Imperium

Der russische Präsident Wladimir Putin ist promovierter Jurist. Der 1952 geborene Leningrader begann seine politische Laufbahn in den 1980er Jahren als Agent des KGB in Dresden. Nach der Epochenwende 1989/91 arbeitete er in der Stadtverwaltung in Petersburg (zu dem Leningrad wieder umbenannt wurde) und übernahm die Leitung des Inlandsgeheimdienstes FSB. Als er 1999 zum russischen Regierungschef ernannt wurde, war er kaum einem politischen Beobachter bekannt. Seit 2000 ist er nun der Präsident und Herrscher Russlands – und als solcher nach einem Verfassungscoup gegebenenfalls bis 2036 im Amt. Wenn sich Putin nun zum Ende des II. Weltkriegs äußert, tut er das nicht als Historiker, sondern als Führer eines Imperiums.

Die Militärparade in Moskau zum 75. Jubiläum des „Tags der Sieges“ sollte ganz besonders großartig ausfallen. Doch machte das Coronavirus den umfangreichen Plänen der politischen Führung zur Demonstration russischer Größe und Stärke einen harten Strich durch die Rechnung. Dafür konnte Wladimir Putin wie geplant am 19. Juni des Jahres einen Artikel veröffentlichen, in dem er sich ausführlich zur Vorgeschichte des II. Weltkriegs auslässt. Der Text wurde in deutscher Übersetzung auf der Webseite der Botschaft der Russischen Föderation publiziert. Deutsche Historiker werden bar jeder Ironie aufgefordert, diesen Text als Grundlage einer wissenschaftlichen Kooperation bei der künftigen Archivarbeit zu nehmen. Der „Schutz der historischen Wahrheit“ hat in Moskau mittlerweile Verfassungsrang.

Putin beginnt seinen Artikel mit persönlichen Erinnerungen. Sein älterer Bruder starb mit zwei Jahren bei der Blockade Leningrads, sein Vater wurde an der Front schwer verletzt, seine Mutter überlebte unter größten Mühen. Heute gedenken „Unsterbliche Regimenter“ der zahllosen Menschen, die im Kampf der Verteidigung der Heimat gefallen sind, anfangs spontan, mittlerweile staatlich verordnet. Putin spricht vom „Großen Vaterländischen Krieg“ (eine Formel Josef Stalins), an dessen Ende die Sowjetunion einen „vernichtenden Sieg über den Nazismus errungen und die ganze Welt gerettet“ habe. Diesen Sieg, den er auf den patriotischen Charakter der Völker Russlands mit ihrer tiefen Liebe zu Familie und Vaterland zurückführt, will er im Gedächtnis lebendig halten. Er nennt als Grund die Verantwortung, alles zu tun, um eine „Wiederholung der schrecklichen Tragödien zu verhindern“.

Nach diesen wohlfeilen Feststellungen wird Putin konkret unheimlich. Er identifiziert bei der Führung des Deutschen Reiches (zurecht) eine unverhohlene Aggression gegenüber der Sowjetunion, deren Machthaber sich spätestens nach der Zerschlagung der Tschechoslowakei 1938 keine Illusionen mehr machten über einen bevorstehenden Angriff der Nazis. Nur aus diesem Grund, quasi aus Notwehr, so Putin, habe die UdSSR als letzte der europäischen Großmächte im August 1939 einen spektakulären Nichtangriffspakt mit dem III. Reich unterzeichnet. Dieser mal Hitler/Stalin-, mal Molotov/Ribbentrop-Pakt genannte Vertrag gab der Sowjetunion die dringend benötigte Zeit, um sich für einen drohenden Krieg mit Deutschland zu rüsten – den Großbritannien und die USA angeblich wollten, damit sich beide Diktaturen gegenseitig abnutzten.

Polen, das noch territorial von der Zerschlagung der Tschechoslowakei profitierte, aber am 1. September 1939, nur eine Woche nach Unterzeichnung des Vertrages, von Deutschland überfallen wurde, trägt nach dieser Lesart selbst Schuld daran, dass die Rote Armee Mitte des Monats von Osten auf polnisches Gebiet vorrückte. Hätten die westlichen Mächte, so Putin, ihre Garantien gegenüber Polen eingelöst, hätte die Sowjetunion sich nicht auf eine Annäherung an Nazideutschland eingelassen. Putin spricht allen Ernstes von „defensiven Aufgaben“ der UdSSR, die noch im Herbst 1939 mit der „Inkorporation“ Estlands, Lettlands und Litauens ins Imperium fortgeführt wurden, „auf vertraglicher Basis, mit Zustimmung der gewählten Behörden“. Dass Stalin mit dieser Annexion das Geheime Zusatzprotokoll des Vertrages mit Deutschland realisierte, erwähnt er nicht, ebenso wenig den Angriffskrieg der Roten Armee gegen Finnland 1939/40, das seine Unabhängigkeit aber bewahren konnte.

