Freinde

Mit Beginn des Kalten Krieges wurde die Sowjetunion zum stärksten Land im Schach. In den 1950er Jahren trat eine Generation von Schachspielern auf den Plan, die gleich drei nachmalige Weltmeister stellen sollte. Der US-Autor Andrew Soltis erzählt in seinem neuen Buch die Geschichte der herausragenden Großmeister Mikhail Tal, Tigran Petrosian, Boris Spasski und Viktor Korchnoi als parallele Montage aus Kooperation und Konkurrenz.

Die vier Genannten erlebten den II. Weltkrieg als Kinder respektive als Jugendliche, ab Mitte der 1950er Jahre gehörten sie zur Creme des sowjetischen Schachs. Tigran Petrosian (1929 – 1984), Viktor Korchnoi (1931 – 2016) und Boris Spasski (geboren 1937) stammten aus armen Familien und überlebten den Krieg unter Hunger und Krankheiten, lediglich Mikhail Tal (1936 – 1992) wuchs in einer kultivierten Intellektuellenfamilie heran und verbrachte die Kriegsjahre in sicherer Evakuierung am Ural. Die Lebenswege dieser unterschiedlichen Männer sind je für sich oft erzählt worden, Andrew Soltis vereint sie zu einem Generationenportrait. Dazu rekurriert er auf die Autobiografien der Spieler, die einschlägigen schachhistorischen Darstellungen und auf englisch- wie russischsprachige Schachzeitschriften.

Seine Synopse hat ihre Berechtigung, zeigt sich doch, dass ihre schachliche Entwicklung nicht so geradlinig verlief, wie es aus der Rückschau scheinen mag. Die Vier saßen sich über 20 Jahre lang immer wieder als Gegner am Brett gegenüber, bei der nationalen Meisterschaft der UdSSR, bei Interzonenturnieren, bei Kandidatenwettkämpfen und schließlich bei WM-Matches. Gleichzeitig waren sie bei zahlreichen Olympiaden Teil des sowjetischen Teams, trainierten gemeinsam und pflegten unter einander aufrichtige Freundschaften. Soltis spricht hier von „Frenemies“, was sich freihändig als „Freinde“ übersetzen lässt.

Der Autor geht soweit, die Angehörigen seines Quartetts jeweils einem der vier Temperamente zuzuordnen. Der lebenslustige Mikhail Tal mit seinem Habitus eines Bohemian und der Magie eines volshebnik ist ihm der Sanguiniker; Viktor Korchnoi mit seiner verbalen Aggressivität, seiner Überheblichkeit und dem Hang zum Verfolgungswahn ist der Choleriker; Tigran Petrosian mit seinem Hörschaden aus früher Kindheit, seinen Minderwertigkeitskomplexen und seinem verschlagenen Auftreten gerät zum Phlegmatiker; Boris Spasski mit seinem blendenden Äußeren, seiner notorischen Faulheit und seiner relativen Unangepasstheit gibt den Melancholiker.

Vor allem aber sind diese Vier Nutznießer eines entschiedenen Schachförderprogramms der sowjetischen Funktionäre, der vlasti. Nach Josef Stalins Tod 1953 erhalten Spitzenspieler des Riesenreiches ein jährliches Stipendium, das es ihnen erlaubt, als Quasiprofis sich dem Schach zu widmen; offiziell arbeiten sie als Journalist, Historiker oder Lehrer. Man erwartet von ihnen Linientreue zur KPdSU und drängt sie zum Eintritt in die Partei, was Petrosian und Korchnoi aus taktischen Erwägungen auch tun. Sie kommen in den raren Genuss von Auslandsreisen zu internationalen Turnieren und dürfen das Preisgeld in harter Währung behalten; unschätzbare Privilegien im Sojus, die auch Viktor Korchnoi 1965 während eines Turniers in Hamburg davon abhalten, sich in den Westen abzusetzen.

Akribisch zeichnet Soltis die schachlichen Kurven der Genannten nach. Tals Laufbahn ist die eines Kometen, beim jeweils ersten Anlauf gelingt ihm stets der große Wurf, allerdings ist er seinen 1960 flamboyant eroberten WM-Titel nach einem Jahr schon wieder los. In der Folge verhindern schwere Gesundheitsprobleme und ein selbstzerstörerischer Lebenswandel sein Comeback auf den Thron. Petrosian nimmt langsam und weitgehend unter dem Radar eine Stufe nach der anderen, dabei eine erstaunliche Bereitschaft zur Intrige auch gegen nahe Freunde wie Korchnoi offenbarend. Er profitiert von den Kontakten seiner ehrgeizigen Frau Rona zu den hohen Rängen der Partei, die ihn in den 1960er Jahren als Weltmeister zur Autorität im sowjetischen Schach machen.

Boris Spasski startet in der Jugend mit ähnlich himmlischem Talent wie Tal, kommt aber mit Rückschlägen nicht immer gut zurecht, zumal er sich aufmüpfig gegenüber den Kadern verhält und mit zeitweiligem Reiseverbot (nevyezdny) bestraft wird. Seine Niederlage im WM-Kampf 1972 gegen Bobby Fischer verdeckt, dass er in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre zur absoluten Elite der Schachwelt zählte. Viktor Korchnoi schließlich sieht sich als Unvollendeten; WM-Kandidat schon 1962, hart arbeitend und vierfacher Landesmeister der UdSSR, kommt er erst 1978, nach seiner Flucht in die Niederlande, zum Titelmatch gegen Anatoli Karpow. Überall wittert er Missgunst, immer sind andere schuld an seinem Pech.

Die Geschichte der „Freinde“ erzählt aus dem Innenleben des sowjetischen Schachs im Zeitalter seiner Dominanz bei wachsender Angst vor dem Klassenfeind Bobby Fischer. Der Autor referiert auf die entscheidenden Trainer und Sekundanten der Vier, auf ihr Glück, in den Metropolen Leningrad, Riga und Tiflis aufzuwachsen, und spart den Einfluss ihrer Familien auf ihre Gemütsverfassung und ihre Leistung während der Partien nicht aus. Schach bot im tristen Kollektiv der UdSSR einen Zugang zu Weltoffenheit, geistiger Freiheit und Wohlstand. In einer Zeit, als es im Westen lediglich Amateure am Brett gab, sicherte die staatliche Förderung der Sowjetunion die Oberhand im Schach; ihre Protagonisten wurden verehrt wie Schauspieler, Kosmonauten und Sporthelden.

Soltis kommentiert zum Teil bekannte, zum Teil entlegene Partien aus den jeweiligen Lebensstadien seiner Charaktere und illustriert die Erzählung mit seltenen Fotos aus sowjetischen und US-Schachzeitschriften. Ein sauber geführtes Register und eine Chronologie von 1929 bis 2016 runden den Band ab. Ein kunstvoll arrangiertes Gruppenbild der Hoffnungen und Niederlagen entsteht vor der Leserin Auge. Vier Großmeister, deren so klar erscheinende Stile auch Ergebnisse der Auseinandersetzung mit dem Spiel der Rivalen sind. Wo das Schachbrett zur hermetischen Welt im Imperium wird, zwischen dem Tauwetter unter Nikita Chruschtschov und der Sklerose unter Leonid Breschnev. Das Panorama einer begnadeten Generation, so schillernd, weil es nicht die eine überstrahlende Figur gibt.