ABBA

  Why does every single song of ABBA make me feel it’s Christmas Time? – Unbekannte YouTube Nutzerin

Ihre Karriere währte gerade zehn Jahre, sie verkauften dabei geschätzte 400 Millionen Tonträger weltweit und zählen zu den kommerziell erfolgreichsten Musikkünstlern der Geschichte. Als sich ABBA 1982 auflöste, war das Entsetzen bei den Fans groß, man hoffte, dass es sich dabei nur um eine schöpferische Pause handelte. Doch trotz verschiedener Projekte wie Musicals, Filmen und einem eigenen Museum sollten die Vier aus Schweden keinen neuen Song mehr veröffentlichen und kein Konzert mehr geben. Bis jetzt. Auf einer Pressekonferenz in London kündigten Björn Ulvaeus und Benny Andersson, die Komponisten, Texter und Musiker der Band, für November ein neues Album mit Namen „Voyage“ und für 2022 gar Live-Auftritte an. Zwei neue Lieder sind bereits im Netz zu finden.

Die Vier hatten sich 1972 unter dem Namen ABBA, einem Akronym ihrer Vornamen, formiert, neben den männlichen Musikern übernahmen Agnetha Fältskog und Anni-Frid Lyngstad den Part der engelhaften Sängerinnen. Der internationale Durchbruch gelang dem Quartett mit dem Sieg beim Grand Prix d’Eurovision de la Chanson 1974 im englischen Brighton, der Gewinnertitel „Waterloo“ (ausgerechnet!) sollte nur einer von zahlreichen Ohrwürmern werden. Das Duo Ulvaeus/Andersson schrieb Hit auf Hit, die vom Duo Fältskog/Lyngstad gesungen wurden. Titel wie „Dancing Queen“, „The Winner takes it all“, „Take a chance on me“ oder „Fernando” haben heute bei YouTube Aufrufe in dreistelliger Millionenhöhe. ABBA stand für eingängige Melodien, die auch Jahrzehnte später frisch und klar wirken; sie schufen den perfekten Pop, der für so viele Menschen anschlussfähig ist, Männer wie Frauen, Schwule wie Heteros, von Europa über Japan bis nach Australien und die USA.

Auch privat inszenierten sich die Mitglieder der Gruppe als absolut familienkompatibel. Agnetha und Björn waren ebenso ein Ehepaar wie Benny und Anni-Frid (zumindest anfangs); frühe Fotos und Videos zeigen die befreundeten Paare beim Mensch-ärgere-Dich-nicht, beim Segeln oder beim Picknick in der Stockholmer Schärenlandschaft. Nie waren sie mit Skandalen in der Presse, nie gab es Geschichten um Drogen, Affären oder hinterzogene Steuern – ABBA waren das eingelöste Versprechen eines friedlichen, gesunden, gut gelaunten Lebens voller Gleichklang, Kunst und Natur, ein akustisches Skandinavien als Exportmodell für die Welt. Sie waren clever genug, ihre Lieder auf Englisch zu singen, um auf einem globalen Markt zu reüssieren. Das hinderte sie freilich nicht daran, regelmäßig Elemente der schwedischen Volksmusik in ihre Werke zu integrieren. Thematisch variierten sie in ihren Liedern die ewige Sehnsucht nach dem Glück und sprachen damit geschickt die Gefühle ihres Publikums an.

In der Welt des Pops der 1970er Jahre waren ABBA eine solitäre Erscheinung. Die tonangebenden Bands waren fast komplett männlich, die wenigen Musikerinnen wurden oft auf die Rolle des Dekors reduziert. Bei ABBA waren die Aufgaben gleichberechtigt nach Talenten verteilt. Björn spielte Gitarre, Benny Klavier, gemeinsam arrangierten sie die selbst komponierten Lieder, die von den Frauen mit ihren ausgebildeten Stimmen Sopran (Agnetha) und Mezzosopran (Anni-Frid) professionell harmonisch gesungen wurden. Die Texte, deren Inhalte wie bei Gedichten über die Strophen verteilt wurden, handeln meist von der Liebe, ihrem Zauber, ihrer Macht, ihrem Ende und ihrer Qual. Typisch für die ABBA-Songs, die sehr gut in einem opulenten Rahmen wie dem einer Kirche zum Klingen gebracht werden können, ist der Wechsel von Solostimmen und Chor. Neben dem melodieführenden Klavier, der Gitarre und dem Schlagzeug kommen immer wieder auch schwelgend Streich- und Blasinstrumente zum Einsatz. Auf jedem Album merkt man der Band die Freude beim gemeinsamen Spielen an, nicht umsonst heißt eine Nummer „Thank you for the music“.