Putin geht nicht soweit, historische Fakten einfach zu leugnen. Seine Form der Geschichtsklitterung besteht in einer schwefligen Mixtur aus Weglassen, Verdrehen, Verstärken und Konstellieren anerkannter Tatsachen. Josef Stalin, der die junge UdSSR seit 1928 im gnadenlosen Terrorgriff hielt, wird ihm zum selbstlosen Verteidiger der geliebten russischen Erde. Nach Putin verdienen Stalin und seine Genossen im Politbüro zwar „viele gerechte Vorwürfe“, nicht aber den, dass sie keine Vorstellungen des Charakters der äußeren Bedrohungen des Imperiums gehabt hätten.

Es ist das alte Motiv, nach dem die Gräuel eines Regimes im Inneren mit einem äußeren Feind begründet und relativiert werden. Kein Wort Putins zum forcierten Hungertod der Ukraine im „Kampf gegen die Kulaken“ zu Beginn der 1930er Jahre. Unbenannt bleibt auch der Große Terror 1936/38, dem neben Millionen Unglücklicher die komplette militärische Führung des Landes zum Opfer fiel – ein Grund, warum die ersten Monate des „Unternehmens Barbarossa“ so katastrophal für die UdSSR verliefen und die Wehrmacht kurz vor Moskau stand. Die Schreckensherrschaft der Bolschewiki aber ging im Krieg nicht unter, sondern fand hier vielmehr ihre „eigentliche Verwirklichung“ (Jörg Baberowski).

Das Vielvölkerimperium der Sowjetunion wurde nicht, wie Putin suggeriert, von einer unbedingten Treue zur Nation zusammengehalten und dadurch zum heroischen Widerstand gegen die Invasion animiert, sondern durch Zwang, Gewalt, Verzweiflung und Angst. In den baltischen Ländern, in der Ukraine und Weißrussland wurden die Soldaten der Wehrmacht anfangs als Befreier vom Joch der Kolchosen begrüßt, bis den Menschen klar wurde, dass sie in den wahnsinnigen Plänen Hitlers zu einer Sklavenexistenz bestimmt waren, von der industriellen Ermordung der Juden zu schweigen.

Dass die sowjetische Parteiführung Millionen von Rekruten verheizte, sie schutz- und waffenlos auf Minenfelder trieb, den NKWD erbarmungslos auf Flüchtende schießen ließ und nach Kriegsende sowjetische Kriegsgefangene aus deutschen Lagern direkt zum Sterben in den Gulag deportierte – all das kommt in Putins Erzählung nicht vor. Die Sowjetunion war beileibe nicht das Paradies der Werktätigen, wie es die Propaganda unablässig wiederholte. Vielmehr sahen sowjetische Soldaten im besetzten Deutschland, in welchem Wohlstand die Menschen dort lebten, während sie selbst in Hunger und Knechtschaft gefangen waren und in Erdlöchern hausen mussten. Die Hoffnung der geschundenen Menschen auf eine Liberalisierung im Inneren wurde bitter enttäuscht; die Gewalt gegen die eigene Bevölkerung erreichte nach der Erschöpfung der Kriegsjahre einen neuen tristen Höhepunkt.

Angesichts dieser lückenhaften Geschichtsschreibung des russischen Präsidenten stellt sich die Frage nach seinen Beweggründen. Sie sind vermutlich zu suchen in der Legitimation seiner eigenen Herrschaft, die im nun zwanzigsten Jahr von der russischen Bevölkerung eher resignativ hingenommen wird. Für Putin ist es zentral, das Russland von heute in eine Linie zur UdSSR zu stellen, die im „Tag des Sieges“ einen zweiten Gründungsmythos erlebte: „Die sowjetische Periode mit all ihren Triumphen und Tragödien ist ein untrennbarer Bestandteil unser tausendjährigen Geschichte.“ Dazu gehört auch ein wohlwollendes Bild des Diktators Josef Stalin.

Bis heute liegt die Rekonstruktion der Repression, des Personenkultes und des Lagersystems, die konstitutiv für die Geschichte der ersten staatlichen Zwangskollektivierung der Erde waren, in den Händen privat forschender Wissenschaftler. Wenn diese zu unbequeme Wahrheiten für das Regime ans Tageslicht bringen, werden sie von Russlands gelenkter Justiz in fragwürdigen Prozessen zum Schweigen gebracht. Der Historiker Jurij Dmitrijew, der zu Stalins Erschießungen in Karelien forscht und an der Entdeckung von Massengräbern namenloser Opfer beteiligt war, wurde vor Wochen wegen „Missbrauchs“ seiner Adoptivtochter zu dreieinhalb Jahren Lagerhaft verurteilt.

