Frauenschach

Im Sport wird es seit jeher als eine Selbstverständlichkeit begriffen, unterschiedliche Wettbewerbe für Männer wie für Frauen auszurichten. Ob nun Langstreckenlauf oder Turnen, Volleyball oder Stabhochsprung – stets wird bei Olympia und bei Weltmeisterschaften das Geschlecht der Athleten als differierende Kategorie behandelt. Männer gelten gemeinhin als zu kräftig, zu schnell oder zu ausdauernd, als dass es fair wäre, wenn Frauen sich mit ihnen messen müssten. Die maskulinen Vorteile werden auf ein relatives Mehr an Muskelmasse bezogen auf das Gewicht zurückgeführt, auf ein größeres Atemvolumen, bessere Hebelverhältnisse der Gliedmaßen zum Körperschwerpunkt und auf einen Überschuss an Testosteron, angeblich verantwortlich für Zielstrebigkeit und Regeneration gleichermaßen. Selbst bei der Steuerung von Sportgeräten wie beim Segeln gibt es die Geschlechtertrennung, lediglich beim Reiten tritt eine Equipe ohne Ansehen des Geschlechtes an.

Vor diesem Hintergrund sollte Schach, das als eine Legierung aus Wissenschaft, Kunst und Sport definiert werden kann, das ideale geschlechtsübergreifende Spiel sein, kommt es hier beim Umgang mit den jeweils 16 Steinen auf den 64 Feldern primär auf geistige Leistung an, zu der Männer wie Frauen vollumfänglich imstande sind. Und doch lassen sich im Spitzenschach eklatante Leistungsunterschiede zwischen Männern und Frauen beobachten, für die es prima vista keine schlüssige Erklärung gibt. In der Weltrangliste, die die Spielstärke der Aktiven anhand der Resultate gegen andere misst, taucht die erste Frau auf Rang 82 auf, die zweite folgt auf Platz 205. Turniere der Weltklasse sind fast immer ein männliches Refugium, bei den Schach-Olympiaden treten pro Land zwei Teams an, eines im Bereich der Frauen, eines im sogenannten Open, wo theoretisch Frauen mitspielen können. Faktisch hat das lediglich die Ungarin Judit Polgar getan, die zu ihren besten Zeiten auf Rang 8 der Weltrangliste notierte und 2005 beim (Männer-)WM-Turnier teilnahm.

Diese kolossalen Leistungsunterschiede treten selbst in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion auf, wo Schach bereits den Kleinsten beigebracht wird und wo im Grundschulalter Mädchen wie Jungen gleichauf spielen. Die krasse Trennung scheint um die Pubertät herum stattzufinden, wo viele Mädchen andere Interessen entwickeln und weniger Zeit für das Schach investieren als Jungen. Wenn sie dann als junge Erwachsene das Spiel wieder entdecken, sind sie oft allein im Verein unter lauter Männern, was allein atmosphärisch nicht sonderlich einladend wirkt. Hinzu kommt, dass die Preise, die es bei reinen Frauenturnieren und -wettkämpfen zu gewinnen gibt, deutlich bescheidener sind als jene im Open-, also Männerbereich, wohin aber die wenigsten Frauen eingeladen werden. Als zusätzliche „Hürde“ wird die Schwangerschaft genannt, die eine werdende Mutter für längere Zeit aus dem professionellen Training herausnimmt. Der Weltschachbund FIDE verleiht neben dem „echten“ Titel eines Großmeisters auch einen solchen (minderen) für Frauen.

Judit Polgar, Jahrgang 1976, ist die immer wieder zitierte Ausnahme dieser Regel, nach der Frauen für das Spitzenschach nicht „geeignet“ seien. Der ehemalige Weltmeister Garri Kasparow, für viele Kiebitze der beste Spieler der Schachgeschichte, verstieg sich zur Aussage, Frauen fehle es an notwendiger Aggressivität, um im Schach ganz nach oben zu kommen – gegen Judit hat auch er einmal verloren. Judit Polgar erhielt wie ihre beiden älteren Schwestern Zsuzsa und Zsófia Heimunterricht von den Eltern ohne Schulbesuch; anders als ihre Schwestern spielte sie nur in der Jugend bei Frauenwettbewerben und wurde so nie Weltmeisterin. Nach eigener Aussage spielte sie ausschließlich gegen Männer, um sich mit den Besten zu messen. Heute engagiert sich die Mutter zweier Kinder für den Schachunterricht an der Schule, ist eine gefragte Kommentatorin bei Turnieren und trainiert die ungarische Nationalmannschaft.

