EuroCity

Als der EuroCity den Bauch des Bahnhofes Warzawa Centralna gegen kurz vor vier Uhr nachmittags Richtung Westen verlässt, ist es bereits dämmrig. Für den Preis, den sie am Schalter für ihre Fahrkarte entrichtet hat, käme sie innerhalb Deutschlands nur die Hälfte an Kilometern weit. Kerstin wundert sich über die zwei flegelhaften jungen Männer im Abteil und fragt sich, was sie in der 1. Klasse verloren haben; sie benehmen sich eher so, als gehörten sie in den Fernbus zum nächsten Auswärtsspiel. Sie tragen Jogginghosen, Jacken aus Fallschirmseide und Kappen mit dem Schirm nach hinten gedreht, dazu stinken sie nach Alkohol, gestikulieren raumgreifend und ziehen ungeniert ihre Sneakers aus. Doch der Zug ist nicht voll besetzt, sodass sie schnell ein Abteil für sich allein findet, wo das Lärmen der beiden Hooligans sie nicht erreicht.

Hinter ihr verschwindet Warschau, eine selten hässliche Stadt. Völlig verloren liegt die Altstadt am Weichselufer, als Puppenstube nach den Bombardierungen des II. Weltkriegs in Pastelltönen, Rundbögen und Kopfsteinpflaster historisierend wieder aufgebaut. Um diesen Fremdkörper herum reckt sich die moderne Kapitale des polnischen Marktes protzend in die Höhe, das Zentrum ist entstellt durch etliche phallische Türme aus Stahl, Beton und Glas, verunziert mit den unablässig blinkenden Werbetafeln internationaler Konzerne. Die Stadt ist gerastert durch breite Magistralen, die die Wohn- und Geschäftsblöcke als Autobahnen durchschneiden und die Menschen an den Rand drängen. Mit dem Fahrrad sind hier nur die Kuriere der Essenslieferdienste unterwegs, ohne Licht kurven sie über die schmalen Trottoirs. Zu den schöneren Gebäuden zählt groteskerweise der wuchtige Kulturpalast aus der Stalinzeit mit seinem marmorgetäfelten Foyer, den klassizistischen Ziersäulen und dem weithin sichtbaren Zifferblatt unter dem Stachel auf dem Dach.

Kerstin blickt ins Dämmerlicht, während der EC durch die gesichtslosen Vororte der polnischen Hauptstadt fährt. Hier feiert der Brutalismus der Plattenbauten fröhliche Urständ, wie in jeder ehedem sozialistischen Stadt Europas, in Architektenkreisen genießt das serielle Bauen der 1970er und 80er Jahre mittlerweile Kultstatus. Die Lokomotive nimmt an Fahrt auf, das monotone Surren der stählernen Räder beruhigt Kerstin, die das Gefühl hat, allein an Bord einer Sänfte zu sein. Nicht nur ist das Bahnfahren eine sehr praktische und umweltgerechte Art des Reisens, es ist auch eine meditative Beschäftigung, ohne etwas tun zu müssen. Im Dunkel des Landes sind nur mehr Schemen zu erkennen, ab und an leuchtet ein kleiner Bahnhof kurz auf, dann übernimmt wieder das Grauschwarz des frühen Novemberabends. In der Ferne tasten sich die Scheinwerfer der Autos über die Schnellstraße. Kerstin lauscht dem weichen slawischen Idiom des Zugchefs über die Lautsprecher vor dem nächsten Halt und versteht einzelne Wörter, im Nicht-Genau-Wissen und -Verstehen fühlt sie sich wunderbar aufgehoben.

In Gedanken ist sie noch einmal zu Fuß unterwegs zum Denkmal der Opfer des jüdischen Ghettos. Der Weg verläuft entlang breiter Straßen und führt alsbald durch eine schlichte Wohngegend mit graffitiverschmierten Wänden. Schließlich erreicht sie das Denkmal, vor dem im Dezember 1970 der damalige Bundeskanzler Willy Brandt auf die Knie fiel. Das schiefergraue Relief in silbergrauer Wand zeigt entschlossene junge Männer und Frauen, die sich 1943 der SS entgegenstellten und sich verzweifelt gegen die bevorstehende Deportation in die Vernichtungslager wehrten. Das Ghetto ist längst verschwunden, heute stehen harmlose Wohnhäuser in der näheren Umgebung, verwittert und hier und da baufällig. Vor dem Denkmal stehend, kann Kerstin nur schweigen; weiße, gelbe und rote Nelken auf den Stufen betonen noch die Härte des polierten Steines. Wissen die jungen Leute, die heute hier vorbeikommen, von der Geste des deutschen Gastes vor über 50 Jahren?

Auf den Straßen sind viele Familien in Bewegung, sie tragen weiß-rote Binden am Arm und schwenken die Nationalflagge. Es ist der Unabhängigkeitstag Polens, der hier als Fest begangen wird, das wirtschaftliche Leben ruht. Kinder laufen in Gruppen umher und verteilen Aufkleber mit dem Adler in den Landesfarben gegen eine Spende; ihre Augen werden groß, als Kerstin einen 10-Zloty-Schein in die Sammelbüchse steckt. Die Polizisten, die an den Kreuzungen postiert sind, werden Teil des fröhlichen Spektakels. Aus der Ferne weht der Gesang einer Rockband durch die zugigen autogerechten Schneisen, der Himmel über Warschau ist dem Monat angemessen grau, die Temperaturen liegen bei obszönen 14 Grad Celsius. Am Fuß des Kulturpalastes kauert eine Gruppe Obdachloser, auch ihnen gibt Kerstin ein Billett, ihr Dziekuje versteht sie gut. Eine Steinfigur in der Rotunde vor dem Kulturpalast trägt ein Buch mit den Namen Marx, Engels und Lenin – der Name Stalin wurde nachträglich entfernt.

