Archipel

  Aus dem Häftling müssen wir alles in den ersten drei Monaten herausholen – danach brauchen wir ihn nicht mehr. – Naftali Frenkel, früher Ideologe des Gulag

Der Kluge definiert den Archipel als eine größere Inselgruppe. Der Begriff ist aus dem italienischen archipelago entlehnt, einer Zusammensetzung aus pelago, dem Gewässer, und arci, im Sinne von groß, erzen. Der Archipelago, später nach französischem Vorbild zu Archipel verkürzt, steht anfangs für die Ägäis, dann für die vielen kleinen Inseln im ägäischen Meer, und schließlich generell für eine Inselgruppe. Der russischen Schriftsteller Alexander Solschenizyn hat für sein epochales Werk über die bolschewistischen Konzentrationslager die Metapher des Archipel Gulag geprägt: Demnach steigen die vielen Lagerkomplexe, die über die ganze Sowjetunion verstreut sind, wie Inseln aus der endlosen Landmasse des eurasischen Kontinents auf. Sie gehören konstitutiv zum riesigen Reich vom Kaukasus über den Ural und den Amur bis zur Kolyma und sind dennoch den alltäglichen Blicken der Menschen entzogen. Wer dahin verschifft wird, darf nicht auf Rückkehr hoffen.

Alexander Solschenizyn wurde 1918 in Kislowodsk geboren. Er studierte Mathematik und Physik und verdiente seinen Lebensunterhalt als Lehrer. Von 1941 an diente er als Offizier in der Roten Armee, 1945 wurde er wegen einer brieflich geäußerten Kritik an den militärischen Fähigkeiten Josef Stalins zu acht Jahren Straflager verurteilt. Nach der Verbüßung der Haft in Kasachstan und anschließender Verbannung wurde er 1957 rehabilitiert. 1962 veröffentlichte er mit ausdrücklicher Billigung Nikita Chruschtschows die Erzählung Ein Tag im Leben des Ivan Denissowitsch, die den mörderischen Alltag in einer sowjetischen Arbeitskolonne schilderte. Nach Chruschtschows Sturz 1964 und wieder einsetzender Zensur der Literatur wurde Solschenizyn vom Geheimdienst überwacht, er wurde aus dem staatlichen Schriftstellerverband ausgeschlossen, seine Romane konnten in der UdSSR nicht mehr erscheinen. Er wurde 1970 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet, den er aber nicht persönlich in Stockholm entgegennahm, aus Furcht, danach nicht mehr zurückkehren zu können.

In den 1960er Jahren arbeitete Solschenizyn heimlich an einer Dokumentation des sowjetischen Straflagersystems des Gulag. Nach der Veröffentlichung des Ivan Denissowitsch hatte er klandestin Dokumente, Briefe, Erinnerungen und Fotos aus dem ganzen Sojus erhalten, von Überlebenden wie ihm selbst. Er machte sich daran, eine Chronik und Struktur des Gulag zu verfassen, nicht nur aufbauend auf seinen persönlichen Erlebnissen, sondern auf den Geschichten weiterer Opfer. Er nannte sein im Entstehen begriffenes Werk den „Versuch einer künstlerischen Bewältigung“. Nach dem Ende des „Tauwetters“ (noch so eine treffende Metapher) nach Chruschtschows Sturz konnten Erinnerungen ehemaliger Lagerhäftlinge nur im Untergrund veröffentlicht werden, die Texte etwa von Jewgenia Ginzburg und Warlam Schalamow erschienen in Kleinstauflagen im Samisdat oder in Exilverlagen im westlichen Ausland. Es gelang Solschenizyn, das Manuskript des Archipel Gulag nach Frankreich zu schmuggeln, wo es 1974 erstmals in französischer Übersetzung publiziert wurde.

Alexander Solschenizyn wurde umgehend ausgebürgert und in die Bundesrepublik Deutschland abgeschoben, wo er zunächst bei seinem Schriftstellerkollegen Heinrich Böll in der Eifel unterkam. Seit 1976 lebte der Autor im US-Bundesstaat Vermont, weiter auf Russisch an der Geschichte der Oktoberrevolution und der Sowjetunion schreibend. Erst nach dem Untergang der UdSSR kehrte Solschenizyn 1994 nach Moskau zurück. Seine Werke waren mittlerweile in Russland zur Publikation und zum Verkauf zugelassen, parallel dazu setzte eine historische Erforschung des stalinistischen Terrors ein. Die vom letzten sowjetischen Präsidenten Mikhail Gorbatschow verfügte Öffnung der Archive der KPdSU, des Innenministeriums und der Geheimdienste für die Wissenschaft wurde vom ersten russischen Präsidenten Boris Jelzin bestätigt und von dessen Nachfolger Wladimir Putin Anfang der 2000er Jahre wieder kassiert. Alexander Solschenizyn starb im Jahre 2008 in Moskau, im selben Jahr wurde der Archipel Gulag Schullektüre in Russland.

