Die Wirklichkeit ist immer nur der Auftakt zu etwas Unbekanntem, und auf dem Weg dahin kommen wir nicht weit.
Marcel Proust
Der epochale Romanzyklus A la recherche du temps perdu des französischen Autors Marcel Proust (1871 – 1922) spielt hauptsächlich in den aristokratischen und großbürgerlichen Salons der Belle Epoque in Paris und in der Provinz. Der Ich-Erzähler verbringt seine Tage und Abende als Dandy im geistreichen Geplauder auf einer Soiree, während eines Konzerts, bei einem Diner, bei der Lektüre und als teilnehmender Beobachter gesellschaftlicher Konventionen. Zu den Dauerbrennern der Konversation zählt die immergrüne Frage „Wer mit wem?“ Flirts werden geführt, Affären werden angebahnt, Ehen gestiftet, Seitensprünge geplant. Das Zustandekommen und Halten einer Liaison ist nicht nur eine Frage der Attraktivität, der Lust und der Liebe, sondern auch des Prestiges der Beteiligten. Das Agieren der Personen auf der Bühne der Salons mit ihrem gepflegten Tratsch ist der beste Nährboden für die Schattenseite der Liebe, nämlich der Eifersucht. Diese ist Ausdruck des befürchteten Betrugs der Geliebten, des Misstrauens ihres Willens zur Exklusivität.
Marcel, der Ich-Erzähler der Recherche hat Albertine Simonet im normannischen Strandbad Balbec kennengelernt, gemeinsam mit ihren Freundinnen verzaubert sie den Jugendlichen, der mit seiner Großmutter an der Küste urlaubt. Das Grundmotiv der Beziehung zwischen Marcel und Albertine wird bereits in A l’ombre des jeunes filles en fleurs angeschlagen: Marcel begehrt den reizenden aufblühenden Körper des hübschen Mädchens auf dem Weg zur Frau, wird aber schnell gesättigt und richtet seine Sinne auf andere Frauen, zu denen Kontakt aufzunehmen er sich durch Albertine gehindert fühlt. Vollends wird sein Misstrauen entfacht durch eine Bemerkung eines Bekannten, der Albertine und ihrer Freundin Andrée lesbische Neigungen (und auch Praktiken) unterstellt. Fortan verfällt Marcel einem Kontrollzwang über Albertine, die er, um sie nicht an Gomorrha zu verlieren, auf Schritt und Tritt überwacht und sie schließlich, obwohl er ihrer überdrüssig wird, durch eine Heirat an sich binden will.
Der Band La Prisonnière steht im Zeichen von Albertines Gefangenschaft in der Pariser Wohnung des Erzählers respektive seiner abwesenden Eltern, die aus familiären Gründen im ländlichen Combray sich aufhalten. Marcel verschleiert den manipulativen Charakter seiner Beziehung zu Albertine und gibt sie als seine Cousine aus, des Weiteren verheimlicht er selbst seinen engsten Freunden, dass sie in seiner Wohnung lebt. Während des runden halben Jahres, das Albertine bei Marcel verbringt, unterzieht dieser sie permanenten Verhören über ihre Ausflüge, ihre Begegnungen, ihre Wünsche und ihre Vergangenheit – stets beseelt vom Verlangen, dass sie keine sapphischen Kontakte habe. Doch muss er realisieren, dass es nicht mit der überstürzten Abreise aus der Sommerfrische getan ist: „In Wirklichkeit hatte ich geglaubt, mit Balbec auch Gomorrha zu verlassen, Albertine dem zu entreißen; ach! Gomorrha war in alle vier Winde verstreut.“ Auch und gerade in Paris lauern Gefahren, die Marcel zum Tugendwächter werden lassen.
