Geisterrad

In vielen deutschen Städten finden sich an besonders stark befahrenen Kreuzungen komplett weiß bemalte Fahrräder. Sie sind an einen Baum oder einen Laternenpfahl angeschlossen und können von an der Ampel wartenden Autos aus gut gesehen werden. Jedes dieser Räder trägt ein ergänzendes Schild, auf dem etwa steht „Radfahrerin, 37 Jahre, hier gestorben am 12. August 2018“. Ein sogenanntes Geisterrad erinnert an jede/n Radfahrer/in, der/die im deutschen Straßenverkehr zu Tode kam.

Der Bundesverband des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) unterstützt diese lokal organisierte Form des Gedenkens ausdrücklich: „Solche Maßnahmen helfen, darauf aufmerksam zu machen, dass es um die politische Verantwortung dafür geht, wie und für wen unsere Straßen sicher geplant und gebaut werden. Ebenso muss die Notwendigkeit von viel mehr Forschung und Entwicklung zum Ausdruck gebracht werden hin zu Fahrzeugen und Assistenzsystemen, die nicht nur die Autoinsassen schützen, sondern gerade die ungeschützten Verkehrsteilnehmer*innen.“

Im Jahr 2017 sind nach Angaben des ADFC bundesweit 383 Radfahrende ums Leben gekommen, darunter 15 Kinder. Die häufigsten Verursacher sind laut Radlerlobby abbiegende LKW und PKW. Das „Geisterrad“ soll die Trauer um die Getöteten ebenso ausdrücken, wie es die politisch Entscheidenden an ihre Pflicht gemahnt, den Straßenverkehr für alle Teilnehmenden sicher zu gestalten. Doch es steht zu befürchten, dass die Autofahrer den Sinn eines solchen Mahnmals kaum verstehen; sie werden es vielleicht als lästige Kunst im Raum wahrnehmen, ohne sich selbst zu mehr Aufmerksamkeit zu bequemen.

Es könnte auch den Effekt haben, dass potenziell Interessierte erst gar nicht aufs Rad steigen. Im Kopf bleibt das Bild der Lebensgefahr, die in deutschen Städten objektiv nicht von der Hand zu weisen ist. Daher sollte der ADFC seine Kommunikationsstrategie überdenken: Wie können wir, gegebenenfalls in Kooperation mit Verkehrsplanern, Medizinern und Werbefachleuten (m/w), neben den bereits Überzeugten weitere Menschen dazu bewegen, in der Stadt das Rad zu nutzen? Wie wird Radfahren attraktiv nicht nur für Sportler, sondern auch für Kinder, Senioren und Frauen?

Einmal mehr kommen die Antworten auf diese Fragen aus Kopenhagen. In der dänischen Hauptstadt wurden bereits in den 1960er Jahren die Asphaltstellen, an denen PKW Radfahrende getötet hatten, mit einem weißen Kreuz versehen. Diese militante Form des Aktivismus ist im Norden nicht länger zeitgemäß, da eine kluge Stadtverwaltung der Ostsee-Metropole das weltweit beneidete Netz an Radstraßen beschert hat – mit der Folge eines exponenziellen Wachstums der Zahl der Cyclists. Während auf deutschen Straßen die Radler oft in schwarzer Funktionsuniform in den Krieg zu ziehen scheinen, sitzen in Kopenhagen viele Frauen im Rock und auf High Heels im Sattel – sie kleiden sich für ihr Ziel, nicht für die Reise.

Im Lobbying pro Cycling geht es darum, weniger den Risikoaspekt zu betonen, sich nicht in technischen Details zu verlieren und auch nicht moralinsauer ökologisch zu argumentieren. Radfahren ist kolossal praktisch wie sexy, es ist seit 130 Jahren Teil der urbanen Kultur, es ist demokratisches Mobilitätshandeln und individuelle Gesundheitsvorsorge in einem, es hat das Zeug zur Passion und zum Lifestyle. Diese positiv besetzten Themen sollten kommuniziert werden, mit für Vielfalt stehenden Testimonials, auf Plakaten und in den digitalen Netzwerken, verführerisch für die ganze Gesellschaft. Das Geisterrad als Werkzeug von gestern zementiert die Opferrolle des Fahrrads und anerkennt die Dominanz des Autos.