Etliche Spitzenspielerinnen scheinen sich anders als die Männer beruflich breiter aufzustellen und nehmen andere Dinge neben den 64 Feldern wahr. So studierte die Chinesin Hou Yifan, Jahrgang 1994, die das erste Mal im Alter von 16 Jahren Weltmeisterin wurde und mehrfach beim Traditionsturnier in Wijk aan Zee antrat, Internationale Beziehungen in Peking und Oxford. Sie ist seit Juli 2020 ordentliche Professorin an der Universität Shenzhen, als Dozentin für Sporterziehung leitet sie das Schachprogramm des Instituts. Die Litauerin Viktorija Cmilyte-Nielsen, Jahrgang 1983, nahm als junge Mutter an internationalen Turnieren teil; parallel studierte sie englische Philologie in Siauliai und Riga. Seit 2016 ist sie Mitglied des litauischen Parlamentes, seit 2019 Vorsitzende der konservativ-liberalen Partei LRLS, nach der Parlamentswahl 2020 wurde sie zur Parlamentspräsidentin gewählt. Viktorija Cmilyte-Nielsen ist mit dem Dänen Peter Heine Nielsen verheiratet, dem Sekundanten des Weltmeisters Magnus Carlsen.

Überhaupt scheint die Politik ein Feld zu sein, für das das Schach eine gute Vorbereitung abgibt. Die Lettin Dana Reizniece-Ozola, Jahrgang 1981, die regelmäßig in der deutschen Frauenbundesliga spielte, studierte Übersetzungswissenschaften in Ventspils. Von 2010 bis 2021 war sie Mitglied des lettischen Parlamentes für das Bündnis der Grünen und Bauern, von 2014 bis 2016 war sie Wirtschaftsministerin, von 2016 bis 2019 schließlich Finanzministerin ihres Landes. Seit Januar 2021 ist die Mutter vierer Kinder Geschäftsführerin des Weltschachbundes FIDE. Die Bulgarin Antoaneta Stefanowa, Jahrgang 1979, war von 2004 bis 2006 Schachweltmeisterin. Sie kämpfe einfach gern am Brett, erzählte sie in einem Interview. Sie erhielt 2009 eine Auszeichnung der Academy of Economics, Svishtov; bei der Parlamentswahl im April 2021 wurde sie für die Partei Ima Takaw Narod (2020 gegründet, populistisch, anti-elitistisch, pro-europäisch) in die bulgarische Nationalversammlung gewählt.

So ideal geschlechtsneutral scheint Schach als Kulturtechnik doch nicht zu sein. Frauen mögen in der Breite nicht die absolute Spielstärke erreichen wie Männer, dafür spielen sie am Brett deutlich riskanter und unternehmungslustiger, was sich in der höheren Quote entschiedener Partien zeigt. Ein divenhaftes, launisches, gar beleidigendes Verhalten gegenüber Organisatoren, Sponsoren, Journalisten und Kontrahentinnen ist nicht bekannt; keine Schachspielerin hat etwa die peinlichen Eskapaden eines Bobby Fischer nachgeahmt. Anna Muzychuk, Jahrgang 1990, zeigte sich allerdings anlässlich der Schnellschach-WM im saudi-arabischen Riad 2017 politisch konsequent: Die Titelverteidigerin aus der Ukraine trat nicht an, weil sie die Bedingungen, unter denen Frauen in dem erzkonservativen islamischen Land zu leben, sich zu kleiden, zu äußern und zu bewegen haben, nicht akzeptieren wollte, auch um den Preis des Verlustes einer Menge Geld. Und wenn Frauen beruflich in die Politik gehen, dann offenbar mit dem Willen und der Fähigkeit zu Kooperation und Kompromiss. Von Garri Kasparow hingegen heißt es, dass er die Organisationen, die er gründe oder denen er vorsitze, zerstöre; bei seiner Fehde mit der FIDE in den 1990er Jahren und seinem Engagement in der russischen Innenpolitik in den 2000er Jahren hat er sich nur Feinde geschaffen und einen Scherbenhaufen hinterlassen. Sein langjähriger Rivale Anatoli Karpow verhält sich gegenüber dem Regime Putin geschmeidiger, der Lohn dafür ist ein Sitz in der Duma, dem russischen Parlament.