Im Dunkel huschen die Namen kleiner Perrons vorbei, in Kutno und Konin hält der EuroCity kurz, doch kaum jemand steigt noch zu. Die Verbindung zwischen den beiden Hauptstädten Berlin und Warschau wird mehrfach am Tag angeboten, von der deutschen und polnischen Bahn gemeinsam durchgeführt und gut angenommen. Doch leider ist nach Warschau Schluss mit der europäischen West/Ost-Verbindung auf Schienen, das Baltikum etwa mit seinen Metropolen Vilnius, Kaunas, Riga und Tallinn ist mit der Bahn von Deutschland aus gar nicht erreichbar. Zwar wird seit längerem von der Rail Baltica als Schienenstrang phantasiert, es passiert jedoch nichts in der Richtung. Schließlich hält der Zug in Poznan Glowny, dem westlichen Drehkreuz Polens, das Kerstin von ihren Reisen nach Danzig kennt und wo er eine halbe Stunde im Licht der Scheinwerfer verharrt. Kerstin springt auf die Platforma, wie es im Polnischen heißt, und vertritt sich die müden Füße. Die Hälfte der Strecke ist geschafft, noch drei Stunden bis zum Hauptbahnhof.

Als der Zug gleitend wieder in die Bewegung kommt, rollt Kerstin sich auf der Sitzbank zusammen und schlummert im Takt der Gleislücken. Ihr kommt die Forderung des polnischen Parlamentes an die deutsche Regierung in den Sinn: Es werden allen Ernstes 1,3 Billionen Euro an Reparationsforderungen an Deutschland gerichtet, zu entschädigen für die Gräuel des II. Weltkrieges. Bei aller Sympathie für Polen findet Kerstin diese Anmaßung absurd. Deutschland hat nach 1945 weiß Gott genug Geld an alle möglichen Staaten und etliche Organisationen gezahlt, es reicht irgendwann mit dem monotonen Spielen auf der Orgel der Schuld. Auch respektive gerade Deutschland hat ein Recht auf Gegenwart und darf sich einmal von der Vergangenheit lösen. Zumal man auch eine Gegenrechnung aufmachen könnte: Was ist mit den 13 Millionen Menschen, die nach der Kapitulation aus den deutschen Ostprovinzen vertrieben oder getötet wurden, unter Preisgabe ihres Eigentums, ihrer Betriebe und Höfe? Was ist mit Preußen, Pommern, Schlesien und dem Warthegau, den dortigen Ländereien und Industrien? Das Verharren im Gestern behindert nur das Morgen, die Hauptfunktion des Gedächtnisses ist das Vergessen.

Im fahlen Licht ihres Telefons, das hier besten Empfang hat, spielt sie ein paar Partien Schach auf Lichess. Zwischendurch steht sie auf und wäscht sich auf der Toilette die Hände, vereinzelt sitzen Fahrgäste in ihren aquariengleichen Abteilen und hängen ihren Gedanken nach. Nach Swiebodzin und Rzepin überfährt der Zug, ohne dass es zu merken war, die mächtige Oder und kommt in Frankfurt zum Stehen. Zwei Polizisten betreten den Zug und durchstreifen zur Passkontrolle die Abteile, auf der Suche nach illegalen Einwanderern. Im Frühling auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle aus der Ukraine stand der Zug schon mal eine Stunde in Frankfurt, heute Abend ist in zehn Minuten alles erledigt. Als dann nach der Wiederanfahrt die deutschen Schaffner kontrollieren, lässt Kerstin halb absichtlich, halb automatisch das Gesicht offen. Der Offizielle hinter seiner textilen Atemhemmung knipst ihren Fahrschein ab und wünscht eine gute Weiterfahrt.

Immer weiter wachsendes Licht kündet schließlich die Ränder der deutschen Hauptstadt an, Friedrichshagen, Köpenick, Adlershof. Nach knapp sechseinhalb Stunden rollt der EuroCity in die Voliere des Hauptbahnhofes ein. Kerstin erhebt sich, reckt die steifen Glieder und hievt ihre neue Reisetasche von Bric’s aus der Gepäckablage. Wohlig ermattet nimmt sie die Stufen aus dem Waggon auf den Bahnsteig, wo auch um die späte Abendstunde ein Team der Bahnhofsmission auf eventuelle Neuankömmlinge aus der Ukraine wartet. Im etwa 600 km weiter östlich gelegenen Warschauer Bahnhof gibt es einen großen Tresen mitten in der Halle, um die Menschen aus der Ukraine nach ihrer Ankunft mit dem Nötigsten zu versorgen. Auch wenn der große Ansturm an Flüchtlingen gegenwärtig abgeebbt ist, bleiben die Schalter besetzt. Wie schön eine Schienenfahrt doch ist, denkt Kerstin, als sie die Treppen Richtung Taxistand hinuntersteppt. Man nähert sich in Echtzeit dem Ziel und wird dabei mit dem Erlebnis der Reise belohnt. Eine gleichzeitige Erfahrung von Raum und Zeit, gerne wieder, bald wieder nach Polen.