Ferrante

„Elena Ferrante“ hat eine zu Herzen gehende Geschichte zweier Frauen geschrieben, nach der sich das Publikum grenzüberschreitend verzehrt. Lila und Elena sind von klein auf beste Freundinnen, Ende des II. Weltkriegs in einem armen Viertel Neapels geboren. Ihr Leben ist bestimmt durch Enge, Gewalt, Kriminalität und die Sehnsucht, zu Geld und Freiheit zu kommen. Die Mädchen entwickeln eine spielerische Konkurrenz: Welche hat die seidigeren Haare, welche menstruiert zuerst, welche ist in der Schule besser? Diese Coming-of-Age-Geschichte wird an dem Punkt brutal, als Lilas Vater seine Tochter nach der Grundschule, wo sie beste Leistungen bringt und zu kühnen Hoffnungen Anlass gibt, in der familiären Schusterei zur Arbeit zwingt. Von nun an ist Lila, „meine geniale Freundin“, vom Lesen, Schreiben, Denken abgeschnitten und muss sich andere Wege überlegen, dem Elend des Rione zu entkommen. Sie heiratet, gerade 16 Jahre alt, einen Lebensmittelhändler, während sie die Bildungslaufbahn ihrer Freundin Elena neidisch-spöttisch verfolgt.

Die ersten beiden Bände der auf vier Titel angelegten Geschichte sind 2016/17 auf Deutsch erschienen und stehen seit Monaten auf den Bestsellerlisten. Die Autorin, die unter dem Pseudonym Elena Ferrante schreibt, kreiert mit ihren Texten einen Sog, den Büchern Karl Ove Knausgårds vergleichbar. Nur ist ihr Milieu nicht die liberale Mittelschicht Norwegens in den 1970er und 80er Jahren, sondern das Proletariat im Italien der Nachkriegsjahre, das so gar nichts mit den Phantasien der Toskana-Fraktion zu tun hat. Hier ist die Gesellschaft ständisch geprägt, der Mezzogiorno abgehängt, die Camorra bestimmt über den sozialen Rang, die katholische Kirche ist eine erbarmungslose Ordnungsmacht, Heilung durch Bildung ist nur eine vage Ahnung. Und doch gelingt Elena genau das, mit unbändiger Disziplin erreicht sie exzellente schulische Leistungen, hat eine sensible Lehrerin, die ihre Begabung fördert, und einen Vater, der ihr nicht im Weg steht, wenn auch die kranke analphabetische Mutter eifersüchtig zu werden beginnt auf den sich weitenden Horizont der Tochter.

Eine schmerzende Dualität: Lila kommt mit der Ehe zu Geld, sitzt aber im sprichwörtlich goldenen Käfig. Ihr Mann schlägt und betrügt sie, ist abhängig von den Camorristi; der Traum von der weiten Welt der Bücher bleibt für sie Fiktion. Elena hingegen macht mit Bravour ihr Abitur und bekommt dank der Fürsprache einer Lehrerin ein Stipendium für Pisa. Sie lässt den verdreckten Rione hinter sich, während die talentierte Lila autodidaktisch zu lernen versucht. Beide Frauen umwerben denselben Mann, Nino, einen schlaksigen Studenten; Elena ist intellektuell, zögernd, schwärmend, Lila geht sinnlich, fordernd und direkt vor. Am Ende verlässt sie ihren Mann für Nino, von dem sie schwanger ist, doch das Glück währt nur ein paar Wochen; sie fällt tief, während Elena langsam, aber zielstrebig in die richtige Richtung geht und vor einer Karriere als Schriftstellerin steht.

Dieser Entwicklungsroman platzt vor Krach und Wucht, die Figuren bis auf die Nebenränge sind scharf gezeichnet, das unbarmherzige Milieu der Armut und Verzweiflung wird wie in einer soziologischen Studie entfaltet, das Gewirr der engen Gassen und armseligen Häuser bleibt düster und stumpf. Speziell dem zweiten Band der „Geschichte eines neuen Namens“ hätte ein straffendes Lektorat gut getan; ellenlang werden Ferien auf Ischia beschrieben, wo die realistische Diktion der Autorin nicht ausreicht, das Dolce Far Niente und die Liebeshändel aufreizend zu beschreiben. Sie protokolliert nüchtern aus der Perspektive Elenas, die als reife Frau ihrer beider Leben über die Jahrzehnte aufhebt. Die Grenzen der Klassen werden à la Pierre Bourdieu subtil markiert durch die Sprache, Kleidung, Feste und Geschmack, was der aufstiegsorientierten Elena in Form einer sozialen Scham in den Räumen des gehobenen Bürgertums, wo sie sich stolpernd bewegt, peinlich bewusst wird. Ihr fehlt die Selbstsicherheit der reich Geborenen, während an ihr der Rione in seiner Härte klebt wie die Farbe ihrer Augen.

Gelegentlich wünscht sich die Leserin mehr reflexive denn deskriptive Passagen der Ich-Erzählerin, die als eine Frau mit Mitte 60 auf ihr Leben zurückblickt. Es ist die Nähe zum Geschehen, die das Märchen der Cinderella des Alltags so fesselnd macht, einer konventionellen Sprache zum Trotz. Der weltweite Erfolg der Romane liegt in der Konsequenz der Autorin, gewöhnliche Dinge im Prozess des Erwachsenwerdens zu Literatur zu machen, Identifikationen anzubieten in der weiblichen Rivalität zwischen Elena und Lila. Die deutsche Leserin hat noch zwei Bände vor sich – und keinerlei Interesse zu erfahren, welche reale Schriftstellerin sich hinter „Elena Ferrante“ verbirgt. Das Ich ist ein/e Andere/r, längst bekannt seit Roland Barthes. Die Erzählung entsteht zweimal, beim Schreiben und beim Lesen. So wirkt das Buch als Verbindung, welch ein Versprechen auf weitere Spannung.