Der Schach World Cup der Frauen in Sotchi endete mit dem Finalsieg Alexandra Kosteniuks gegen Aleksandra Goryachkina. Nachdem Kosteniuk in der ersten von zwei Partien mit langer Bedenkzeit eine scharfe Stellung mit offen stehendem König mit Schwarz erfolgreich verteidigen und im Endspiel gar gewinnen konnte, reichte ihr in der zweiten Partie ein Remis zum Gesamtsieg. Goryachkina, die schon im Achtelfinale gegen die bulgarische Exweltmeisterin Antoaneta Stefanova auf Bestellung gewonnen hatte, strebte hier eine komplizierte Position voller aktiver Figuren und asymmetrischer Bauernstellung an und beließ ihren König im Zentrum, ohne allerdings ihre präzise spielende Gegnerin damit unter Druck setzen zu können. Kosteniuk schließlich konnte in ein Endspiel mit ungleichfarbigen Läufern abwickeln, das sie souverän in der Remisbreite hielt. In den sieben Runden des Turniers hat sie keine einzige Partie verloren und musste kein Mal in den Tiebreak. Chapeau!
Der Sieg der 1984 in Perm am Westhang des Urals geborenen Kosteniuk beim Knock-out-Turnier des World Cups kam etwas überraschend. Die Weltmeisterin von 2008 bis 2010 notiert gegenwärtig mit einer Elozahl von 2485 auf Rang 18 der Weltrangliste, ihre Landsfrau Goryachkina, 1998 in Orsk am Osthang des Urals geboren, steht mit 2611 Zählern an zweiter Position. Im Januar 2020 wurde Goryachkina nach einem spannenden WM-Match in Schanghai und Wladiwostok gegen die Chinesin Ju Wenjun, das sie erst im Schnellschach-Stechen verlor, Vizeweltmeisterin; im Dezember 2020 holte sie in Moskau nach einem dramatischen Finish zum dritten Mal den Titel der Russischen Landesmeisterin. Allerdings verfügt Kosteniuk über große Wettkampferfahrung und über ein stabiles Nervenkostüm, sodass sie im Finale von Sotchi über lediglich zwei klassische Partien ihre favorisierte Gegnerin routiniert auskontern konnte. Seit 2011 haben die beiden Kontrahentinnen 18 Partien gespielt, die Bilanz lautet 6:4 zugunsten Kosteniuks bei acht Remisen.
Alexandra Kosteniuk und Aleksandra Goryachkina (auf Russisch schreiben sie sich beide Александра, für die offizielle unterschiedliche Umschrift ihrer Vornamen vom Kyrillischen ins Lateinische gibt es keinen sachlichen Grund) sind beide für das kommende Kandidatinnenturnier qualifiziert, in dem die nächste Herausforderin der Weltmeisterin Ju Wenjun ausgespielt werden wird; Goryachkina als Teilnehmerin des letzten WM-Matches, Kosteniuk nach dem Erreichen des Finales in Sotchi. Dieses Turnier, das, wenn die Corona-Bedingungen es zulassen, mutmaßlich im Frühjahr 2022 gespielt werden wird, geht mit acht Teilnehmerinnen doppelrundig über 14 Partien; hier ist Goryachkina die klare Favoritin, deren Stärke in der Ausdauer auf der langen Strecke liegt und nicht zwingend in kurzen Wettkämpfen, die eine Neigung zur Lotterie aufweisen. Vermutlich ist Goryachkina schon jetzt die beste aktive Schachspielerin; die nominelle Nummer Eins der Rangliste, die Chinesin Hu Yifan, hat seit fast drei Jahren keine Turnierpartie mehr gespielt und sich ganz auf ihr Studium der Diplomatie konzentriert.
Im modernen Profischach kommen drei Jahre einer kleinen Ära gleich. In den 1950er Jahren konnte es sich der sowjetische Patriarch Mikhail Botwinnik noch leisten, sich für diese Dauer ganz vom Schach zurückzuziehen und sich vollends um seine Dissertation in der Elektrotechnik zu kümmern. Heute ist die Produktion speziell der Eröffnungstheorie von einem immensen Tempo charakterisiert, das es den Spitzenspielerinnen und -spielern nicht verzeiht, wenn sie eine längere Auszeit vom Schach einlegen. Allerdings wurde Alexandra Kosteniuk 2007 Mutter einer Tochter und ein Jahr später Weltmeisterin; sie widerlegte hiermit die These, dass eine Mutterschaft zwingend einen Knick in der Karriere einer professionellen Schachspielerin bedeuten müsse. Die Inderin Humpy Koneru, Jahrgang 1987 und aktuell mit 2586 Punkten auf Platz Drei in der Welt notiert, muss ihre Rolle zwischen ihrer Familie und dem Schach noch finden; seit der Geburt ihres Kindes spielt sie nur sporadisch, in Sotchi saß sie nicht am Brett.
