Der Hirt und die Herde gehören dialektisch zusammen. Der Hirt kümmert sich um die Herde, um jedes Mitglied und gleichzeitig um den Gesamtbestand. Verweist die Herde eher auf das Tierreich mit Schafen, Rindern und Antilopen, finden sich die Menschen in der Reihe, in der Gruppe und im Stamm wieder. Diesen wie jenen nimmt sich der Hirte an, er bietet Schutz vor Feinden und weist den richtigen Weg.
Seit jeher ist der Hirte eine eingängige Metapher für Gott. Im Psalm 23 heißt es: „Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen. Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser. (…) Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir, dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht.“ (Ps 23,1-4) Dieser viel zitierte Vers des Alten Testamentes ist ein Loblied des Vertrauens auf Gott und sein Wirken in der Welt.
In der wissenschaftlich entzauberten Moderne tut der Mensch sich schwer damit, sich bereitwillig als Teil einer Herde zu begreifen. Vielmehr sieht er sich eitel als rational kalkulierendes Individuum, das nüchtern seinen Interessen folgt und geeignete Mittel zum Erreichen seiner Ziele einsetzt. Die Herde, also die amorphe Masse, gilt als übel beleumdet, als Haufen unmündiger Viecher, die vor Einfalt und Schwäche der Führung bedürfen und sich des eigenen Denkens begeben.
Dabei wird gern übersehen, wie das Trachten im Sog der Vielen das Leben auch im aufgeklärten 21. Jahrhundert prägt: Von Tausenden gepriesene Produkte im Online-Shop wirken umso attraktiver, in ihrer Gier lassen die Menschen dubiose Manager ihr Geld irgendwo anlegen und verspielen, hemmungslose Allesversprecher gehen in der Politik erfolgreich auf Stimmenjagd. Nicht einfach, das Bild des Hirten abseits vom Blender und Verführer zu rehabilitieren.
Das Evangelium nimmt die Figur des 23. Psalms auf und präzisiert: „Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe. Der bezahlte Knecht aber, der nicht Hirt ist und dem die Schafe nicht gehören, läßt die Schafe im Stich und flieht, wenn er den Wolf kommen sieht; und der Wolf reißt sie und jagt sie auseinander.“ (Joh 10,11-12) Die Hingabe des guten Hirten, des Messias geht so weit, dass er sich um eines verirrten, von der Herde getrennten Schafes willen auf die Suche macht und die anderen 99 derweil warten lässt. Jedes Element ist kostbar und einzigartig.
Dieses Doppelbild des Hirten und der Herde illustriert den Kern des christlichen Glaubens. Der Mensch bedarf der Fürsorge, aber nicht durch seinesgleichen, sondern durch Jesus. Es ist eine Gnade, auf Christus vertrauen zu dürfen, ein Geschenk, sich seines Waltens überlassen zu können. Zur himmlischen Herde zu gehören bedeutet nicht, seinem Verstand zu misstrauen, sondern zu akzeptieren, dass es Dinge gibt, die das irdische Streben übersteigen. Der Hirt wird es richten, weil es sein persönliches Anliegen ist, dass es den Schafen, die er allesamt beim Namen kennt, gut geht. Welche Religion könnte mehr verheißen?