Schach ist fraglos ein Sport, der den Körper pflegt und fordert, in dem ein gesunder Geist arbeitet. Die ehemalige Weltmeisterin Nona Gaprindaschwili aus Georgien, Jahrgang 1941, sagte einmal, das stundenlange Stauen körperlicher Energie während einer Partie sei ebenso anstrengend wie deren Verbrauch. Gerade in kritischen Situationen ist eine kontrollierte Körpersprache wichtig, die der Gegnerin keine Schlüsse über die eigene Gefühlswelt zulässt. Wer heute auf professionellem Niveau Schach spielt, muss nicht nur seinen Geist und sein Gedächtnis trainieren, sondern auch seinen Körper; manche Spieler schwören auf Yoga, andere gehen regelmäßig Schwimmen, wieder andere sind begeisterte Läuferinnen. Die Lebenszeit für beste Leistungen am Brett scheint über die Jahrzehnte konstant zwischen Anfang 20 und Mitte 30 zu liegen. Die Zahl der Raucher unter den Topspielern ist verschwindend gering, ein Alkoholiker auf dem Weltmeisterthron wie Mikhail Tal Anfang der 1960er Jahre wäre heute undenkbar. Männer wie Frauen werden heute im Schach auch als physisch wahrgenommen. So wurde Magnus Carlsen Anfang der 2010er Jahre als Model für eine Modemarke gebucht, seine körpernah geschnittenen Anzüge formen seinen trainierten Körper mehr, als sie ihn kleiden. Alexandra Kosteniuk, Jahrgang 1984, russische Weltmeisterin von 2008 bis 2010, spielt mit ihrem Image einer schönen und klugen Schachkönigin – sie posiert als Model für Kleider und Juwelen, gleichzeitig erscheint sie auf dem Titel der amerikanischen Vogue und gilt als Vorbild für junge Mädchen, gerade auch als Mutter einer Tochter.

Viele ehemalige Spitzenspielerinnen und -spieler setzen sich dafür ein, dass Schach an Schulen gelehrt werde; das Spiel gilt nicht nur als Selbstzweck, sondern auch als förderlich für die langfristige Planung, für Geduld, für Entscheidungsfindung und Frustrationstoleranz, allesamt Tugenden, die im sozialen und beruflichen Leben wichtig sind. Neben dem diskutierten sportlichen Zugang zum Schach gibt es den mathematischen, der auf Berechnung ganzer Zugfolgen setzt und auf algorithmisches Schließen; weiter gibt es den künstlerischen, der sich an der Ebenmäßigkeit der Figuren erfreut und der die Schönheit einzelner Mattmanöver im Mittelspiel ebenso genießen kann wie den Zugzwang im Endspiel. Ein solch holistischer, ja sinnlicher Zugang zum Schach sollte Kinder jedweden Geschlechtes ansprechen. Auf dem Brett bei einer gelungenen Partie bekommen sie ein Abbild des sonst abstrakten Geistes; wenn schon das Denken selbst nicht sichtbar wird, so doch seine Früchte. Und da Mädchen im Schnitt die besseren Leistungen in der Schule erbringen, sollte eine Frühförderung an der Schule dazu beitragen können, die Geschlechterlücke im Schach zu schließen, zumindest zu verringern.

Die erste Weltmeisterin Vera Menchik-Stevenson, die 1944 bei einem deutschen Bombenangriff auf London ums Leben kam, wurde seinerzeit von ihren männlichen Kollegen nicht ernstgenommen; diese gründeten einen nach ihr benannten Club, der verspottend jene aufnahm, die gegen sie verloren hatten. Solch offener Sexismus ist heute am Brett, online und im Turniersaal passé; allerdings haben Schachspielerinnen, ob nun Amateurinnen oder Profis, allein schon ob ihrer geringen Zahl den Status einer Exotin. Der phänomenale Erfolg der Netflix-Serie „The Queen’s Gambit“ vom Herbst 2020 beruht ja auf dem Erfolg der Protagonistin Beth Harmon, die sich in den 1960er Jahren in einer Männerdomäne durchsetzt und (fiktiv) den WM-Titel erobert. Die beiden bevölkerungsreichsten Länder der Welt, China und Indien, investieren schon seit Jahren Geld, Zeit und Ideen, um Schach systematisch den Kindern beizubringen und ihm die Aura des Nerdigen zu nehmen. Die ersten Medaillen bei Schach-Olympiaden wurden längst gewonnen, bei der Weltmeisterschaft der Frauen wechseln sich China, Russland und die Ukraine auf dem Thron ab. Die harte Auslese der Besten führt womöglich zur Mitte des Jahrhunderts dazu, dass eine Frau Weltmeisterin aller Geschlechter wird. Wer eine KI programmieren oder ins All fliegen kann, kann auch mattsetzen. Denn Schach ist cool, smart und sexy.