Endspiel

  Der schlechte Läufer ist nicht imstande, die gegnerischen Bauern anzugreifen (die meistens auf der anderen Felderfarbe platziert sind), was ihn zur passiven Verteidigung der eigenen Bauern verdammt. – Mark Dvoreckij

Eine Schachpartie besteht aus den drei Elementen der Eröffnung, des Mittelspiels und des Endspiels. So weit, so trivial. Die legendäre sowjetische Schachschule legte besonderen Wert auf das Studium des Endspiels, weil in der finalen Partiephase die größten Schwächen an sich guter Kandidaten sich offenbarten. Bei reduziertem Material kommt es auf jedes Tempo an, auch verändern sich die Kompetenzen der einzelnen Figuren. Der König, der im Mittelspiel besonders vor gegnerischen Attacken geschützt werden muss, gewinnt im Endspiel an Gewicht, seine Aktivität ist häufig spielentscheidend. Der aktuelle Weltmeister Magnus Carlsen ist ein ausgewiesener Virtuose dieses Partieabschnitts, so manchen Punkt hat er aus Positionen geholt, die seine Gegner stillschweigend als Remis abgehakt hatten.

Wie so viele andere Endspielkönner vor ihm legt Magnus Carlsen seine Partien nicht darauf an, in der Eröffnung einen vom Computer zählbaren Vorteil zu erzielen und diesen ins Mittelspiel zu überführen. Es geht ihm vielmehr darum, seine Gegner durch das Spielen als anspruchslos geltender Nebenvarianten früh aus ihrer Vorbereitung zu holen und sie zeitig zum Selberdenken zu zwingen. Carlsen strebt ruhige Positionen voll verborgener Dynamik an, die ihm strukturell besonders liegen und in denen er durch geduldiges Manövrieren Raumvorteil erzielen und kleine Vorteile anhäufen kann, die sich zu großen und schließlich zu kritischen kumulieren. Am Ende gewinnt er eine Partie, nach deren Aufgabe sich der Kontrahent verblüfft fragt, wo er denn eigentlich den folgenschweren Fehler begangen habe. So geschehen auch in der Partie gegen Fabiano Caruana aus dem Jahr 2012 beim Grand Slam Chess Final in Sao Paulo.

Magnus Carlsen, zu diesem Zeitpunkt bereits die Nummer Eins der Weltrangliste (den WM-Titel sollte er ein Jahr später gegen Viswanathan Anand erobern), wählt gegen Caruanas Französische Verteidigung gegen sein 1.e4 die bescheidene Fortsetzung 2.d3. Beide Seiten entwickeln sich bedächtig und lassen die Situation im Zentrum lange ungeklärt. Das erste Signal setzt Caruana mit 7. …a5, einem typischen Zug der Französischen Verteidigung, bei der Schwarz sein Spiel am Damenflügel sucht. Im 14. Zug tauscht Carlsen seinen Springer gegen einen des Gegners auf b6 und verdirbt diesem die Bauernstruktur am Damenflügel. Mit 16.a4 legt er des Gegners Bauern am Damenflügel auf den schwarzen Feldern fest, eine Entscheidung von phänomenaler Weitsicht über das Mittelspiel hinaus. Caruana findet kein richtiges Spiel und lässt sich unbedrängt auf Abtäusche und Vereinfachungen der Struktur ein, von denen nur Weiß profitiert.

Nach 27 Zügen geht die Partie von einem ereignislosen Geplänkel ohne taktische Verwicklungen allmählich in ein Endspiel über, die Damen sind vom Brett verschwunden, alle Türme sind noch da und ein schwarzfeldriger Läufer auf jeder Seite. Bei jeweils drei Bauern am Königs- und zwei Bauern am Damenflügel steht Weiß leicht besser, weil die schwarzen Bauern a5 und b6 auf der Farbe des eigenen Läufers stehen und leichter anzugreifen sind als ihre Pendants auf weißer Seite. Carlsen vergrößert seinen Raumvorteil am Königsflügel, ohne Not hilft ihm Caruana, indem er einen Turm tauscht und dem weißen König das zentrale Feld e4 schenkt, von wo aus er das ganze Brett zu kontrollieren droht. Ohne gepatzt zu haben, steht Schwarz beengt ohne konkrete Perspektive, er ist dazu verdammt, den weißen Manövern passiv zuzusehen und kann nur auf eine Festung im Endspiel hoffen.