In seinem dreibändigen Werk beansprucht Solschenizyn, die Geschichte der bolschewistischen Gefängnisindustrie der Jahre 1918 bis 1956 zu schreiben, er wird dergestalt zum Homer des sowjetischen Repressionsapparates. Er wendet sich gegen die verbreitete Lesart, die Jahre des Großen Terrors von 1936 bis 1938 mit ihren infamen Schauprozessen gegen altgediente Bolschewiki seien die einzigen der willkürlichen Massenverhaftung, der Denunziation, der Bespitzelung, der Folter, der Deportationen, der Erschießungen, der Sklavenarbeit und der Vernichtung gewesen. Tatsächlich setzt die Praxis der sowjetischen Konzentrationslager bereits 1918 ein, vom Revolutionsführer Wladimir Iljitsch Lenin persönlich angeordnet und vom Geheimdienstchef Felix Dserschinski umgesetzt. Beim Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals 1931/33 werden Hundertausende Häftlinge auf einer monumentalen Baustelle vernutzt und bei viel zu kleinen Brotrationen durch Schwerstarbeit verschlissen. Der Schriftsteller Maxim Gorki ist Hauptautor eines Prachtbandes, der den Erfolg der „Umerziehung“ der Häftlinge durch Arbeit preist. Bereits 1929 hatte derselbe Gorki nach einem Besuch des ersten Straflagers auf den Solowetzki-Inseln vor der Küste Kareliens die heilsame Wirkung der Sklavenarbeit für die Gesellschaft und den „menschlichen Rohstoff“ gerühmt.

Nach dem Ende des II. Weltkriegs erreichte die Zahl der Häftlinge in den Lagern einen traurigen Höchststand. Sowjetische Soldaten, die als Kriegsgefangene Buchenwald und Auschwitz überlebt hatten, wurden postwendend als Spione nach Sibirien verschifft, wo sie als namenloser Sisyphos am Stein zerbrachen; gleiches widerfuhr den Esten, Letten und Litauern aus den annektierten baltischen Republiken. Solschenizyn standen beim Verfassen seines Werkes keine amtlichen Statistiken zur Verfügung; seine Schätzungen, dass in den knapp vierzig Jahren der Existenz des Gulag (Akronym für Glawnoije uprawlenije lagerei, Hauptverwaltung der Lager) bis zu 35 Millionen Menschen durch die „düsteren stinkigen Rohre unserer Gefängniskanalisation“ geschleust wurden, konnte die historische Forschung der 1990er Jahre bestätigen. Dabei war das Ziel in all den Jahren in all den Lagern das Gleiche: Das Maximum aus der Arbeitskraft der Häftlinge herauszupressen, bei der Arbeit im Holzeinschlag, im Straßenbau, im Bergwerk, in der Goldmine – bei einem Minimum an Investitionen in Ernährung, Bekleidung, Bildung und medizinische Versorgung. Der Tod der Inhaftierten war nüchtern als „Ausrottung durch Arbeit“ eingepreist: „Darin bestand ja die Metzelei. Für Gaskammern hatten wir kein Gas.“

