Franziska

Gibt es eine sozialistische Stadt? Natürlich, wenn man in die Geschichte der Sowjetunion und des Sojus blickt. Gibt es auch sozialistische Wünsche der Bewohner einer sozialistischen Stadt? Schon schwieriger zu beantworten. Vermutlich gibt es konstante menschliche Bedürfnisse nach Sicherheit, Beständigkeit, Übersichtlichkeit und Komfort, deren Befriedigung indirekt von Architekten und Stadtplanern erwartet wird. Den Konflikt zwischen Ideal und Wirklichkeit des Bauens schildert der Roman „Franziska Linkerhand“ der Autorin Brigitte Reimann, der 1974 erstmals veröffentlicht wurde. Das öffentliche Bauen kann ob seiner Dauerhaftigkeit nicht aus seiner Verantwortung für das Wohlergehen und die Gesundheit der Menschen entlassen werden, kann man doch einen Wohnblock, eine Industrieanlage oder eine Chaussee nicht einfach übermalen wie eine Parole.

Brigitte Reimann wurde 1933 als ältestes von vier Kindern in Burg bei Magdeburg geboren. Nach dem Besuch der Oberschule und dem Abitur arbeitete sie zunächst als Lehrerin, bevor sie sich der Schriftstellerei zuwandte. Bereits 1955 veröffentlichte die Erzählung „Der Tod der schönen Helena“, kurz darauf unterschrieb sie eine Erklärung zur Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit. Voller Zweifel über diese unbedachte Entscheidung sprach sie vor dem Magdeburger Schriftstellerverband von einer Dekonspiration und wurde in der Folge selbst vom MfS beobachtet. Bekannt wurde sie mit der Erzählung „Ankunft im Alltag“ von 1961; zu dieser Zeit lebte sie bereits in Hoyerswerda, wo sie im Kombinat Schwarze Pumpe arbeitete. Sie repräsentierte den sogenannten Bitterfelder Weg, nach dem Schriftsteller und andere Intellektuelle in der Produktion Erfahrungen sammeln sollen, um das Leben in der jungen DDR literarisch abbilden zu können. 1968, dem Jahr des Umzugs nach Neubrandenburg, verlor sie die rechte Brust an den Krebs. Brigitte Reimann, die viermal verheiratet war, ohne je ein Kind geboren zu haben, starb 1973 nach langer Krankheit in Berlin. Ihre letzte Ruhestätte fand sie schließlich auf dem Friedhof ihrer Geburtsstadt.

Brigitte Reimann wurde posthum berühmt durch ihren Roman „Franziska Linkerhand“, der 1974 auf Basis des leicht gekürzten Manuskriptes erschien und 1998 erneut aufgelegt wurde, dieses Mal ohne Streichungen. Der unvollendet gebliebene Roman, an dem die Autorin mit Unterbrechungen zehn Jahre gearbeitet hatte, schildert den Berufsalltag einer jungen Architektin, die im fiktiven Neustadt (eine Chiffre für Hoyerswerda) beim Aufbau einer sozialistischen Stadt mithelfen will. Sie ist „berauscht von dem Verlangen, mich zu behaupten und Häuser zu bauen, die ihren Bewohnern das Gefühl von Freiheit und Würde geben, die sie zu heiteren und noblen Gedanken bewegen“. Doch in der Realität muss sie sich mit starren politischen Vorgaben aus der Hauptstadt herumschlagen, in möglichst kurzer Zeit billigen Wohnraum für die Arbeiter des benachbarten Kombinats zu errichten, immer im Kampf mit fehlendem Material, ausfallenden Maschinen und mangelhaft ausgebildeten Bauarbeitern.