Ungeachtet ihres gewaltigen Erfolges wurden ABBA immer auch belächelt. Sie wurden als reine Schlagerkapelle abgetan, die sich weder den Einflüssen der Disco, des Funks noch des Rocks öffnen wollte. Dabei wurde gerne übersehen beziehungsweise überhört, wie erwachsen und sensibel ihre Harmonien und Texte waren. Das völlig unterschätzte „Dance (while the music still goes on)“ ist ein melancholisches Juwel über Abschied und Erinnerung, mit klugen Zeilen und kompliziertem Wechsel zwischen Strophe und Refrain. Bei „Does your mother know“, das ausnahmsweise von Björn gesungen wird, geht es um einen Mann, der die unverhohlenen Annäherungsversuche eines pubertierenden Mädchens, das für das Spiel der Geschlechter noch zu jung ist, verantwortungsvoll zurückweist. Und ihr grandioses Instrumentalstück „Arrival“ wird wahlweise als die eigentliche Nationalhymne Schwedens oder als die beste Begleitung für eine Beerdigung seit Georg Friedrich Händels „Ombra mai fu“ charakterisiert.

Doch diese ruhmreiche Geschichte soll nun Geschichte sein; nach fast 40 Jahren schlagen ABBA ein neues Kapitel ihrer Laufbahn auf, so verkünden es zumindest die Komponisten Ulvaeus und Andersson. Doch warum, fragt sich die geneigte ABBA-Hörerin, die mit den Rhythmen der Vier durch Höhen und Tiefen gegangen ist. Warum gehen vier freundliche, entspannte Menschen jenseits der 70 in ein Studio, um musikalisch da weiterzumachen, wo sie vor einer kleinen Ewigkeit aufgehört haben? Und was soll eine Reihe von Konzerten, bei denen die Band gar nicht realiter auf der Bühne steht, sondern von sogenannten Abbataren vertreten wird? ABBA haben doch ausgiebig vom höchsten Lob kosten dürfen, das einem Künstler zuteilwerden kann, dem Weiterleben seines Werkes nach seinem irdischen oder auch nur kreativen Ende. Was also soll die Welt von einem Comeback erwarten, das angesichts der Lebendigkeit der klassischen Songs gar nicht nötig ist?

Den Vieren muss doch bewusst sein, dass sie mit ihren neuen Liedern an den alten gemessen werden, ohne dass sie dem Original je gerecht werden könnten. Ihre legendären Bühnenkostüme, gottlob mehr Karneval als Cabaret und deswegen jugendfrei, passen ihnen schon lange nicht mehr, auch keinen Replikanten auf der Bühne. Wollen sie einen Zipfel ihrer längst entschwundenen Jugend erhaschen? Sie sollten auf den verwitterten Altersgenossen Bob Dylan schauen, der während seiner lebenslangen Tournee um die Welt einmal von einer Sicherheitskraft nicht erkannt und am Betreten der Bühne gehindert wurde. Bei den gleichaltrigen Rolling Stones musste jüngst der Schlagzeuger versterben, um dem Gezappel vor Publikum ein Ende zu bereiten. Warum erfreuen ABBA sich nicht dem steten Jubel ihrer Anhänger (m/w/d) über die Generationen hinweg? Es gehört zur darstellenden Kunst, dass sie im Moment ihres Vollzugs erlebt wird, Filme und Aufnahmen frieren den Moment lediglich ein, ohne ihn wiederholen zu können. ABBA war signifikant für die 1970er Jahre, ihr Werk ist unverwüstlich genug, um die geplante Reanimation zu überleben.

Die Leistung von ABBA ist wahrlich historisch. Sie haben mit ihrer populären Musik nicht nur Millionen Menschen erfreut und tun das bis heute, sie haben auch jüngeren skandinavischen Bands wie A-ha und Roxette den Weg gebahnt; sie selbst stehen mit der Unvergänglichkeit ihrer Themen und Motive durchaus mit Komponisten wie Jean Sibelius und Edvard Grieg auf einer Stufe. ABBA ist mit etlichen Titeln das große Kunststück gelungen, das Schwierige so leicht und einfach aussehen zu lassen, ohne ins Kitschige abzugleiten. Dass man ihre Alben noch nach einem halben Menschenleben voller Wehmut und Freude hört, ist in der schnelllebigen Welt des Pop eine Ausnahme. Bei der Qualität ihrer Stücke ist die Annahme berechtigt, dass man sie auch im nächsten Jahrhundert noch spielen und summen wird, als immaterielles kulturelles Erbe der Menschheit. Oder wie sie selbst in einer ihrer Perlen singen: „You know I won’t forget you …“.