Im November 2018 anlässlich des WM-Turniers der Frauen im sibirischen Khanty-Mansiysk kündigte Arkady Dvorkovich, der neu gewählte Präsident des Weltschachbundes FIDE, an, das professionelle Frauenschach aufzuwerten, unter anderem mit einer Reform des Mechanismus des Weltmeisterschaftszyklus. Zwischenzeitlich ist die FIDE konkret geworden: Seit Ende Mai 2019 läuft im russischen Kasan das Kandidatinnenturnier zur Ermittlung der Herausforderin der Championesse Ju Wenjun, der chaotische Wechsel zwischen Runden- und Knock-out-Turnier gehört der Vergangenheit an.
Das Kandidatinnenturnier geht über insgesamt 14 Runden, jede der acht Teilnehmerinnen spielt je zweimal gegen die anderen. Nominiert resp. qualifiziert sind Kateryna Lagno (Russland), Mariya Muzychuk (Ukraine) und Alexandra Kosteniuk (Russland) als Halbfinalistinnen der letzten K.-o.-WM. Über das Elo-Rating gehen Anna Muzychuk (Ukraine), Valentina Gunina (Russland), Nana Dzagnidze (Georgien) und Tan Zhongyi (China) ins Rennen. Alexandra Goryachkina (Russland) schließlich komplettiert das Feld, da die weltstärkste Spielerin Hue Yifan aus China es vorzieht, sich auf ihr Studium in Oxford zu konzentrieren.
Zur Halbzeit ergibt sich in Kasan ein sicher überraschendes Bild. An der Spitze der Tabelle liegt mit 5,5 aus 7 möglichen Punkten Alexandra Goryachkina. Die mit 20 Jahren jüngste Teilnehmerin hat bereits 1,5 Punkte Vorsprung auf Nana Dzagnidze und Kateryna Lagno, die sie beide in direkten Duellen besiegen konnte. Für die Exweltmeisterin Alexandra Kosteniuk sowie für die Muzychuk-Schwestern Anna und Mariya, allesamt favorisiert ins Rennen gegangen, ist der bisherige Verlauf nur traurig zu nennen, sie kommen jeweils auf magere 3 aus 7 Punkten und werden kaum noch Chancen auf den Turniersieg und damit auf das WM-Match gegen die Chinesin Ju Wenjun haben.
Das Turnier im Kasaner Hotel Nogai ist mit einem Preisfonds von 200.000,- Euro dotiert, ein Rekord für das Frauenschach. Für das anschließend geplante Match im Herbst dieses Jahres zwischen der Siegerin und der Titelverteidigerin sind laut FIDE gar 500.000,- Euro als Wettkampfbörse vorgesehen. Einmal mehr wird ein Spitzenturnier der Frauen von einem staatlichen Veranstalter organisiert: Als Ausrichter treten das Sportministerium der russischen Teilrepublik Tatarstan (deren Hauptstadt Kasan ist) und der russische Schachbund auf, Hauptsponsor ist das russische Chemieunternehmen Phosagro. Auch fast 30 Jahre nach dem Ende der UdSSR dominieren die Aktiven, die Funktionäre und die Institutionen aus den Nachfolgerepubliken des sowjetischen Imperiums das globale Schach.
Kasan, kyrillisch КАЗАНЬ, etwa 800 Kilometer östlich von Moskau an der Wolga gelegen und vor 1.000 Jahren erstmals urkundlich erwähnt, ist mit rund 1,1 Mio. Einwohnern die sechstgrößte Stadt Russlands; sie beherbergt renommierte wissenschaftliche Institute und zählt zu den Zentren des russischen Islam. Die Stadt, in der unter anderem Wladimir Iljitsch Lenin studierte, hat eine typisch russische Schachtradition. Bereits im Jahr 1884 wurde hier der erste lokale Schachclub gegründet, wo Mikhail Tschigorin und Alexander Aljechin Gastspiele gaben. 1999 kam es in Kasan zum WM-Match zwischen Alisa Galliamova und Xie Jun. Und 2011 spielten die Männer hier ihr Kandidatenturnier, das Boris Gelfand als Gewinner und damit als Herausforderer des Weltmeisters sah. Mithin ein gut gewählter Ort für professionelles Schach der Frauen, das leider immer noch im Schatten der Männer steht.
Dabei werden die Spielerinnen ihrem Ruf, furchtloses und attraktives Schach zu spielen, einmal mehr gerecht. Von den 28 Partien der absolvierten sieben Runden wurden glatte 15 entschieden, damit liegt die Remisquote bei gerade 47 %. Neben eröffnungstheoretischen Debatten gibt es riskantes Angriffsschach mit Opfern à la Mikhail Tal ebenso zu sehen wie Positionskunst im Stile Anatoli Karpows und Endspiele mit Bobby-Fischer-würdiger Technik. Über Pfingsten könnte sich eine Vorentscheidung auf den Turniersieg anbahnen. Sollte Alexandra Goryachkina weiterhin so konsequent und druckvoll am Brett auftreten und im Zweifel das Glück auf ihrer Seite haben, könnte sie im Herbst dieses Jahres um den WM-Titel spielen. Ihre Verfolgerinnen müssen, wollen sie noch den möglichen Sieg im Auge behalten, das Risiko hochschrauben und gleichzeitig auf einen Einbruch der Führenden hoffen.
Im Spielsaal in Kasan scheint sich kaum fachkundiges Publikum zum Verfolgen der Partien einzufinden, Schach ist selbst auf höchtem Niveau ein Zuschauersport eher für den heimischen Rechner oder das mobile Telefon und weniger für die Arena. Die Begegnungen werden von den russischen Großmeistern Ilja Smirin und Sergey Schipow sowie der slowakischen Großmeisterin Eva Repkova im Internet kommentiert – eine willkommene Gelegenheit, neben einer Schachlektion parallel eine zusätzliche in Russisch zu erhalten. Um nebenbei zu erfahren, dass der deutsche Fachbegriff des „Endspiels“ für die finale Phase der Partie phonetisch im Russischen identisch ist – ЭНДШПИЛЬ. Schach als grenzüberschreitende Sprache des Geistes, passend zu Pfingsten.