Diese Politik der Einschüchterung und Stigmatisierung unliebsamer Journalisten, Aktivisten, Wissenschaftler und Oppositioneller (m/w/d) hat in Putins Russland Methode. Nach zwanzig Jahren seiner Präsidialdiktatur (Manfred Hildermeier) hat er längst keine legalen Gegner im Inneren mehr. Umso wichtiger ist ihm die Anerkennung Russlands als Großmacht auf der internationalen Bühne. Er beschwört die Kriegskonferenzen von Teheran, Jalta, San Francisco und Potsdam zwischen den USA, Großbritannien und der UdSSR, die die militärische und politische Ordnung der Welt nach 1945 einleiteten. Die drei Siegermächte des II. Weltkriegs, ergänzt um die Atommächte Frankreich und China, sind nach Putin bis heute verantwortlich „gegenüber der Menschheit“. Das Vetorecht im UN-Sicherheitsrat ist für den russischen Präsidenten „die einzig vernünftige Alternative zu einem direkten Zusammenstoß der größten Länder“. So ist es nur konsequent, dass Wladimir Putin deren Führer zu einem „Gipfel“ einlädt, um die Herausforderungen von heute zu meistern, vom Klimawandel über die Rüstungskontrolle bis zur Extremismusbekämpfung.

Das Russland von heute ist seit der Epochenwende von 1989/91 um ein Drittel kleiner, als es die Sowjetunion während ihrer größten Ausdehnung war. Dass Putin vom imperialen Anspruch nicht lässt, zeigen die Annexion der Krim, die schwelenden Scharmützel in Georgien, die Kriegsbeteiligung in Syrien und die digitalen Attacken auf Estland und Lettland. Wladimir Putin zieht seine moralische Legitimation, die in manipulierten Wahlen eher matt wirkt, über den direkten Bezug zu Josef Stalins Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“.

Der 9. Mai war in der Sowjetunion ein volkstümlicher Feiertag in unmittelbarer Nachbarschaft zum Tag der Arbeit. Erst 1965 wurde zum Gedenken an das Kriegsende die erste Militärparade auf dem Roten Platz in Moskau orchestriert. Und nach der Implosion des sozialistischen Reiches dauerte es bis zum Jahr 2005, bis erneut Panzer, Haubitzen und Raketenwerfer am 9. Mai am Kreml vorbeirollten. Im Schatten dieser „ideologischen Mobilmachung“ (Karl Schlögel) gerät dann in Vergessenheit, wie selektiv sich Wladimir Putin der sowjetischen Geschichte bedient: Der 7. November, der Tag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, wurde klammheimlich aus dem Feiertagskalender gestrichen.

In seinem Artikel schlägt Putin ein dem Thema naheliegendes martialisches Vokabular an; er spricht vom Sieg, von Helden, vom Kampf, vom Mut, vom Widerstand, vom Schmerz, vom Leiden, vom Verlust, vom Schicksal und von der Erinnerung. Interessant ist mindestens ebenso, welche Termini er vermeidet – so finden sich die Begriffe „Sozialismus“, „Kommunismus“ und „Demokratie“ kein einziges Mal, als habe es elementare weltanschauliche Differenzen und Konsequenzen unter den Alliierten nie gegeben; die „Bolschewiki“ finden genau einmal Erwähnung bei einer Andeutung auf den Bürgerkrieg Anfang der 1920er Jahre.

Das eigentlich Traurige aber ist der fehlende Blick über 1945 hinaus. So zerbrach die Anti-Hitler-Koalition der Großen Drei im Moment ihres Triumphes, der Kalte Krieg mit seinem atomaren und orbitalen Wettrüsten begann. 1953, 1956 und 1968 unterdrückten Panzer der Roten Armee die Freiheitsbestrebungen in der DDR, in Ungarn und in der CSSR. Der Eiserne Vorhang, der Europa und die Welt über 40 Jahre trennte, ist gefallen, an die Stelle der bipolaren Ordnung ist eine unruhige Welt verschiedener Machtzentren getreten. Putins Text offenbart die Sehnsucht nach der Übersichtlichkeit der ideologischen Blöcke, sein Imperium nimmt über Gebühr Anleihen im Gestern. Ein Konzept für die Zukunft sieht anders aus.