Mit 35.Tb5 überschreitet erstmals ein weißer Stein die Demarkationslinie zwischen beiden Lagern, mit 36.h5 fixiert Carlsen auch am Königsflügel Caruanas Bauern auf Schwarz. Nach 41.f5 wird Carlsens tiefer Plan offenbar: Er will die Bauern am Königsflügel tauschen, später dann die Türme, um danach mit seinem mittig stehenden König zum Damenflügel zu schwenken, um dort mit Hilfe des Läufers die verbliebenen schwarzen Bauern zu kassieren. Schwarz ist eingeklemmt in seiner Bretthälfte und kann die weiße Strategie nur beobachten; während Carlsen seine Stellung Zug um Zug verbessert, bleiben Caruana nur Wartezüge, die zu nichts führen. Nach 51 Zügen ist Carlsen seinem Ziel einen bedeutenden Schritt nähergekommen: Alle Bauern am Königsflügel sind verschwunden, die Türme ebenfalls. Nun wird sein König schneller am Damenflügel eintreffen als der schwarze Monarch, um dort die schwarzen Bauern zu erobern. Caruana kann dieses Schicksal nur antizipieren und beten, dass Carlsen siegessicher auf der Zielgeraden strauchelt.

Nach 55 Zügen ergibt sich folgende Stellung: Weiß Kb5, La5, a4, c4; Schwarz Kb7, Ld6. Caruana hat noch eine leise Schwindelchance auf ein Remis. Er will seinen Läufern gegen den weißen Bauern auf der c-Linie opfern, denn das elementare Endspiel mit dem a-Bauern und dem schwarzfeldrigen Läufer ist theoretisch unentschieden, weil der schwarze König nicht vom Feld a8, dem Umwandlungsfeld des Bauern vertrieben werden kann. Carlsen weiß das natürlich, sein Ziel wird es sein, den c-Bauern peu à peu vorrücken zu lassen, ohne dass Caruana die Gelegenheit zum Schlagen bekäme. Die Bauern, die in der Eröffnung häufig in Gambits geopfert werden, um die Entwicklung zu beschleunigen, werden im Endspiel zu wahren Schwergewichten, können sie sich doch spielentscheidend auf der Grundreihe des Gegners in eine Figur der Wahl (mit Ausnahme des Königs) verwandeln. Carlsens König bewegt sich tänzerisch auf den weißen Feldern, die Caruanas Läufer nicht bestreicht; sein eigener Läufer verdrängt diesen schließlich von der Diagonalen a5/d8, sodass der Einzug des c-Bauern auf c8 nicht mehr verhindert werden kann. 1:0 nach 66 Zügen.

Carlsen aktualisiert mit seiner geduldigen und geometrisch klaren Gewinnführung einen bestechenden Weg, den Bobby Fischer bereits im Jahr 1959 in Zürich gegen Paul Keres fand. Auch seinerzeit hatte Weiß zwei Bauern und einen Läufer gegen einen gleichfarbigen Läufer des Gegners, nur gespiegelt auf dem Königsflügel. Mit dem gleichen Manöver umging Fischer das drohende „impotente Paar“ (Lf5, h5) und brachte seinen f-Bauern auf das magische Feld der Umwandlung zur Dame. Man darf Carlsen, der die Klassiker des Schachs sorgfältig studiert hat, unterstellen, dieses berühmte Beispiel zu kennen. Magnus Carlsen ist wie vor ihm José Raoul Capablanca, Vassily Smyslov, Bobby Fischer und Anatoli Karpow mit einer exzellenten Technik gesegnet, die ihn keine Fehler machen und schlafwandlerisch sicher die richtigen Felder für seine Figuren finden lässt. Während der Computer heute im Halbjahresrhythmus in den favorisierten Eröffnungen Verbesserungen findet und das schachliche Wissen des Partiebeginns immens anwachsen lässt, kann er in Fragen des Endspiels oft nur die praktizierten Lösungen der Vergangenheit bestätigen.

Heutige Endspieldatenbanken haben alle möglichen Konstellationen mit bis zu sieben Steinen bereits bis zum Schluss durchanalysiert. Die größte Veränderung der Praxis des Endspiels rührt allerdings aus der Abschaffung der Hängepartien Mitte der 1990er Jahre her. Nun gibt es keine nächtliche Analyse mit Hilfe der Sekundanten mehr, die dann bei der Wiederaufnahme der Partie aufs Brett gebracht werden kann; heute kann die Partie durchaus fünf, sechs und mehr Stunden en suite dauern, und das Endspiel wird im Zustand wachsender Erschöpfung gespielt, bei begrenzter Zeit zum Berechnen. Gerade Magnus Carlsen ist dafür bekannt, dass er auch nach stundenlanger Konzentration am Brett die Spannung hochhalten kann und den Gegner mit permanenten Drohungen beschäftigt. Oder auch ihn einlullt und ihn in vermeintlich ausgeglichenen Stellungen zu Flüchtigkeitsfehlern verführt. Dabei hilft Carlsen sein sagenhaftes Gedächtnis, in dem alle denkbaren Muster der finalen Phase abgespeichert sind und auf die er bei Bedarf zurückgreifen kann. Zum Schluss ist Schach wie Philosophie: Alle Fragen sind gestellt, die Antworten liegen vor, man muss nur richtig nachdenken.