Es bleibt keine Zeit für städtebauliche Experimente oder Utopien, gar für Zierrat, Ambiente und Dekor. Vor allem, so wird es Franziska Linkerhand rasch klar, werden die Bewohner der großen Werksiedlungen nicht nach ihren Wünschen und Bedürfnissen gefragt. Die 1960er Jahre, in denen der Roman angesiedelt ist, sind der Trümmerlandschaften der Nachkriegszeit entronnen, die neuen sozialistischen Städte, zu denen Neustadt aka Hoyerswerda zählt, werden am Reißbrett auf der grünen Wiese entworfen und mit vorab zentral hergestellten Elementen auf der Baustelle montiert; hier beginnt die serielle Produktion von Häusern und Wohnungen, die in der Sowjetunion unter Nikita Chruschtschow ihren Anfang nahm und in den Ländern des Ostblocks zum monotonen Standard wurde. Wie man spätestens in der historischen Rückschau erkennt, führte das zu einer Gesichtslosigkeit der Städte, die in Ungarn, Rumänien, Russland, Polen und eben der DDR gleichermaßen trist aussehen.

Vom Vorzeigeprojekt der Stalinallee, an der opulente Wohnpaläste mit allem erdenklichen Komfort, Infrastruktur und Freizeiteinrichtungen für die Arbeiter entstehen sollten, hatte sich die DDR-Führung längst verabschiedet, nun wurden in Heiner Müllers bitterer Diktion „Fickzellen mit Fernheizung“ eingerichtet. Ein bereits resignierter Kollege empfängt Franziska Linkerhand im Büro mit den Worten: „Was Sie hier sehen, meine Freundin, ist die Bankrotterklärung der Architektur. Häuser werden nicht mehr gebaut, sondern produziert wie eine beliebige Ware, und an die Stelle des Architekten ist der Ingenieur getreten.“ Und weiter: „Wir sind Funktionäre der Bauindustrie geworden, für die Gestaltungswille und Baugesinnung Fremdwörter sind, von Ästhetik ganz zu schweigen.“ Dass Franziska ihre Ausbildung bei einem berühmten Architekten der Akademie erhalten hat, der nun das Gewandhaus in Leipzig baut, macht es ihr im Kollektiv nicht leichter, hier ist die Serie gefragt, nicht der Solitär.

Formal ist der Roman durchaus avantgardistisch zu nennen. So sind weite Passagen des Textes in der Ich-Form erzählt, andere hingegen aus der Sicht einer allwissenden Erzählerin. Detaillierte Beschreibungen der Natur wechseln sich ab mit lebhaften Dialogen, die ohne weiteres für ein Theaterstück verwendet werden könnten. Immer wieder kommt es zu zeitlichen Rückblenden, wobei selbst der Autorin der Überblick verloren zu gehen droht, erst recht, wenn der Liebhaber der Heldin direkt angesprochen wird. Hier wird deutlich, dass der Text keinem ordnenden Lektorat unterzogen wurde und wohl aus Respekt vor der verstorbenen Autorin in der Fassung von 1998 ohne Eingriff publiziert wurde, gewissermaßen als vollständige Edition. Im Zentrum steht Franziska, die höhere Tochter aus einem angesehenen Verlegerhaushalt, deren Eltern aus Enttäuschung über den Sozialismus der DDR noch vor dem Mauerbau in den Westen gehen und ihrer Tochter neben einer umfassenden humanistischen Erziehung ihren Geschmack, gute Manieren und ihren Willen hinterlassen.

In einer Auseinandersetzung mit einem Kollegen, der sie nebenbei als schöne Frau umgarnt, drängt sie auf das „Abenteuer, ein Wagnis, von dem die großen Architekten geträumt haben: eine neue Stadt bauen, ein paar hundert Hektar Land, auf denen man eine städtebauliche Idee verwirklichen kann“. Und sie hält ihm vor, kapituliert zu haben, was er nicht einmal bestreitet. Als sie insistiert und ihn fragt, warum er Architekt geworden sei, bleibt er ihr die Antwort schuldig; er mokiert sich in Gedanken vielmehr über ihre Hingabe an den Beruf, die im Alter von 25 Jahren Frauen eine zusätzliche Attraktivität verleihe, sie mit 40 aber unausstehlich mache. Stattdessen spielt er auf Franziskas eigenwilligen Reiz einer jung geschiedenen Frau an, zusammen schlafen werden sie natürlich auch. Zwischen den Zeilen des Manuskripts wird, für geübte Leser, leise Kritik am Alltag der DDR geübt, etwa an den lebensfernen Beschlüssen des Politbüros mit seinen Verbindlichkeiten für die Architekten vor Ort.