Das soziale Gefälle zwischen Marcel und Albertine ist maßgeblich dafür verantwortlich, dass er sein Kontrollregime der Eifersucht etablieren kann. Das familiäre Erbe erlaubt es ihm, seinem Leben als Snob und Müßiggänger nachzugehen und seine Ambitionen als Schriftsteller immer wieder aufzuschieben. Eine professionelle Laufbahn als Diplomat, von den Eltern gewünscht, gibt Marcel aus gesundheitlichen Gründen im Roman ebenso auf wie Proust im Leben (er leidet seit der Kindheit an Erstickungsanfällen). Albertine hingegen wächst ohne Eltern bei ihrer Tante auf, ohne Geld und Besitz kann sie nur auf eine gute Partie hoffen; von einer möglichen beruflichen Tätigkeit oder Ausbildung ist an keiner Stelle im Roman die Rede. Marcel findet Gefallen daran, Albertine als reiche junge Dame auszustatten und ihr Schmuck und Kleider zu schenken und ihr eine Yacht zu versprechen – an einer Stelle heißt es gar, sie sei sein Werk.
Der Erzähler schwankt permanent zwischen einer quälenden Eifersucht und dem Wunsch nach dem Ende der Beziehung. Er will nach Venedig reisen, sieht sich aber dazu außerstande, weil Albertine anwesend ist – auf den naheliegenden Gedanken einer gemeinsamen Reise an die Lagune kommt er nicht, zu kostbar sind ihm die Wonnen der Einsamkeit. So lässt sich die Beziehung zu Albertine kaum als Liebe zwischen zwei gleichberechtigten Menschen etikettieren, vielmehr als gnadenloser Besitzanspruch unter Ausnutzung finanzieller Vorteile. Dieses Arrangement wird für Marcel vor allem durch mögliche lesbische Kontakte Albertines gefährdet, die für die Dauer des Romans keine Bestätigung erfahren, aber bohrend in Marcels Fantasie als Bedrohung existieren. Heterosexueller Konkurrenz wüsste der Erzähler sich zu erwehren, der homosexuellen bleibt er äußerlich und wehrlos. Die Gelassenheit vieler Invertierter gegenüber einem gelegentlichen Tête-à-tête des Partners mit einer Frau ist ihm versperrt: „Die Liebe des Mannes, den sie lieben, zu einer Frau, ist eine ganz andere Sache, die eine ganz andere Tierart betrifft (der Löwe lässt die Tiger in Ruhe), sie nicht weiter stört und eher beruhigt.“
Die Konstellation der Prisonnière ist merklich irreal und obsessiv. Angesichts der regelmäßigen Ausfahrten Albertines mit Andrée ins Theater oder in den Bois, von Marcel gesponsert, lässt es sich kaum länger vertuschen, dass sie in seiner weitläufigen Wohnung lebt und von ihm ausgehalten wird, zumal die treue alte Bedienstete Francoise ihrem Herrn dauernd Vorwürfe macht, er verschleudere sein Vermögen an eine Undankbare. Auch ist Albertines Verwandtschaft als seine Base leicht als plumpe Lüge zu durchschauen, gibt es doch genug Mitglieder der Pariser Gesellschaft, die Albertine und Marcel aus Balbec kennen und über beider Herkunft unterrichtet sind. Nicht zuletzt ist Albertines Gefangenschaft im Käfig der großbürgerlichen Wohnung nicht ausreichend, um ihre emotionale Wirkung für Marcel zu entfalten; dieser braucht die Anerkennung anderer Männer, um sich an seiner Geliebten zu erfreuen: „Allein das Begehren, das sie in anderen erregte, brachte sie, wenn ich es bemerkte, zu leiden begann und sie ihnen streitig machen wollte, in meinen Augen wieder zu hohem Ansehen.“
Der Autor Marcel Proust hat bei der Komposition des Albertine-Themas im Rahmen der Recherche Maß genommen am Leben des realen Marcel Proust. Er lernte Alfred Agostinelli 1907 in Cabourg (dem Vorbild des fiktiven Balbec im Department La Manche) kennen und unternahm mit ihm eine Autofahrt durch die Normandie. 1913 tauchte der 18 Jahre jüngere Agostinelli abrupt wieder im Leben Prousts auf; dieser stellte ihn als seinen Chauffeur und Sekretär an und quartierte ihn mit seiner Verlobten Anna in seiner Pariser Wohnung ein. Proust überschüttete Agostinelli mit Gunstbeweisen aller Art, er schenkte ihm ein Auto und finanzierte ihm eine Ausbildung zum Piloten. Diese Menage à trois hielt ein halbes Jahr, an dessen Ende Agostinelli nach Nizza zu Verwandten floh. Er kam im Mai 1914 bei einem Flugzeugabsturz nahe Antibes ums Leben. Die Bände La Prisonnière und Albertine disparue entstanden nach 1915, beide Typoskripte wurden posthum in den 1920er Jahren publiziert, ohne dass Proust noch die Druckfahnen hätte korrigieren und ergänzen können.
