht werden. Als Favoriten auf den Turniersieg werden immer wieder Fabiano Caruana und Ding Liren genannt, beide notieren stabil über 2800 Elopunkten und spielen ausgesprochen solide und energisch zugleich. Alexander Grischuk hat sicher das Zeug zum Überraschungscoup, die Chancen Maxime Vachier-Lagraves sind ob seines kurzfristigen Einspringens und damit fehlender Vorbereitung schwer zu beziffern.
Fraglich bleibt allerdings, wie die Organisatoren der diffusen Bedrohung durch das pandemisch sich verbreitende Coronavirus begegnen wollen. Die offenen Turniere in Singapur, Dubai, Bangkok und Reykjavik wurden in den letzten Tagen und Wochen bereits abgesagt; in Deutschland wurden jüngst Großveranstaltungen wie die Internationale Tourismus-Börse in Berlin oder die Leipziger Buchmesse ersatzlos gestrichen. Zwar warnt das Auswärtige Amt im Zusammenhang mit Corona noch nicht vor Reisen nach Russland, allerdings verlangen die russischen Behörden mittlerweile von ausländischen Einreisenden mit dem Ziel Moskau eine vorherige zweiwöchige Quarantäne in der eigenen Wohnung (wie auch immer diese nachgewiesen werden soll).
Angesichts der potentiell weltweiten Verbreitung des Virus (vom lateinischen virus: Schleim, Gift) über alle politischen und nationalen Grenzen hinweg durchaus nachvollziehbare Schritte. Der Chinese Ding Liren hat sich mit seinem Tross freiwillig vor Turnierbeginn in eine 14 Tage umfassende Isolierung in Jekaterinburg begeben, sein Landsmann Wang Hao hingegen reist aus Japan zum Turnier an. Die FIDE argumentiert, ein Turnier mit acht Teilnehmern lasse sich besser kontrollieren als eines mit mehreren Hundert Spielern (m/w/d). Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit, da auch unter den acht Kandidaten und deren Sekundanten ein noch unerkannter Virusträger sein kann – kein Wunder angesichts des Schachzirkus, dessen mobile Protagonisten das ganze Jahr über von Turnier zu Turnier reisen, genauer fliegen.
Corona erinnert die digitalisierte Welt daran, wie stark das menschliche Leben weiterhin von Mikroorganismen bestimmt ist, die sich an staatliche wie kontinentale Grenzen nicht halten und ihren Wirt verletzen oder auch zersetzen können. In China, wo das Virus erstmals nachgewiesen wurde, verläuft die Infektion bei vier von fünf Patienten milde, erste Meldungen über Genesungen machen die Runde. Schwere Verläufe setzen vor allem Kindern, Schwangeren, Alten und Vorgeschwächten zu, im schlimmsten Fall können sie an Atemwegserkrankungen sterben; ein Impfstoff ist nicht in Sicht. Angesichts der sehr schnellen Verbreitung über Tröpfchen wird seitens der Gesundheitsämter an die individuelle Handhygiene appelliert, kollektiv greifen die Behörden mitunter zur Sperrung ganzer Provinzen, wie jetzt in Norditalien. Weltumspannende Lieferketten sind durchtrennt, ganze Branchen wie die Logistik laufen leer.
In jedem vollgestopften U-Bahn-Wagen reisen ungezählte Viren mit, die meisten stellen für das menschliche Immunsystem keine Überforderung dar. Doch zum Wesen der Viren zählt ihre permanente Mutation, gegen die die Herde anfangs schutzlos ist. So bleiben auch in der vernetzten Welt der Gegenwart in diesem Stadium nur altbewährte Maßnahmen wie die Absonderung der Erkrankten, um nicht noch mehr Ansteckungsfälle zu provozieren. Die Ausrichter des Kandidatenturniers in Jekaterinburg haben sich, offenbar in Kooperation mit den russischen Autoritäten, dafür entschieden, das Coronarisiko einzugehen. Bislang ist Russland auf der Weltviruskarte ein großer weißer Fleck, von einer konzertierten Aktion der Staatengemeinschaft gegenüber dem Erreger kann keine Rede sein. Eine solche könnte nur in einer Reduzierung des internationalen Verkehrs liegen, um Tempo und Terrain der Verbreitung des Virus zu beschränken.
In Jekaterinburg hat der Ausrichter hemmende Vorkehrungen kommuniziert. So wird bei allen Besuchern des Turniers vor Betreten des Spielsaals die Körpertemperatur gemessen (Fieber ist ein unspezifisches Symptom einer Coronainfektion), Spender zum Desinfizieren der Hände und Atemschutzmasken sind überall im Hotel verfügbar, der Abstand des Publikums zu den Kandidaten auf der Bühne wird mindestens 15 Meter betragen. Die Kontrahenten sollen am Brett selbst entscheiden, ob sie sich vor und nach der Partie, wie allgemein üblich, die Hände reichen. Was im Falle einer während des Turniers diagnostizierten Infektion passieren wird, lässt die FIDE offen. Möge die Qualität des Schachs unter diesen Umständen nicht leiden. Ein Trost für die Online-Kiebitze: Das Coronavirus ist nicht über das Internet übertragbar.