Das Charakteristische der Terrorjahre 1936 bis 1938 war, dass es nun erstmals auch Kader aus Partei, Wirtschaft, Industrie und Armee traf, die in den Mahlstrom der Organe gerieten. Doch macht Solschenizyn das Moment der Willkür hinter all den Verhaftungen, Vernehmungen und Deportationen aus. Josef Stalin und seine Mordgesellen im Politbüro und im Obersten Sowjet hatten schlicht Quoten zur Aufdeckung und Beseitigung von Volksfeinden, Spionen, Trotzkisten und Saboteuren aufgestellt, die von den Gebietskommissaren, in der Furcht, selbst ins Visier der Dienste zu geraten, in vorauseilendem Gehorsam übererfüllt wurden. Die Vernehmungen vor den lokalen Gerichten der Dienste spotten jeder Beschreibung. Mit der Verhaftung wird aus einem unbescholtenen Bürger eine Nummer ohne jede Rechte, das belastende Material ist ebenso fabriziert wie die Aussagen eingeschüchterter Zeugen, eine Verteidigung gibt es nicht, Folter aller Art gehört zum Verhör dazu, die Verurteilung erfolgt einzig auf der Grundlage herbeigeprügelter „Geständnisse“. Der berüchtigte, 1926 erlassene § 58 des sowjetischen Strafgesetzbuches ist bewusst weit und vage gefasst, sodass nahezu jede Äußerung oder Tat wie auch jedes Unterlassen als „konterrevolutionär“ auslegbar wird und zu einer Verurteilung von zehn oder auch 25 Jahren führt.

Die detaillierten Schilderungen Solschenizyns sind über weite Strecken schwer erträglich, weil sie im Stil eines Protokolls daherkommen. Ob es nun um die Verhaftung in der eigenen Wohnung geht (in der Regel nachts, um die Wehrlosigkeit des aus dem Schlaf gerissenen Opfers noch zu steigern); den abgestuften Katalog physischer und psychischer Gewalt bei der Vernehmung; die monatelange Haft in dunklen, feuchten Zellen ohne Kontakt zur Familie; die Deportationen im Zugabteil, das für sechs Passagiere geplant ist, aber mit 30 Häftlingen belegt wird; die abgerissene Kleidung für Fronarbeit bei 40 Grad Frost; die stinkenden Latrinen mit ihrer Jauche, die die Kittel verdreckt; fehlender Zellstoff für die Frauen, denen schockhaft ihre Menstruation aussetzt; die völlig unzureichende Verpflegung mit dünner Suppe, fauligem Fisch, Wasser und Brot aus Sägespänen; das langsame Sterben der Lagerinsassen an schwerer Arbeit, Strafisolator und Schlägen der Wachmannschaften; die Symptome des nahenden Todes in Gestalt von Skorbut, Pellagra, alimentärer Dystrophie; das Zerfressen nackter, gefesselter Häftlinge durch Ameisen und Mücken; das Zermahlen der Leichenknochen im Betonmischer – die Passion zerstört die Menschen zuverlässig in wenigen Monaten. Diejenigen, die vom Archipel zurück ins Leben kommen, sind für den Rest ihrer Tage als Krüppel gezeichnet.

Alle Autoren des Gulag, auch Alexander Solschenizyn, schildern die besondere Rolle der Kriminellen im Lager. In der perversen Ideologie des Sozialismus gelten sie, anders als die „Politischen“ oder „Gläubigen“, als „sozial-nahe Elemente“. Von klein auf einer gesetzlosen Laufbahn ausgesetzt, landen sie bereits als Jugendliche im Gefängnis und dann im Straflager, wegen Diebstahl, Raub, Erpressung und Mord. Diese Taten werden aber von den Gerichten milde beurteilt, weil es Delikte am Privateigentum sind, einem Überbleibsel der untergegangenen bourgeoisen Gesellschaft des Zarenreiches. In der Diktatur des Proletariats werden die Berufsverbrecher zu Freibeutern verklärt, die den Weg in die klassenlose Gesellschaft ohne Besitz weisen. Das Abreißen oder Aufklauben einiger Ähren aus bohrendem Hunger oder das Melken der Ziege für ein Glas Milch ist aber Diebstahl am Volkseigentum oder reaktionäre Agitation und wird nach § 58 mit mindestens zehn Jahren bestraft. Und im Lager führen die Kriminellen ihr sadistisches Regime, geduldet vom Wachpersonal. Sie arbeiten nicht, plündern Neuankömmlinge aus, rauben den Alten und Schwachen ihre kargen Rationen, nehmen sich die wenigen Frauen als Beute, töten aus einem dumpfen Reflex.

