Der Schmerz vergeht, der Ruhm bleibt. – Unbekannter Triathlet
Wenn es heute wieder „Aloha from Hawaii“ heißt, wird damit kein Konzert von Elvis Presley angekündigt, sondern der Ironman von Kona. Der Legende nach begann es mit einer Bierwette. Ehemalige Marines saßen eines Abends zusammen am Strand von Oahu und fragten sich, welcher Wettkampf der härteste sei: Der Waikiki Roughwater Swim über 3,86 km im Pazifik, die 180 km umfassende Umrundung der Insel mit dem Rennrad oder der Honolulu-Marathon. Kurzerhand beschlossen sie, alle Wettkämpfe hintereinander zu absolvieren; wer diesen Dreikampf (i. e. Triathlon) gewinne, sei ein Ironman. Bei der Premiere im Februar 1978 nahmen 15 unentwegte Männer teil, heute drängen sich rund 5.000 fitte Athletinnen und Athleten auf Big Island, der größten Insel des Archipels.
Was als Laune halbwegs sportlicher Amateure und ehemaliger Soldaten anfing, ist mit den Jahren zu einer attraktiven Nischensportart geworden, die global Millionen umsetzt, eine eigene Industrie entwickelt hat und als soziales Distinktionsmerkmal taugt. In der Kindheit der neuen Konkurrenz ging es vor allem darum, die 226 km lange Strecke zu bewältigen und das verrückte Unterfangen ohne Schäden zu überleben. Heute trainieren die Profis das Kraulen im Strömungsbecken, studieren im Windkanal die beste aerodynamische Position auf dem Rad, laufen mit Schuhen aus Carbon und folgen einem ausgeklügelten Ernährungsplan. Die schnellsten Männer brauchen für den Triathlon auf Hawaii um die acht Stunden, die Frauen etwa 40 Minuten länger. Und die Altersklassenathleten, die neben Beruf und Familie auf 20 und mehr Stunden Training pro Woche kommen, sind nur unwesentlich langsamer.
Der „Ironman“ ist eine geschützte Marke, die einerseits die Langdistanz der Summe der drei Disziplinen meint, andererseits vom Rechteinhaber, einem US-amerikanischen Medienunternehmen, lizensiert für Rennen rund um den Globus vergeben wird. Im Jahr 2000 in Sydney wurde Triathlon olympisch, seitdem geht es bei Olympia über 1,5 km Schwimmen, 40 km Radfahren und 10 km Laufen en suite, plus die Zeit in der Wechselzone. Die Königsklasse aber bleibt der Ironman, der vielfach mit Triathlon identifiziert wird. Und Hawaii, der Ort, an dem alles begann, ist der definitive Sehnsuchtsort wohl eines jeden Triathleten. Einmal in Kona, dem Hauptort von Big Island im hüfttiefen Meer zu stehen und um 06:30 Uhr Ortszeit zu starten, ist das Ziel, auf das sie jahrelang hinarbeiten und Zeit, Mühen und Geld investieren.
Die aktuelle Ausgabe zeigt, dass die Aufwendungen der ohnehin teuren Sportart Triathlon explodiert sind. Für die Miete eines Apartments für eine Woche auf Big Island rund um den Ironman werden Preise jenseits der 10.000 Dollar verlangt – und gezahlt. Mit der Ausrüstung, dem systematischen Training mit einem persönlichen Coach, Startgeld, Teilnahme an Qualifikationsrennen, Trainingslager, Flügen und besonderem Ernährungsaufwand kann das Projekt Kona schnell bei 80.000 Dollar liegen. Diese Dimension lässt auch Profis mit ihren Sponsoren im Rücken an der Entwicklung ihres Sports zweifeln. 2020 und 2021 musste der Ironman auf Hawaii wegen der Corona-Zwangsmaßnahmen abgesagt werden, nach drei Jahren nun kommt die internationale Gemeinde zurück. Im Mai 2022 hatte es eine sogenannte Ersatz-WM in Utah gegeben, über die gleiche Distanz, aber ohne die speziellen Hawaii-Bedingungen. Um nun möglichst vielen qualifizierten Athleten, die 2020 und 2021 nicht zum Zuge kamen, die Teilnahme auf Hawaii zu erlauben, haben sich die Organisatoren entschieden, nicht wie sonst 1.800 Athleten, sondern 5.000 Männer und Frauen einzuladen.
Wie es aussieht, kommt die Insel mit dieser Invasion an ihre Grenzen. Zusammen mit ihren Familien, Betreuern, Sponsoren, Funktionären und Journalisten sind in der Wettkampfwoche rund 20.000 Gäste in und um Kona domiziliert – bei etwa 23.000 ständigen Einwohnern. Hotels, Apartments und Mietwagen sind seit Monaten ausgebucht, Cafés vermieten Tische und Stühle auf ihren Terrassen für vierstellige Summen. Der vielbeschworene Mythos der Insel und des Rennens schlägt in der Realität hart auf. Erstmals wird es zwei Rennen geben, die Frauen starteten am Donnerstag, die Männer folgen am Samstag. Das dient nicht in erster Linie der größeren Sichtbarkeit der weiblichen Athletinnen, sondern primär der Entzerrung der Logistik und auch der doppelten Vermarktung durch zwei Termine und zwei Übertragungen plus Werbung. Allerdings gibt es schlicht zu wenig Freiwillige, die als Streckenposten den Athleten die Getränke anreichen; nötig wären 5.000 pro Rennen, es fehlen dazu aber je 1.000. Daher liegen die Verpflegungsstationen in diesem Jahr weiter auseinander als sonst.
