Zimmer

Ein Zimmer ist das kleinste Element eines Hauses oder einer Wohnung. Es ist zum einen durch seinen Zweck bestimmt, zum anderen durch seine Abgrenzung zu anderen Räumen. So gibt es in der bürgerlichen Wohnung neben der Küche, dem Bad und dem Flur jeweils ein Zimmer zum Arbeiten, zum Schlafen, zum Wohnen und zum Essen, gegebenenfalls eines für das Kind. Jedes dieser Zimmer lässt sich durch eine Tür öffnen und schließen. Das sprichwörtliche eigene Zimmer der Schriftstellerin Virginia Woolf ist eine Bedingung dafür, literarisch tätig zu werden: „Eine Frau muss Geld und ein eigenes Zimmer haben, um schreiben zu können.“

Virginia Woolf, 1882 in London geboren als Virginia Stephen, wuchs in einem großbürgerlichen und kulturell lebendigen Elternhaus auf. Der Tod ihrer Mutter 1895 verletzte sie schwer und löste lebenslange Depressionen aus. Mit ihrem Ehemann Leonard Woolf gründete sie 1917 den Verlag The Hogarth Press, das Paar war Mittelpunkt des Londoner Intellektuellenzirkels The Bloomsbury Group. Mit ihren experimentellen Romanen Mrs. Dalloway (1925), Orlando (1928) und The Waves (1931) trug sie entscheidend zur Modernisierung des europäischen Romans bei. Virginia Woolf nahm sich 1941 in Sussex das Leben.

Der berühmte Essay A room of one’s own erschien 1929, er ist die ausgearbeitete Fassung zweier Vorträge, die die Autorin im Oktober 1928 vor Studentinnen am Newnham College und am Girton College zum Thema „Frauen und Literatur“ hielt. Im Zuge der Frauenbewegung der 1970er Jahre wurde Ein eigenes Zimmer zu einem Manifest des Feminismus. Woolf, der als Frau ein Hochschulstudium verwehrt wurde und die sich autodidaktisch ihr literarisches, historisches und politisches Wissen aneignete, geht den Fragen nach, warum es so viel mehr Bücher von Männern als von Frauen gibt und welche Bedingungen speziell Frauen zum Schreiben brauchen.

Die Antwort, die sie auf die zweite Frage gibt, ist wenig überraschend: „Die Nachricht von meiner Erbschaft erreichte mich eines Abends ungefähr zur gleichen Zeit, als das Gesetz verabschiedet wurde, das den Frauen das Wahlrecht gab. Der Brief eines Notars fiel in den Briefkasten, und als ich ihn öffnete, stellte ich fest, daß sie mir fünfhundert Pfund im Jahr auf Lebenszeit hinterlassen hatte. Von den beiden – dem Wahlrecht und dem Geld – schien mir, das muss ich zugeben, das Geld unendlich viel wichtiger.“ Von einem Tag zum anderen findet ihre wacklige Existenz als Hauslehrerin und freie Journalistin ein Ende; sie muss nicht länger mehr nach einem begüterten Liebhaber Ausschau halten, sondern kann sich als Leisuree vollumfänglich der Schriftstellerei widmen.

Die Erlösung von der Reproduktionsfron eröffnet den Raum zum künstlerischen Schaffen. Wer den ganzen Tag am Webstuhl sitzt oder Rüben erntet, Eisen biegt oder Kohl verkauft, erfindet am Abend keine Geschichten. Erst recht nicht, wenn im engen Heim die schmutzigen Kinder vor Hunger schreien und der nächste Balg im Bauche wächst. Implizit korreliert Woolf die Frage des Geschlechtes mit der Frage der Klasse. Denn erst ein finanziell gesichertes Leben mit Dienern und Ammen erlaubt die literarische Kreation für Frauen wie Männer. So gelesen ist Ein eigenes Zimmer ein postfeministischer wie elitärer Text, der den Zutritt in die Sphären der Kunst der Oberschicht vorbehält.

Umso höher ist die dichterische Leistung des Schweizers Robert Walser (1878 – 1956) einzuschätzen, dem eine höhere Bildung aus materiellen Gründen versagt blieb, der sich zeitlebens als Gehilfe verdingte und der Gedichte und Geschichten hinterließ, deren Glanz die Sterne verblassen lässt. Die Schweizerin Annemarie Schwarzenbach (1908 – 1942) hingegen, in eine der reichsten Familien des Landes geboren, produzierte trotz der privilegierten Umstände ihres Schreibens weitgehend halbgare, zu Recht vergessene Prosa. Doch sind dies Ausnahmen der ehernen Regel – die Tür zum eigenen Zimmer hinter sich zu schließen, um in Ruhe und Muße zu schreiben, können sich Reiche eher als Arme leisten, zumal die Bourgeoisie größere Flächen bewohnt als das Proletariat.

In den 1920er Jahre müssen sich schreibende Frauen in England nicht länger hinter männlichen Pseudonymen verbergen wie George Sand oder verstohlen im Pfarrhaus über ihrem Stickrahmen dichten wie Jane Austen. Den unbeschränkten Zugang zu universitären Weihen aber genießen sie anders als ihre Brüder erst seit einer Generation. Und ein zügelloses Leben à la William Shakespeare hätte seine imaginäre Schwester eher ins Bordell als auf die Bühne geführt. Die Professuren in Oxbridge, die Chefredaktionen der Fleet Street, die Richterposten am High Court und die Mandate im House of Commons bleiben bislang den Männern vorbehalten. Freedom grows by inches.

So sind die Ratschläge, die Virginia Woolf ihren Zuhörerinnen resp. Leserinnen gibt, wohlfeil: „Deshalb möchte ich Sie bitten, Bücher aller Art zu schreiben und vor keinem Sujet, ganz gleich wie unbedeutend oder gigantisch, zurückzuschrecken. Sei es auf geraden oder krummen Wegen, ich hoffe, daß Sie sich in den Besitz von genug Geld bringen, um zu reisen und müßigzugehen …“ Um von Männern ernst genommen zu werden, sollten sich Frauen nicht auf weibliche Formen wie Gedicht und Roman beschränken, sondern sich professionell ausbilden und sich harten Feldern wie der Architektur, der Medizin, der Ökonomie und dem Recht zuwenden. Dann kommen die einflussreichen Posten und mit ihnen Ruhm, Wirkung und das eigene Büro. Unterm Strich geht es um Macht – dieser Gedanke ist erfrischend aktuell.