Albertine lässt sich Marcels Eifersucht ohne offene Gegenwehr gefallen, sie beteuert ein ums andere Mal, dass sie sich an seiner Seite glücklich wähnt. Die von Marcel annoncierte Heirat bleibt Phantom, zu sehr ist er damit beschäftigt, als Inquisitor Albertine zu einer gehorsamen Jungfrau zu stilisieren (ohne an eine Verantwortung einer möglichen Schwangerschaft nur zu denken). Wenn er denn einmal ausgeht, lässt er sie bewusst allein zuhause, um sie in den besuchten Salons nicht potenziellen Verführungen durch andere Frauen auszusetzen. Er will sich ihr gegenüber anästhesieren, um sie schließlich verlassen zu können; hier zählt er auf die Gewöhnung durch die Zeit. An Albertines Innenleben ist er kaum interessiert, ihre Passivität und Duldsamkeit gegenüber seinen Launen überschätzt er maßlos, sodass ihn eines Morgens die Nachricht ihrer Abreise völlig überraschend trifft. Sie flieht zu ihren Verwandten in die Touraine, wo sie von Marcel mit Briefen bedrängt wird, doch zu ihm zurückzukehren, da er ohne sie nicht leben könne. Ohne dass die beiden sich wiedersehen, erhält Marcel später die Nachricht, Albertine sei bei einem Reitunfall tödlich verunglückt.
Die Albertine-Episode ist insofern repräsentativ für den ganzen Zyklus, als dass alle näher geschilderten Verlockungen durch Hintergehen, Betrug und Lüge begleitet werden. Marcel wiederholt in seinen Nachstellungen die masochistische Qual, die zwischen Charles Swann und seiner Geliebten (und späteren Ehefrau) Odette de Crecy beherrschend war; der Baron Palamède de Charlus wird von seinem Schützling, dem jungen Violinisten Charles Morel, zuerst ausgenommen und schließlich verstoßen; die Herzogin Oriane de Guermantes erduldet stoisch die Affären ihres notorisch untreuen Gatten Basin; Robert de Saint-Loup ehelicht Gilberte Swann, um seinen Neigungen zu Männern heimlich umso heftiger nachzugehen; Madame Verdurin zieht ein sadistisches Vergnügen aus der offenen Demütigung ihrer verschworenen Gäste. „Was wäre die Liebe ohne Leiden?“ scheint das Motto des Autors Marcel Proust zu sein. Seine eigenen Lieben verschlüsselt er virtuos durch die sieben Bände der Recherche, die Eifersucht fungiert dabei als Nährstoff ihrer Feuer. Aus der langsam erkaltenden Asche erwächst dann beim Autor und beim Ich-Erzähler das große Werk, dessen Entstehen die Leserinnen seit der Madeleine-Episode in Du Coté de chez Swann genießen können. Das Leben ist der Kunst gewidmet, die Liebe bewahrt die Erinnerung, das Schreiben zieht die Schatten aus der Zeit.