Dabei ist es gerade auf Hawaii essentiell, sich optimal während des Wettkampfes mit Nährstoffen und Flüssigkeit zu versorgen. Die Temperaturen erreichen mittags 28 °C und mehr, am Himmel bieten Wolken selten Schutz vor der Sonne, die Luftfeuchtigkeit kann bei tropischen 80 % liegen, dazu besteht die Gefahr heftiger Winde in der Einsamkeit der Lavafelder auf Big Island. Während der acht und mehr Stunden auf dem flirrenden Asphalt müssen die Athleten nicht nur die Kohlenhydratspeicher regelmäßig auffüllen, sie müssen vor allem den enormen Schweißverlust durch Trinken ausgleichen, sie müssen sich Elektrolyte und Vitamine zuführen und den Körper immer wieder mit Eis kühlen. Nicht umsonst wird die Ernährung beim Ironman die vierte Disziplin genannt. So manche Athletin musste ihr Rennen wegen Übelkeit, Erbrechen, Schwindel, Dehydrierung, Rückenschmerzen oder Wadenkrämpfen aufgeben.
Es sind gerade diese harten Bedingungen, die die Triathleten aus aller Welt reizen, wenigstens einmal im Leben nach Hawaii zu reisen, um ein Ironman zu werden (hier wird im Übrigen noch nicht in Richtung Ironwoman oder gar Ironperson gegendert). In den frühen Jahren nahmen einige Hundert Menschen am Rennen teil, das Züge einer waghalsigen Expedition trug. Die Krimiserie „Magnum“, die auf dem Archipel spielt, hat Anfang der 1980er Jahre das Rennen in eine Episode integriert. Mit den Jahren entwickelte sich der Ironman weg von einer Zirkusshow hin zu einem echten Sport mit Profis, Sponsoren, TV-Übertragung, Trainingsplänen auf der Basis von Big Data und Wettkämpfen an anderen Orten. Am Ort der Geburt des Triathlons wurde einmal im Jahr der Weltmeister gekürt, das Rennen von Utah im Mai dieses Jahres lief dann eher unter Vorbehalt.
Die sehr experimentierfreudige und technikbegeisterte Szene hat immer wieder die Evolution ihres Sports vorangetrieben. Die Zeitfahrlenker wurden auf Hawaii erprobt, bevor sie in den Radsport kamen, gleiches gilt für die Helmpflicht. Leichte und doch stabile Wettkampfschuhe kamen hier zuerst zum Einsatz, ebenso der Schwimmanzug und der Laufdress. Im Windkanal wird nach der perfekten Sitzposition gesucht, über jedes überflüssige Gramm am Rad denken die Mechaniker intensiv nach. Das Coachen der Athleten entlang der Vitaldaten, die sie im Training und im Wettkampf generieren, wurde im Triathlon zur Perfektion getrieben. Coach und Athletin kommunizieren dabei über Mail und Skype, die individualisierten Trainingspläne werden gegebenenfalls angepasst. Dem großen Tag wird mit wissenschaftlicher Akribie begegnet, nichts wird dem Zufall überlassen.
Und doch ist gerade Hawaii nicht komplett im Labor planbar. Mark Allen, der die Szene ab der zweiten Hälfte der 1980er Jahre dominierte, gewann überall und patzte regelmäßig in Kona, erst im siebten Anlauf schaffte er seinen ersten Erfolg. Die Deutschen waren bekannt für ihre starken Radleistungen, aber erst Thomas Hellriegel konnte 1997 als erster Deutscher mit einer ausgewogenen Darbietung in allen drei Disziplinen gewinnen. Paula Newby-Fraser hält bei den Frauen mit acht Siegen in den 1990er Jahren den Rekord, just am Donnerstag dieser Woche kam die favorisierte Schweizerin Daniela Ryf, die schon fünfmal Weltmeisterin war, nach einem schwachen Marathon erst als Achte ins Ziel. Ein technischer Defekt auf dem Rad oder eine Zeitstrafe wegen Windschattenfahrens können das Ende aller Siegträume bedeuten, ein unbeabsichtigter Schlag oder Tritt ins Gesicht beim Schwimmen in der Bucht von Kona kann das Rennen beenden, bevor es richtig beginnt, die mörderische Hitze während des Marathons bremst immer wieder austrainierte Leute.
Der Ironman ist eben mehr als die Aneinanderreihung dreier Ausdauersportarten. Er ist eine Reise ans Ende des Unbekannten, er ist ein Spiel mit den eigenen leiblichen und seelischen Grenzen, er ist eine Schule der Geduld und der effizienten Krafteinteilung. Zur Folklore gehören die hawaiianischen Musiker im Zieleinlauf mit ihren traditionellen Trachten ebenso wie die Lorbeerkrone für die Siegerin. Um 18:30 Uhr deutscher Zeit gehen die Männer auf die abenteuerliche Reise. Wird sich die deutsche Siegesserie seit 2014 fortsetzten? Werden die favorisierten Norweger auch hier im Vorbeigehen gewinnen? Haben die starken Australier eine Chance auf das Podium? Oder wird, wie am Donnerstag bei den Frauen mit Chelsea Sodaro, jemand siegen, der mit einer Tarnkappe unterwegs war? Dank Internet ist die Fangemeinde bereit für eine lange Nacht, vielleicht purzelt ja auch der Streckenrekord. Aloha – it’s Kona Race Day.