Mag das System der bolschewistischen Straflager mit seinen zahllosen Haupt-, Außen- und Nebenlagern ein ökonomischer Unsinn gewesen sein, der dem Regime ein Zuschussgeschäft bedeutete, so war die forcierte Industrialisierung der UdSSR ab Ende der 1920er Jahre ohne Sträflingsarbeit undenkbar. Welche freien Arbeiter wären bereit gewesen, im Hohen Norden des Permafrostes nach Gold und Nickel zu schürfen, im schneebedeckten Nichts der Tundra Eisenbahnschwellen zu verlegen, in sibirischer Taiga Wälder für die Holzproduktion zu roden? Mit bis dahin unbekannter Grausamkeit setzte der sozialistische Staat die einzige wirtschaftliche Ressource ein, die ihm grenzenlos zur Verfügung stand: menschliche Arbeitskraft. Es spielte keine Rolle, ob die Verurteilten tatsächlich eines Verbrechens schuldig geworden waren – der Staat beanspruchte den absoluten Zugriff auf ihre Körper und verheizte diese auf den Großbaustellen seiner Industrieprojekte zur Erschließung von Rohstoffen, zum Bau von Transportwegen und zum Betrieb gigantischer Fabriken. Dass die Lagerkommandanten, in der Hierarchie der Geheimdienste auf mittlerer Stufe stehend, durch allerlei Zulagen, Privilegien und das Gefühl göttlicher Macht vom Gulag profitierten, gehört zum System. Ihre Ausbildung zum Tschekisten trainiert ihnen jedes eventuell vorhandene Mitgefühl mit den Sklaven verlässlich ab. Jede Härte gegenüber den „Volksfeinden“ halten sie für gerechtfertigt.

Mit seinem Erscheinen 1974 sorgte der Archipel Gulag für ein politisches Beben, im Westen Europas ebenso wie in der Sowjetunion. In Frankreich, Italien, Großbritannien und der Bundesrepublik geriet die sich fortschrittlich dünkende Linke in Erklärungsnot, weil man sich die geschilderte menschenfeindliche Politik partout nicht vorstellen konnte und sie als Gräuelpropaganda abtat. In der UdSSR galt Alexander Solschenizyn schlicht als Dissident und Verräter, der das glorreiche Erbe des Arbeiter- und Bauernstaates beschmutzte. Diese letztere Haltung der Wut und der Scham ist dadurch erklärbar, dass es in der Sowjetunion nach Stalins Tod 1953 keine juristische Aufarbeitung der Menschheitsverbrechen des Gulag gab. Zwar setzte 1956 mit der Rede Chruschtschows auf dem XX. Parteitag eine umfassende kritische Revision des Ansehens des verstorbenen Diktators ein, zudem wurden Millionen politischer Häftlinge freigelassen und rehabilitiert. Vor Gericht aber musste sich kein einziger Ideologe, Planer und Manager des organisierten Mordens verantworten – wie denn auch, war doch die Clique um Chruschtschow mit Molotow, Bulganin, Woroschilow, Malenkow, Mikojan, Kaganowitsch und Kalinin seit Beginn der 1930er Jahre in höchsten Positionen in Staat und Partei und hatte Stalins Hölle mit errichtet.

Es bedarf offenbar des kompletten Zusammenbruchs eines Regimes, um seine Verbrechen offiziell zu bestrafen, angeleitet und kontrolliert durch die Siegermächte. Solschenizyn nennt für das Jahr 1966 die Zahl von 86.000 Naziverbrechern, die von Gerichten der Bundesrepublik verurteilt wurden – zur gleichen Zeit musste in der UdSSR ein knappes Dutzend Angeklagter für seine Taten im Gulag geradestehen. Diese Blindheit an Gerechtigkeit und Sühne in der Sowjetunion, die ja nach dem Tode Stalins noch 38 Jahre Bestand hatte, setzt sich im Russland der Gegenwart fort. Zwar darf im Reiche Wladimir Putins durchaus an die Gräuel des Stalinismus erinnert werden, aber nur unter Erwähnung der Opfer, keinesfalls der Täter. Wer es mit akribischer Forschung dennoch tut, wie etwa die Freiwilligen von Memorial, muss mit Einschüchterung, Verfolgung und auch Verurteilung durch die gelenkte Justiz rechnen. Dass es Verantwortliche und Profiteure für das Terrorsystem des Gulag gab; dass es Ideologen gab, die ein Menschenleben für wertlos erklärten; dass es politische Entscheider gab, die den Befehl zur Vernichtung durch Arbeit von Millionen Menschen erteilten; dass es gewissenlose Täter in der Partei, der Miliz und den Geheimdiensten gab, die die gefräßige Maschine der Lagerindustrie fütterten, wird bis heute in Russland verschwiegen. Kein Wunder, dass der Status des Archipel Gulag als Schullektüre mittlerweile wackelt.