Mit der Oktoberrevolution 1917 und der Machtübernahme der Bolschewiki beginnt in Russland die Ära des Sozialismus. 1922 kommt es zur Gründung der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR), die sich 1991 wieder auflöst. Was dieses größte je gesehene Imperium aus seinen Untertanen gemacht hat, lässt sich in den Büchern der weißrussischen Autorin Swetlana Alexijewitsch nachlesen.
Swetlana Alexijewitsch wurde 1948 in der Ukraine geboren. Nach dem Studium der Journalistik in Minsk arbeitete sie als Redakteurin und Lehrerin. In ihren Büchern – etwa zur Rolle der Soldatinnen in der Roten Armee, über den Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan oder über die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl – verbindet sie Protokolle des Alltags mit soziologischen Theorien und einem dramaturgischen Erzählen zu einer stimmungsvollen Collage. 2015 erhielt sie für ihr Werk den Literaturnobelpreis. Obwohl ihre Bücher, in über 30 Sprachen übersetzt, in Weißrussland nicht erscheinen dürfen, lebt sie bis heute in Minsk.
In ihrem Buch „Secondhand-Zeit“, im russischen Original 2013 in Moskau publiziert, spürt sie dem „Leben auf den Trümmern des Sozialismus“ nach. In der UdSSR geboren zu sein, ist für die Autorin eine Diagnose, die es den Menschen erlaube, einander zielsicher und über die Sprachgrenzen hinweg als Post-Genossen zu erkennen, auch über 25 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion. Ihnen ist gemein, dass sie in den 1990er Jahren zwar vom Joch des Sozialismus befreit waren, aber von einem besonders brutalen Kapitalismus überrollt wurden.
Alexijewitsch hat für die „Secondhand-Zeit“ jahrelang Interviews geführt: Mit ehemaligen Offizieren und Funktionären, mit Überlebenden des Gulag und Müttern getöteter Soldaten, mit erfolgreichen Wissenschaftlerinnen und einfachen Bäuerinnen. Sie alle mussten erleben, teils erwachsen, teils als Kinder, dass die von Mikhail Gorbatschow in den 1980er Jahren eingeleitete Perestroika keineswegs zu einem besseren Leben für das Volk führte, sondern in den Jahren 1991ff. zu einem Zusammenbruch der staatlichen Ordnung und einem veritablen Raubrittertum.
In jenem gesetzlosen Jahrzehnt wurden gewaltige Staatskonzerne zerschlagen und privatisiert; einige wenige Oligarchen wurden märchenhaft reich und setzten sich nach Zürich oder London ab, viele Namenlose verloren ihre bescheidene Arbeit und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Die Ideale der klassenlosen Gesellschaft wirkten gespenstisch über das Ende der Sowjetunion hinaus, während die Starken hemmungslos Vermögen anhäuften und dabei über Leichen gingen.
Der jetzige Präsident Russlands Wladimir Putin ist für Swetlana Alexijewitsch ein schierer Repräsentant der Clique von Verbrechern, die das Riesenreich in der Phase des Zerfalls gekapert haben. An die Stelle des allgegenwärtigen Zwangs der Partei ist die Macht des ungebremst zirkulierenden Kapitals getreten; das Leben einer Einzelnen ist in der Diktatur des 21. Jahrhunderts nicht mehr wert als unter Josef Stalin, der Objekt einer nostalgischen Verklärung geworden ist.
Über ihre Gespräche mit vielen verschiedenen Personen, sich selbst dabei nicht ausklammernd, schreibt Alexijewitsch bilanzierend: „Die Menschen möchten einfach nur leben, ohne große Idee. So etwas hat es in der russischen Geschichte noch nie gegeben, so etwas kennt auch die russische Literatur nicht. Im Grunde sind wir Menschen des Krieges. Immer haben wir entweder gekämpft oder uns auf einen Krieg vorbereitet.“ Diese Enttäuschung, so die Autorin, wirke bis heute nach; es fehle die Einübung in Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Als Literatin fahndet Alexijewitsch in der Sprache nach der Deformation der Psyche: „Wir alle, die Menschen aus dem Sozialismus, ähneln einander und sind anders als andere Menschen – wir haben unsere eigenen Begriffe, unsere eigenen Vorstellungen von Gut und Böse, von Helden und Märtyrern.“ Nur, so die Autorin, tauge dieses utopische Vokabular in nackten Zeiten der Börse, des Egoismus und der Konkurrenz nicht recht, es wirke abgetragen, eben secondhand. Was an seine Stelle treten wird, muss die Zeit erweisen.