Franziska beginnt sich an das öde Leben in der Provinz anzupassen, sie nimmt die störrischen Launen ihres Vorgesetzten hin und improvisiert nebenbei. Sie richtet auf Eigeninitiative eine Beratungsstelle für junge Familien ein, um zu erfahren, was für Wünsche die Menschen haben. Sie wollen neben einer guten medizinischen Versorgung und einem breiten Angebot an Lebensmitteln ein Kino, einen Ort zum Tanzen, regelmäßige Busverbindungen, etwas Grün zum Erholen. Gleichzeitig muss sie auf Geheiß der Bauleitung alte Bäume fällen und unter der Hand genutzte Schuppen abreißen lassen, die neue Stadtplanung liebt den rechten Winkel und vertreibt das Kopfsteinpflaster, die autogerechte Stadt wird auch im Ostteil Deutschlands zu einer Bedrohung allen menschlichen Lebens, wenn auch mit 30 Jahren Verzug. Die Suizide in der sozialistischen Mustersiedlung sind ein Tabu, es kostet Franziska enorme Mühe, unter der Hand die Zahlen, die ihre Vermutungen bestätigen, zu erhalten.

Nun gibt es in der Geschichte der Architektur nur wenige, die den Petersdom oder die Eremitage entwerfen und auch noch bauen können. Welcher Stadt- und Verkehrsplaner vermag schon wie Haussmann oder Hobrecht eine ganze Stadt während des laufenden Betriebes vom Kopf auf die Füße stellen oder wie Niemeyer sein Brasilia komplett in den gerodeten Dschungel pflanzen? Kaum einem Baumeister ist es vergönnt, für einen reichen Industriellen eine ausladende Villa auf einem Riesengrundstück mit exklusivem Seezugang zu planen und zu errichten. Die meisten Architekten entwerfen nicht, sondern zeichnen mit Akribie Schnitte, Aufrisse und Axonometrien, vor und mit AutoCAD und BIM. Hierbei muss das ausführende Büro die laufenden Kosten im Blick haben, alle Vorschriften stets beachten, verschiedene Gewerke orchestrieren und stets den Zeitplan einhalten.

Das ist für Franziska nicht anders, nur dass ihr Auftraggeber der Staat ist und sie dessen Bürokratin. Auch gilt es keine Ausschreibungen im freien Wettbewerb zu gewinnen, vielmehr kommen auch hier die Vorgaben von der politischen Spitze, die sich überdies in einem dauernden Systemstreit mit dem Westen sieht. Da bleibt der Architektin nur die Rolle als „Rädchen, funktionierend, weil verzahnt mit anderen Rädchen, bescheiden und zuverlässig, keinesfalls befugt, ins Getriebe zu greifen“. Sie wird für ihre Akkuratesse und ihren Eifer gelobt, auch für ihre Fähigkeiten auf der Baustelle. Als alleinstehende Frau hingegen wird sie argwöhnisch beäugt, die Frauen sehen sie als Konkurrentin, die Männer als Beute; das gilt auch für ihren väterlichen Vorgesetzten, der ihre sonntäglichen Spaziergänge in der überschaubaren Stadt süffisant kommentiert: „Sie schließen schon Bekanntschaften?“

„Franziska Linkerhand“ wurde nach seinem Erscheinen als ein Werk der Ankunftsliteratur der DDR etikettiert, tatsächlich beschreibt es eine junge Frau auf dem Weg zu ihrem Platz in der Gesellschaft, beruflich, privat und auch politisch. Unter der Haut ist es ein Roman über die intendierten wie überraschenden Auswirkungen des Bauens auf das alltägliche Leben der Menschen. Als eines Nachts ein Mädchen von einer Rotte Kerle vergewaltigt wird und lange vergebens um Hilfe schreit, greift niemand ein, alle hören angestrengt weg. Weil es zu wenig Licht auf dem Trottoir gibt, weil die Hochhäuser Anonymität fördern und die Menschen vereinzeln, weil die Straße weiter den Männern gehört, so Franziskas Fazit. Ihre Arbeit stellt die richtigen Fragen, auch wenn sie selbst keine befriedigenden Antworten geben kann. Das macht den Roman auch annähernd 50 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung wuchtig und fesselnd, als historisches Zeugnis wie als Parabel.