Fischer

Auch jene Menschen, die sich nicht für Schach interessieren, werden zumindest von ihm gehört haben. Anfang der 1970er Jahre war Bobby Fischer der unbestritten stärkste Spieler der Welt, im sogenannten Match des Jahrhunderts eroberte er in Reykjavik 1972 den Titel des Schachweltmeisters. Mit seinem energischen wie launischen Auftreten hat Fischer viel zur Popularisierung des Schachs beigetragen, er gilt als sein erster moderner Profi.

Robert James „Bobby“ Fischer wurde am 9. März 1943 in Chicago geboren, seinen Vater hat er nie kennengelernt. Seine Mutter Regina hatte in den 1930er Jahren in Moskau Medizin studiert, sie ernährte ihre Kinder Joan und Bobby alleinerziehend als Krankenschwester. Im Alter von sechs Jahren lernte Bobby, mittlerweile in New York lebend, die Regeln des Schachspiels von seiner älteren Schwester. Er versenkte sich völlig in die Welt der 64 Felder und zählte bereits als Jugendlicher zur Elite der USA. Mit 15 Jahren war er mehrfacher Landesmeister und wurde vom Weltschachbund FIDE mit dem Titel eines Internationalen Großmeisters ausgezeichnet; mit 16 Jahren verließ er die High School ohne Abschluss, da sie ihm nicht dabei helfen könne, Schachweltmeister zu werden.

Dass er dieses Ziel erst mit 29 Jahren erreichte, lag nicht nur an der Stärke seiner Konkurrenten, sondern vor allem an seinem asozialen Charakter. Als junger Mann genoss er den Ruhm, der mit seinen Siegen einherging, zugleich behandelte er Funktionäre, Sponsoren, Journalisten und Kollegen divenhaft beleidigend. Er forderte hohe Antrittsgagen, brach schon mal ein Turnier aus einer Stimmung heraus ab, trat einer obskuren evangelikalen Sekte bei, zog sich für Jahre vom Wettkampfschach zurück und hielt sich trotzdem für den besten Spieler seiner Zeit. 1970ff. trat er dann den Beweis an. Er gewann die Ausscheidungsmatches mit einer bis dahin unbekannten Souveränitat und entriss dem Weltmeister Boris Spasski auf spektakuläre Weise die Krone.

Dieser Triumph wurde zum Auftakt einer Tragödie. Anstatt, wie großspurig angekündigt, ein spielender Champion zu werden, tauchte Bobby unter, lehnte märchenhaft dotierte Werbeofferten ab, spielte keine Turnierpartie mehr und verlor 1975 den Titel wegen Nichtantritts zum Match gegen Anatoli Karpow. Erst 1992 gab er sein Eremitendasein in Kalifornien für ein sportlich belangloses Revanchematch gegen Boris Spasski auf, aus schierem Geldmangel. Da der Wettkampf während des Jugoslawienkriegs in Belgrad ausgetragen wurde, verstieß Fischer gegen die US-Sanktionen und wurde so zum gesuchten Kriminellen. Er vagabundierte durch Asien und meldete sich am 11. September 2001 mit Worten des Jubels über die Anschläge auf das World Trade Center zurück. 2004 wurde er in Tokio verhaftet, weil sein Pass von den US-Behörden für ungültig erklärt worden war. Aus dem schlanken schönen Jüngling im schmalen Anzug war ein verwahrloster dicker Greis in speckigen Jeans geworden. Island gewährte dem Staatenlosen Asyl, er starb am 17. Januar 2008 in Reykjavik an Nierenversagen.

Wer heute noch (zurecht) von Bobby Fischers sagenhaftem Schach schwärmt, kann zu seinem kranken Verhalten nicht schweigen. Kaum ein Spieler in der Geschichte des Schachs hat sich so hemmungslos den 32 Figuren hingegeben. Dabei war Fischer Autodidakt, systematisches Training genoss er nur als Kind, ab und an beschäftigte er Sekundanten zur Unterstützung der Analyse. Er brachte sich Russisch bei, um die wichtigen sowjetischen Zeitschriften zu Eröffnungen lesen zu können. Seine Manie dem Schach gegenüber, die durch ein mutmaßliches Asperger-Syndrom begünstigt wurde, ließ ihn blind für die meist komplexen Zusammenhänge des Lebens werden. So äußerte sich Fischer, wiewohl selbst jüdischer Herkunft, zunächst milde, in späteren Jahren aggressiv antisemitisch. Er las neben den Tarzan-Comics auch Mein Kampf, dieses Buch grandios als seriöse Quelle missverstehend.

Fischers höchste Elozahl von 2785 aus dem Jahr 1972 wurde erst Mitte der 1980er Jahre von Garri Kasparow übertroffen. Am Brett zeichnete er sich durch einen unbändigen Siegeswillen aus, Kurzremisen wie unter Großmeistern üblich, kamen bei ihm kaum vor. Es liegt nahe, Fischers Killerinstinkt während der Partie aus psychoanalytischer Perspektive auf seinen abwesenden Vater und sein verkrampftes Verhältnis zu Frauen zurückzuführen; er schuf bestechende Stellungen am Brett und zielte nach eigener Aussage auf die Zerstörung des Egos seines Kontrahenten. Seine Virtuosität erreichte Fischer im Endspiel, im Umgang mit dem reduzierten Material zeigte sich sein mathematischer Zugang zum Spiel besonders klar. Zahlreiche seiner Endspiele sind zu Klassikern der Lehrbücher geworden, seine Gewinnführung wird von heutigen Computern bestätigt.

Der Mythos Fischer lebt nicht zuletzt vor der Folie des Kalten Krieges. Er wurde zum einsamen Kämpfer politisiert, der sich einer ganzen Armee entgegenstellte. Seit dem II. Weltkrieg war die Sowjetunion die überlegene Schachnation mit Frühförderung in den lokalen Pionierpalästen, sie stellte aus ihrem unerschöpflichen Reservoir bester Spieler und Spielerinnen stets den Weltmeister und die Weltmeisterin. Seinen sowjetischen Gegnern, die er durchgängig als „Russians“ abqualifizierte, unterstellte Fischer mehrfach Schiebung, Intrige und Verschwörung, mit der legendären Ausnahme beim Kandidatenturnier auf Curacao 1962 grundlos. In einem Interview befand er, die WM-Partien zwischen Garri Kasparow und Anatoli Karpow in den 1980er Jahren seien samt und sonders arrangiert, gegen ihn hätten die beiden „Agenten“ ohnehin keine Chance.

Diese Paranoia hat etwas Rührendes, lässt sie sich doch als Sehnsucht nach Aufmerksamkeit verstehen. Im Schach hat Fischer den Olymp erklommen, ohne hier zu Ruhe und Frieden zu gelangen – wohl deshalb, weil er nichts anderes hatte, das seinem Leben Sinn und Struktur gegeben hätte. Als er im Alter von 64 Jahren starb, schien er das gestörte Kind geblieben, das im Selbstgespräch des Spiels aufgeht. Im Schach des 21. Jahrhunderts hätte Bobby keinen Platz mehr. Die bipolare Welt ist vergangen, neben Russland und den USA dominieren Indien und China, die Ukraine und Polen, dank Internet und Datenbanken blühen Talente in der kasachischen Steppe wie im persischen Souk. Zudem sind die heutigen Profis wohlerzogen und international medienkompatibel; für sie ist das Schach ein einträglicher Job, für Fischer war es tödlicher Ernst.