Der Eingriff liegt nun über zwanzig Jahre zurück. Er war seinerzeit medizinisch notwendig, weil ein Tumor an der Zunge, der im Jahr zuvor herausgeschnitten worden war, bereits Metastasen gestreut hatte. In einem Lymphknoten unterhalb des Kiefers hatte sich ein Krebsnest gebildet, spürbar als harte Murmel. Bei der neck dissection genannten Operation wurden sämtliche Lymphbahnen und -knoten der linken Halsseite entfernt, unter Mitnahme des Großen Kopfwenders, der das Hirn versorgenden Vene, des Nervus assessorius, der Ohrspeicheldrüse und des lokalen Bindegewebes.
Blickt man Kerstin ins entstellte Antlitz, sieht man einen konkav deformierten Hals, die Haut ist hier und im Übergang zum Schulterblatt schrundig, pergamenten und dunkler pigmentiert als der Teint. Diese Verfärbung rührt von der Bestrahlung nach der Operation her, das verbrannte Areal hat sich nicht regenerieren können. Rings um die linke Mundhälfte zieht sich ein Netz tiefer Runzeln. Vom Ohr verläuft eine violette Narbe den Halsrest hinunter, um oberhalb der Clavicula Richtung Schulter abzubiegen. Auf Höhe des Kehlkopfes hat sich über einem zweiten Schnitt ein voluminöses Keloid gebildet. Dieses überschießende Narbengewebe ist hartnäckig wiedergekommen auch nach mehreren Versuchen seiner chirurgischen Abtragung; die dauernde Spannung des Dekolletés begünstigt die Geschwulst.
Wer Kerstin zum ersten Mal sieht, zuckt unweigerlich zusammen, vor Ekel, Scham und Aggression. Wie kann sich so was nur nach draußen trauen? Lässt sich eine Begegnung partout nicht vermeiden, reagieren Frauen künstlich fröhlich, als sei es die Erfüllung ihres Traumes, mit einem so verzerrten Wesen Aug in Aug zu sprechen. Männer hingegen vermeiden beharrlich den Blickkontakt und verhehlen ihr Unbehagen nicht. Kinder können sich von Kerstins Erscheinung nicht losreißen, wie bei einem Feuer müssen sie hinschauen, so sehr es auch schmerzt. Manche stupsen ihre Mutter an, andere springen impulsiv zurück wie vor einem Hund.
Kerstin hat Rollkragen und Schals probiert, lässt die langen Strähnen die Wangen entlang auf die Schultern fallen, hat mit Camouflage-Make-up experimentiert und plastische Chirurgen konsultiert. Vergeblich, die Stelle ist zu groß, als dass sich die Läsion kaschieren ließe. Sie neigt zudem zur Narbenwucherung, an eine kosmetische Auffüllung des Loches ist nicht zu denken. Sie ist heilfroh, dass sie keine anatomisch bedingten Schmerzen in Hals, Nacken, Kopf und Schulter hat, dass die Stimmbildung einwandfrei funktioniert und dass die Rotation der Wirbelsäule durch die fehlenden Muskeln, Sehnen und Adern lediglich minimal behindert ist; Kraulschwimmen und Rennradfahren sind problemlos möglich.
Warum ist Kerstin für ihre Mitmenschen eine Zumutung? Sie sprengt das vertraute Körperschema, das auf vertikaler Harmonie beruht, auf unverhältnismäßige Weise. Ein Gesicht wird als besonders attraktiv empfunden, wenn beide Hälften sich annähernd gleichen. Leichte Abweichungen vom symmetrischen Ideal werden als akzeptabel erlebt, mit Piercings lässt sich ein Bruch der Sehgewohnheiten temporär bewusst herbeiführen. Aber ein klaffender Krater aus leblosem Gewebe von der Größe dreier Handteller so nah am Gesicht ist zu viel der Überschreitung. Die stattgefundene Verletzung bedroht das Gefühl eigener Unversehrtheit – Kerstins Halsschlagader, von keinerlei Faszien umhüllt, fließt so nah unter der Haut wie eine Vene auf dem Handrücken. Diese Wunde schreit Memento mori!
In der Wildnis werden kranke oder verletzte Tiere von ihren Artgenossen nicht beschützt, sondern gebissen und vom Futter weggestoßen. Sie stellen eine Belastung der Herde dar, von der sich diese im Sinne der eigenen Stabilität umgehend trennt. Die Exklusion aus der menschlichen Gemeinschaft erfolgt subtiler. Kerstin wird erst gar nicht in private oder professionelle Zirkel aufgenommen, sie disqualifiziert sich für deren Teilhabe durch einen Bruch ästhetischer Normen. Ihre Narbe ist mehr als ein Verweis auf eine medizinische Intervention, die ihr das Leben gerettet hat. Sie ist nach Erving Goffman als Brandmal ein Zeichen der Beschädigung ihrer sozialen Identität.
Im Zeitalter von Instagram und Pinterest wird von jedem Menschen die permanente Arbeit am Aussehen erwartet. Dieser Zwang zur Perfektion trifft Frauen härter als Männer. Kerstin mag einen schlanken Körper besitzen, sich geschmeidig bewegen, dichtes Haar und warme Augen haben, ebenmäßige Zähne, volle Lippen und gepflegte Hände vorweisen, dabei belesen und kultiviert sein – der Makel der Hässlichkeit überwiegt all diese Vorzüge. Einen Partner hat sie nicht, Flirten kennt sie nicht, für einen gelegentlichen Liebhaber fehlt ihr das Geld. Im Büro wird Diskretion erwartet, Projekte mit Kundenkontakt und Dienstreisen werden hübschen Kolleginnen übertragen. Und auch die Eltern sind erleichtert, dass Kerstin weit weg vom Ort ihrer Geburt lebt.
Ihr Arzt ist der einzige Mensch, der sie an der intimen Zone berührt, alle zwei Jahre bei der Kontrolluntersuchung. Die Haut ist trotz der zerstörten Nerven sensibel, Kehlkopf, Schlüsselbein, Luftröhre und Zungengrund sind wie bei einem Relief präzise tastbar. Im Sprechzimmer erinnert sich Kerstin, dass sie eine Überlebende einer mörderischen Krankheit ist. Sie ist dankbar für die geschenkte Zeit und hat sich notgedrungen in ihrer Geschlechtslosigkeit eingerichtet. Ihr ist bislang kein einziger Mensch mit einer vergleichbaren Verwundung begegnet. Nicht allein auf diesem Wege zu wandeln, ließe sie ihre Entstellung leichter tragen. In Gegenwart ihres Arztes kann sie nicht darüber weinen, das gelingt ihr erst daheim beim Blick in den Spiegel.