Gemäß der Verfassung von 1993 ist das postsowjetische Russland eine Präsidialdemokratie. Der Präsident wird vom Volk direkt gewählt, ebenso die Abgeordneten der Duma, des Unterhauses. Die zweite Kammer des Parlaments, der Föderationsrat, wird bestückt mit Vertretern der Teilrepubliken, der Regionen, der oblasti und der großen Städte. Dem Staatsoberhaupt, das die Leitlinien der Innen-, Außen- und Sicherheitspolitik bestimmt, kommt in diesem System eine Machtfülle à la Bonaparte zu. Seit dem Amtsantritt Wladimir Putins im Jahr 2000 befindet sich Russland nach Ansicht vieler Beobachter auf dem Weg in eine Diktatur. Die Journalistin Masha Gessen diskutiert in ihrem neuen Buch, wie nach dem Kollaps der UdSSR „Russland die Freiheit gewann und verlor“.
Masha Gessen wurde 1967 in Moskau geboren. 1981 wanderte ihre Familie in die USA aus; sie studierte einige Semester Architektur und begann als Journalistin zu arbeiten. 1994 kehrte sie nach Russland zurück und schrieb von Moskau aus für russische und amerikanische Medien, 2013 remigrierte sie wegen der homophoben Gesetzgebung der russischen Regierung mit ihrer Frau und den Kindern nach New York. Die jüdische linksliberale Autorin hat neben dem russischen auch den US-Pass, sie publiziert weiter zur russischen Politik und Kultur, etwa im New Yorker. Für ihr Buch „Die Zukunft ist Geschichte“ wurde sie 2019 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet.
Gessen stellt die Frage, wie es nach dem Ende der Sowjetunion, das den Genossen des untergegangenen Imperiums bislang unbekannte persönliche und politische Freiheiten brachte, im neuen Russland zur Restauration einer autoritären Ordnung kommen konnte. Im US-Original des Buches spricht sie davon, „how Totalitarianism reclaimed Russia“. Sie lässt beispielhaft vier Personen (und deren Familien) erzählen, die Mitte der 1980er Jahre als Kinder des Übergangs geboren wurden. Zusätzlich zitiert sie aus den Erinnerungen eines hohen Kaders, eines Meinungsforschers und einer Psychoanalytikerin. In der Summe legt Gessen einen Hybriden aus fact und fiction vor: Sie präsentiert die parallel montierten Geschichten ihrer Gesprächspartner (m/w/d) in Romanform, reichert sie mit Daten zur jüngeren russischen Geschichte an und deutet diese vor der Folie der Totalitarismus-Theorie Hannah Arendts.
Die seelischen Defekte des Homo Sovieticus, dem „der Glaube an den paternalistischen Staat und die völlige Abhängigkeit (…) in die Wiege gelegt (wurden)“, rekonstruiert Gessen entlang der Neufassung des akademischen Lebens nach 1991. Während die Ingenieurs- und Naturwissenschaften mit ihrer Verwertbarkeit für die Industrie, die Landwirtschaft, das Militär und die Raumfahrt in der Sowjetunion großzügig gefördert wurden, verkümmerten die Geistes- und Sozialwissenschaften. Zur Erklärung gesellschaftlicher und historischer Prozesse wurde die Ideologie des Marxismus-Leninismus herangezogen, an einer empirisch arbeitenden Soziologie oder Politologie bestand ebenso wenig Bedarf wie an einer reflektierenden Philosophie oder Psychologie. Mangelnde Fremdsprachenkenntnisse selbst der Elite und eine Abschottung gegenüber dem kapitalistischen Ausland standen einer Beteiligung am internationalen wissenschaftlichen Diskurs zusätzlich im Wege.
Analog zur weißrussischen Autorin Swetlana Alexijewitsch mit ihrer dramaturgisch verfremdeten Prosa der oral history zum Leben auf den Trümmern des Sozialismus lässt Gessen etliche Personen mit ihren Erfahrungen zu Wort kommen, um ein detailliertes Bild der Transition vom Plan zum Markt zu zeichnen. Allerdings spricht Gessen bevorzugt mit urbanen, westlich orientierten Intellektuellen und privilegierten Abkömmlingen der Nomenklatura; einfache Menschen, Repräsentanten der Mehrheit der Bevölkerung kommen in diesem Chor nicht vor. Darin liegt die methodische Schwäche des Buches, das ignoriert, dass es in Russland weiterhin eine deutliche Zustimmung für Wladimir Putin gibt, die nicht allein durch Personenkult und Propaganda zu erklären ist.
Putin hat sich gleich zu Beginn seiner Amtszeit großen Respekt im Volk erworben, als er den Einfluss der Oligarchen aus der Jelzin-Ära auf die Politik abstellte, wenn auch mit rechtsstaatlich fragwürdigen Mitteln. Bereits in seiner Probezeit als Ministerpräsident 1999 konnte er sich als erbarmungsloser Kämpfer gegen tschetschenische Terroristen profilieren. Des Weiteren knüpfte er an hohe sowjetische Feiertage an wie den Tag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg und reanimierte dergestalt die beschädigte Identität Russlands. Zum Glück für ihn stieg das Konsumniveau in den 2000er Jahren stetig, breiten Schichten wurden Autos, Unterhaltungselektronik, Markenkleidung und Urlaubsreisen zugänglich – politische Loyalität gegen die Befriedigung materieller Bedürfnisse.
Offensichtlich gelingt es dem ehemaligen Chef des Geheimdienstes FSB, den Bürgern, die die 1990er Jahre mit der unkontrollierten Privatisierung der Staatskonzerne, verbreiteter Kriminalität, hoher Arbeitslosigkeit und Inflation als Trauma erlebt haben, ein hegendes Gefühl der Sicherheit und Stabilität zu geben – um den Preis der Friedhofsruhe eines Polizeistaates. Dass er sich dabei eines aggressiven Nationalismus bedient, mit seinen Kritikern gewaltsam umspringt und ehemaligen Sowjetrepubliken mit Krieg droht, scheint die Mehrheit der Russen (m/w/d) resigniert zu ertragen. Die offizielle Hetze gegen Schwule, Lesben und Transgender, die in einem absurden Gesetz gegen „homosexuelle Propaganda“ kulminiert, passt in das Muster der Demonstration patriarchaler Stärke, die auch als Abkehr von Europa zu verstehen ist.
Masha Gessens Interviewpartner tun es der Autorin gleich: Sie verlassen ihr Land, in dem sie keine persönliche Zukunft mehr sehen. Offen bleibt, was nach 2024 passieren wird, wenn Putins vierte Legislatur im Kreml endet. Wird eine erneute Rochade zwischen Dmitri Medwedew und ihm die Stagnation der „erstickten Demokratie“ (Manfred Hildermeier) verlängern, oder wird ein postsowjetischer Mikhail Gorbatschow mit einer Perestroika 2.0 das weite Land von den Nachwehen des imperial overstretch befreien? Vielleicht muss eine komplett neurussisch sozialisierte Generation an die einflussreichen Stellen der Gesellschaft geraten, um mit der unterstellten Tradition der Sehnsucht nach einem starken Staat zu brechen. Dann hätte Russland womöglich eine zweite Chance auf den Gewinn der Freiheit – es wäre ein Novum in der Geschichte des Riesenreiches.