Gens una sumus – Motto der FIDE
Der Weltschachverband FIDE wurde 1924 in Paris während der ersten Schacholympiade gegründet. Er vertritt die Interessen der professionellen Schachspielerinnen und Schachspieler weltweit, führt offizielle Turniere und Matches zur Ermittlung des Weltmeisters durch, verleiht Titel wie den des Großmeisters, bildet Schachschiedsrichter aus und ist maßgebliche Instanz in Regelfragen. Im Zuge der russischen Invasion in der Ukraine hat die FIDE überraschend schnell reagiert: Die für den Sommer dieses Jahres in Moskau geplante Schacholympiade wird nicht in Russland stattfinden, bei offiziellen Turnieren dürfen die Flaggen Russlands und Weißrusslands nicht gezeigt werden, auch sind die Hymnen dieser beiden Länder tabu. Ob mit diesem Schritt, der als klare Verurteilung der Kriegspolitik der Russischen Föderation gewertet werden kann, die Handlungsfähigkeit der FIDE erhalten bleibt, werden die kommenden Monate zeigen.
Die bald 100 Jahre währende Geschichte der FIDE (Fédération Internationale des Échecs) ist voller Höhen und Tiefen. Richtig schlagkräftig wurde sie erst 1947, als die Sowjetunion beitrat und es ihr gelang, den Titel des Weltmeisters auszurichten und ihn damit aus dem bisherigen Privatbesitz des Champions zu lösen (den Titel der Weltmeisterin „besaß“ die FIDE bereits seit 1927). 1972 warf der Ex-Weltmeister Max Euwe als Präsident sein ganzes Prestige in die Waagschale, um das skandalträchtige Match zwischen Boris Spasski und Bobby Fischer in Reykjavik zu retten. 1993 überwarf sich der seinerzeitige Weltmeister Garri Kasparow im Streit über Marketingfragen mit der FIDE und spielte seine Wettkämpfe fortan unter eigener Regie; bis 2006 konkurrierten zwei WM-Titel miteinander. 1995 übernahm mit Kirsan Iljumschinow ein zwielichtiger russischer Oligarch das Amt des Präsidenten, der in Interviews davon sprach, von Ufos entführt worden zu sein und Kontakt zu Aliens gehabt zu haben, und der 2011 während des Krieges in Libyen mit dem Diktator Muhammar al-Gaddafi eine Partie Schach spielte.
Als 2018 Arkadi Dvorkovich zum siebten Präsidenten gewählt wurde, schien der Verband nach über 35 Jahren der Korruption und des Größenwahns à la IOC und FIFA endlich in Richtung Seriosität und Professionalität zu steuern. Der 1972 in Moskau geborene Dvorkovich gilt als liberaler Technokrat und zielstrebiger Reformer, der studierte Ökonom war Präsidentenberater sowie stellvertretender Ministerpräsident Russlands und organisierte federführend die Fußball-WM 2018 in seiner Heimat. Er hat in den bisher vier Jahren an der Spitze der FIDE langfristig orientierte Sponsoren aus der Industrie gefunden, hat die Öffentlichkeitsarbeit der FIDE auf Social Media optimiert, tritt entschieden gegen Günstlingswirtschaft und Kleptokratie an, hat die ehemalige lettische Finanzministerin Dana Reizniece-Ozola als Geschäftsführerin gewonnen und hat den Verwaltungsanteil am Verbandsbudget von 85 auf 35 Prozent gesenkt.
Doch ausgerechnet seine Erfahrung in hohen Regierungsämtern der Russischen Föderation droht Dvorkovich nun im Zuge des Krieges in der Ukraine zum Verhängnis zu werden, ist er doch ein Zögling des ehemaligen Präsidenten Dmitri Medwedew, der wiederum zum engsten Kreis um Vladimir Putin zu zählen ist. Anders als Ex-Weltmeister Anatoli Karpow, der als Duma-Abgeordneter für die Anerkennung der „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk durch Russland gestimmt hat, ist der von Skandalen um seine Person unbelastete Dvorkovich (noch) nicht mit Sanktionen der EU belegt worden; doch allein über seine russische Staatsbürgerschaft droht ihm jetzt eine Kontaktschuld zur politischen Führung im Kreml. Daran dürfte auch der Umstand, dass die FIDE den russischen Großmeister Sergey Karjakin für seine bizarren Äußerungen zum Krieg in der Ukraine auf Twitter vor ihre Ethik-Kommission zitiert, kaum etwas ändern.
Seit dem Ende des II. Weltkriegs war die UdSSR die dominierende Schachnation der Welt, sie stellte fast durchgehend den Weltmeister, die Weltmeisterin und die Olympiasieger. Nach ihrer Auflösung 1991 übernahm Russland ihre Stelle, arg bedrängt von China und den USA, aber auch von weiteren ehemaligen Sowjetrepubliken. So holte Armenien 2006, 2008 und 2012 bei den Herren Olympia-Gold; Georgien gelang dies bei den Damen 1992, 1994, 1996 und 2008. Auch die Ukraine zählt in der postsowjetischen Ära zu den stärksten Schachländern: Mariya Muzychuk war von 2015 bis 2016 Weltmeisterin im klassischen Schach, ihre Schwester Anna holte 2016 den WM-Titel im Schnellschach. Bei den Olympiaden gewannen die Männer der Ukraine 2004 und 2010 Gold, die Frauen bei der Ausgabe von 2006.
