Canisius

Eine Kletterhalle? Ein Hochbunker? Ein Museum? Dem flüchtigen Spaziergänger (m/w/d) am Nordostufer des Lietzensees in Charlottenburg gibt der rund zwanzig Meter hohe Quader Rätsel ob seiner Bestimmung auf. Geradezu magisch zieht er Blicke und Schritte an. Zwei Kuben, der eine massiv zur Seeseite gewandt, der andere offen zur entfernten Kantstraße, scheinen ineinander verschoben, als Scharnier dazwischen eine Beule aus verwitterndem Lärchenholz. Der Bau aus hellem Sichtbeton, dem eine Spur beigemischten Kalkmehls sein besonderes Leuchten verschafft, ist mit gebührend Raum umgeben in einer ansonsten urban verdichteten Siedlungsstruktur. Der Campanile am Rand des Vorplatzes schließlich identifiziert das Gebäude als eine Kirche.

Am 28. Juni 2002 wurde Sankt Canisius in dieser Form geweiht. Der Neubau nach den Plänen des Architekturbüros Büttner war notwendig geworden, nachdem die Vorgängerkirche 1995 nach den Spielen zweier Jungen ein Raub der Flammen wurde. Die architektonische Lösung des Sakralbaus ist bestechend, solide fest und dabei anmutig leicht. Neugier und Staunen bei der Draufsicht setzen sich nach dem Betreten des Innenraumes fort, peu à peu in Demut umschlagend. Der Grundriss des Gebäudes ist rechteckig, der des liturgisch bespielten Innenraumes hingegen orientiert sich an der Kreisform. Nichts erinnert an die traditionellen Elemente des Kirchbaus, eine Apsis fehlt ebenso wie die Vierung, ein Chorumgang oder Stützpfeiler. Der Boden ist ausgelegt mit ordinären grauen Pflastersteinen, die profane Umgebung wird dergestalt in den heiligen Raum hineingeholt und vice versa. Die intime Marienkapelle aus Holz stülpt sich verbindend in den freien Kubus. Hoch über dem Eingang hängt ein eiserner Kruzifixus aus der alten Kirche, von der Hitze des Feuers verformt.

1924 erwarb der Jesuitenorden, das schärfste Schwert der katholischen Gegenreformation, das Pfarreigelände in Charlottenburg, der Namenspatron Petrus Canisius war einer der ersten Gefolgsleute des Ordensgründers Ignatius von Loyola und erster deutscher Ordensprovinzial. Als sich nach dem Bau der Mauer 1961 die Sankt-Hedwigs-Kathedrale im Osten der geteilten Stadt wiederfand, avancierte Sankt Canisius zum katholischen Zentrum des Westens; das Ordinariat wurde hierher verlegt, hier fanden Fronleichnamsprozessionen und Katholikentage statt. Längst leben die Katholiken in der Hauptstadt in der Diaspora, ihr Anteil an der Bevölkerung liegt (tendenziell weiter abnehmend) bei 9 %, von denen wiederum etwa 10 % an den Gottesdiensten teilnehmen. In dieser geistlichen Wüste ist Canisius nicht nur städtebaulich eine Oase – Gott in allen Dingen finden, wie es das höchste Ordensgebot der Societas Jesu verkündet.

Inmitten der Fastenzeit wurde auch Canisius von der Corona-Pandemie getroffen. Zunächst wurde auf den händischen Friedensgruß verzichtet, die Weihwasserbecken am Eingang waren trocken. Doch dann blieb das Kirchenportal auf Geheiß der Politik über zwei Monate lang versperrt, da geschlossene Räume als ideale Orte für Ansteckungen galten. Das Erzbistum fügte sich in die administrativen Maßnahmen des Abstandhaltens, setzte ein wenig hilflos auf Social-Media-Predigten und verwies auf TV-Übertragungen von Messen etwa aus dem Vatikan. Ostern 2020 sollte als das erste Fest der Auferstehung überhaupt in die Geschichte eingehen, das nicht in der Kirche und mit der Gemeinde begangen wurde; eine spirituelle Wunde klafft in der Seele, die trotz der Stille des Gebetes vor Gott zumindest dann und wann die Nähe der anderen Gläubigen braucht.