Александра Горячкина spielt für ihre 22 Jahre erstaunlich abgeklärt, sie verharrt fast die komplette Partie am Brett und bewegt dabei Kopf und Rumpf kaum, lediglich ihre Augen fixieren dann und wann ihre Gegnerin, ansonsten ist ihr Gesicht phlegmatisch ausdruckslos auf die 64 Felder gerichtet, erst im Interview und bei der Post-Mortem-Analyse wirkt sie lebendig. Ihre schachliche Einstellung ist makellos professionell, sie arbeitet konzentriert und zielstrebig an ihrem Schach und hat in der Eröffnung und in strategischen Mittelspielstellungen keine Schwächen. Sie spielt aktiv auf eigene Initiative, ohne sich zu einer nicht objektiven Bewertung der konkreten Position hinreißen zu lassen. In der ersten Partie von Sotchi gegen Александра Kоcteнюк wählte sie ein riskantes Abspiel, ohne alle verzweigten Varianten durchrechnen zu können; diese irrationalen Stellungen à la Mikhail Tal sind offenbar nicht ihr bevorzugtes Metier. Als sich in besagter Partie der taktische Rauch verzog und es zu einem theoretischen Remis auf dem Brett kam, verspielte sie mit einem Patzer im Endspiel den verdienten halben Punkt. Offenbar muss sie hier noch Erfahrungen sammeln, wenn es um die korrekte Abwicklung ins Endspiel geht und um das psychologische Umschalten vom Spielen auf Gewinn hin zum Halten des Remis. Auch das Gespür für Gefahren lässt sich durch Üben wachhalten.
Александра Kosteniuk, mit dem Großmeistertitel seit 2004 ausgezeichnet, profitierte in Sotchi von ihrer immensen Wettkampferfahrung und auch vom Druck, der auf den höher eingeschätzten Konkurrentinnen lag. Die zum zweiten Mal verheiratete Kosteniuk spielt weiterhin Turnierschach auf höchstem Niveau und gibt seit geraumer Zeit auch Unterricht speziell für Mädchen, hiermit setzt sie die sowjetische respektive russische Tradition der kindlichen Frühförderung im Schach fort. Nebenbei hatte sie auch Modelauftritte für Kleider, Parfum und Juwelen, getreu ihres Mottos, dass Schönheit und Intelligenz gut zusammengehen. Wie um dies zu unterstreichen, zierte sie im August 2012 das Cover der amerikanischen Vogue. Ihr Sieg beim World Cup in Sotchi ist eine offensive Ansage an ihre zum Teil deutlich jüngeren Gegnerinnen, dass mit der selbst ernannten Chess Queen auch künftig auf Spitzenlevel zu rechnen sein wird. Diese wird sie mit ihrem attraktiven Schach das Fürchten lehren, die Kiebitze an den Bildschirmen und bald wieder im Turniersaal erfreuen.
Im Profischach der Gegenwart beginnt die Partie lange vor dem Ingangsetzen der Uhr und dem ersten Zug mit spezifischem Gedächtnistraining. Das Auskochen von Überraschungen in der Eröffnung mithilfe der Sekundanten und vor allem des Computers gehört zum Standardrepertoire der Spielerinnen, speziell in den Lieblingsvarianten der Gegnerin. Gleichzeitig müssen sie ihre eigenen Systeme immer wieder auf mögliche Untiefen und Löcher überprüfen, um nicht unter Zeitdruck am Brett mit einer unangenehmen Neuerung sich auseinandersetzen zu müssen. In Sotchi konnte ein seit langem bekannter Unterschied im Schach der Männer und der Frauen beobachtet werden. Während die Männer meist ökonomischer und mehr auf Sicherheit bedacht spielen und schon mal einem Salonremis durch Zugwiederholung zustimmen, sind die Frauen häufig kämpferischer gestimmt. Sie setzen öfter alles auf eine Karte und vertrauen auf ihre Intuition und ihre Rechenfähigkeiten in turbulenten Stellungen abseits der Theorie. Dementsprechend enden bei ihnen mehr Partien mit einer Entscheidung.
Александра Goryachkina, mit dem Großmeistertitel geschmückt seit 2018, hat in ihrer vergleichbar kurzen Laufbahn schon glänzende Erfolge erzielt; ähnlich wie Alexandra Kosteniuk zeigten sich diese bereits in der Kindheit und in der Jugend. Allerdings hat Goryachkina anders als jene das Potenzial, sich mit den tendenziell spielstärkeren Männern bei gemischten Turnieren um ein höheres Preisgeld zu messen. Damit träte sie in die Fußstapfen ihrer großen Vorgängerinnen Nona Gaprindaschwili, Judit Polgar und Hu Yifan. Goryachkina, die in einem Interview sagte, noch nie Idole im Schach gehabt zu haben, ist eine universelle Spielerin mit einem starken Team, einem langfristig orientierten Sponsor, einer ungebrochenen Motivation, einer brillanten Perspektive, stimulierenden Erfolgen, körperlicher Fitness, einem ausgeprägten Killerinstinkt und einer Vorliebe für akademische Eröffnungen wie das Damengambit, Katalanisch, Französisch, Sizilianisch und Spanisch; zudem scheint sie gegen Zeitnot immun zu sein. Seit dem Ende der Sowjetunion 1991 wird das Frauenschach von China, Indien, der Ukraine, Georgien und Russland dominiert. Die bislang letzte Weltmeisterin aus Russland ist Александра Kоcteнюк, die nächste wird Александра Горячкина sein. Wahrscheinlich bereits 2022.