Der Wahlspruch der FIDE „Gens una sumus“, sinngemäß „Wir sind eine Familie“, kommt nirgendwo besser zum Ausdruck als bei den Schacholympiaden, wo tausende Spielerinnen und Spieler aus aller Welt zusammenkommen und das Königliche Spiel zelebrieren. Dort sitzt der amtierende Weltmeister Seit an Seit mit einem 1900er-Spieler, dort treffen Millionäre auf Gymnasiasten, dort spielen erwachsene Frauen gegen Mädchen, die ihre Töchter sein könnten, dort sitzen erfahrene Großmeister mit unbekannten Talenten am Brett. Dort spielt Zimbabwe gegen Vietnam, China gegen Frankreich, Indien gegen die USA und eben Russland gegen die Ukraine. Der olympische Geist des Sports schwebt über den Partien, am Ende gewinnt der Beste, Amateure wie Profis erfreuen sich am Spiel und stellen die Figuren auf für die nächste Runde. Dort avanciert Schach, diese unverwüstliche Metapher des Krieges, zu einem begeisternden Spiel über alle Grenzen hinweg.
Die „Familie“ kann dabei „Die Waltons“ bedeuten, aber auch als „Der Pate“ verstanden werden. Der russische Präsident Vladimir Putin scheint als eine Art Mafiaboss die zweite Version zu repräsentieren, wenn er kurzerhand festhält, eine ukrainische Nation sei eine Chimäre, das Land habe seit den Tagen der Kiewer Rus zu Russland gehört – und ausgerechnet der auf der Krim geborene Neo-Russe Sergey Karjakin sekundiert ihm dabei. Dabei löst die russische Invasion des Nachbarlandes bei den russischen Spitzenspielern – und vermutlich auch bei den Kiebitzen – Besorgnis und Entsetzen aus. Auf der russischen Sportwebseite championat.com haben 43 Schachspielerinnen (von Alexandra Kosteniuk bis Polina Shuvalova) und Schachspieler (von Ian Nepomniachtchi bis Peter Svidler) einen mutigen Appell unterzeichnet und veröffentlicht, in dem sie sich gegen militärische Aktionen und für Verhandlungen aussprechen, einen Waffenstillstand fordern und zum Frieden aufrufen. In der riskanten Aktion kommt auch der Begriff „Krieg“ für die Situation im Nachbarland vor, der in den offiziellen russischen Medien auf dem Index steht.
Als Bobby Fischer nach dem legendären Kandidatenturnier 1962 auf Curacao den sowjetischen Teilnehmern Schiebung und Betrug vorwarf, sprach er wegwerfend von den „Russians“, ohne zwischen Estland (Paul Keres), Lettland (Mikhail Tal), Armenien (Tigran Petrosjan), der Ukraine (Efim Geller) und eben Russland (Viktor Korchnoi) zu unterscheiden. Diese unheilvolle Tendenz der Eingemeindung lässt sich noch in der kalten Rhetorik Vladimir Putins beobachten, der mit dem Terminus des „Brudervolkes“ die geplante Eingliederung der Ukraine in die Russische Föderation legitimieren will. Nach der Epochenschwelle 1989/91 wächst allgemein der Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, die frei entscheiden, in welcher Verfassung sie leben und mit welchen Staaten sie Bündnisse schließen wollen. Dieses Recht auf eigene Grenzen gerät gegenwärtig in der Ukraine unter die Ketten der Panzer. Es stünde der FIDE gut zu Gesicht, daran zu erinnern, dass eine Familie über alle Bande aus eigenständigen Mitgliedern besteht, die ihre eigenen Wege gehen und zu Festen sich wieder treffen.
Ex-Weltmeister Garri Kasparow, der bereits 2015 in einem Buch vor einem bevorstehenden Überfall Vladimir Putins auf die Ukraine warnte und mehr Entschiedenheit und Härte des Westens gegenüber dem Kreml forderte, kann sich nicht vorstellen, dass der FIDE-Präsident Arkadi Dvorkovich dauerhaft im Amt bleiben kann. Dazu sei dieser, so Kasparow in einem Interview mit der FAZ, zu sehr kontaminiert vom russischen Regime. Denkbar ist, dass die FIDE als Organisation in die Fliehkräfte des Krieges gerät; die Aufkündigung der Sponsorenverträge mit russischen Unternehmen, die von EU-Sanktionen betroffen sind, hätte dabei lediglich aufschiebende Wirkung. Im laufenden FIDE-Grand-Prix-Turnier in Belgrad nehmen fünf russische Großmeister teil, die unter der Flagge des Weltverbandes antreten müssen. Auch wenn die FIDE einzelne Spielerinnen und Spieler kaum suspendieren wird (was privaten Turnierveranstaltern vorbehalten bleibt), ist ein Teamwettbewerb unter Beteiligung Russlands bis auf weiteres nicht vorstellbar. Ob und wo die Schacholympiade 2022 ausgetragen werden wird, werden die kommenden Wochen zeigen. In welcher Verfassung die FIDE ihren 100. Geburtstag begehen wird, vermag derzeit niemand zu sagen.