Nun, lang nach Pfingsten, mitten in der sommerlichen Langeweile des kirchlichen Jahreskreises, gewinnt eine überkommene Normalität in der Messe zögernd wieder Gestalt. Die wie in einem Parlament in einem Halbkreis um den Altar angeordneten Stühle sind ausgedünnt, gut die Hälfte ist ins Magazin verschafft, auf manchen prangen Schilder, bitte hier nicht Platz zu nehmen. Das Gotteslob wird (wegen der Infektionsgefahr über die Hände) nicht vorrätig gehalten, kein Kollektenkörbchen wandert durch die schütteren Reihen. Die notorischen 1,5 Meter Abstand zum Nebenmenschen können allein schon wegen der auch sonst überschaubaren Zahl der Gottesdienstbesuchenden eingehalten werden, einige von ihnen tragen eine textile Atemhemmung, zum Glück sind Altar und Ambo nicht durch Plexiglasscheiben abgezäunt.

Der Zauber des Raumes ist über die lange Schließzeit erhalten geblieben. Seine Höhe schüchtert nicht ein, lädt vielmehr zum Ausladen der Seele ein. Hinter dem Altarblock aus ockertonigem Kalkstein schimmert das „Goldene Feld“ des Künstlers Winfried Muthesius, es nimmt die Tradition der Ikonenkunst auf, mit dieser warmen Farbe das Transzendente abzubilden. Der ganze Raum wirkt wohlproportioniert nach dem Prinzip des Goldenen Schnittes, abgestimmt und harmonisch. Im schlicht gehaltenen Interieur tanzen Lichtflecken aus diversen Wand- und Deckenschlitzen, die Gebete des Priesters und das Spiel des Organisten lassen die vorzügliche Akustik des Raumes ahnen. Dem Gesangsverbot in geschlossenen Räumen angepasst, spielt die Architektur der Kirche ihre Stärke aus: Gleich zu Beginn der Messfeier ziehen die Gemeindemitglieder, sorgsam Abstand zueinander wahrend, durch eine Glastür ins Freie, um sich unter der Decke des lichten Kubus um den Schwesteraltar zu versammeln. An der Kirche und zugleich in ihr, drinnen wie draußen, stimmen die Gläubigen das Kyrie an – das Konzept der Kirche am Weg wird gesanglich Realität.

Es gehört traditionell zum Ritual der Liturgie, dass der Priester vor der Gabenbereitung seine Hände mit Wasser benetzt, um symbolisch alle Schuld von sich abzuwaschen, bevor sich Brot und Wein in Leib und Blut Christi verwandeln. In Zeiten der Corona-Pandemie sind das Waschen und das sich anschließende Desinfizieren der Hände vor aller Augen irdische Hygienemaßnahmen. Zur Kommunion schließlich sind die Gläubigen eingeladen, einzeln an den Altar zu treten, über dem der Priester die geweihte Hostie hält und in ihre geöffneten Hände fallen lässt, ohne dass es zu einem physischen Kontakt käme. Der übliche Dialog „Der Leib Christi“ – „Amen“ entfällt, um eine Tröpfcheninfektion zu vermeiden.

Das Finale der Messfeier ist grandios. Der Küster hat zwischenzeitlich das gut zwölf Meter hohe Portal geöffnet, die beiden tonnenschweren hölzernen Flügel bewegen sich geräuschlos in den Angeln, das Licht des Sommerabends ergießt sich auf den Altar. Den Segen spendet der Priester auf dem Kirchenvorplatz, das Grummeln und Sirren der Metropole drängt von weit her wie durch einen Filter. In das abschließende Lied mischt sich das Gezirpe der Vögel aus den Baumkronen. Canisius ist innen von den Requisiten her auf das Wesentliche beschränkt, auf der hellen Schale funkeln kleine Metallplättchen in Kreuzesgestalt. Eine streng elegante Lösung für die Sakralität der Großstadt, die durch ihre zahllosen Ablenkungen charakterisiert ist. Wer Sankt Canisius besucht, lässt sich finden von Gott. Dazu muss er nichts weiter mitbringen als die Bereitschaft dazu.