Die Kolyma ist zum einen ein Synonym für Gold, zum anderen eines für die besonders grausamen Lager des sowjetischen Gulag. Bereits im zaristischen Russland war bekannt, dass die Region um den nordostsibirischen Fluss Kolyma, der der Region am nördlichen Polarkreis den Namen gibt, voller kostbarer Bodenschätze ist. Es bedurfte der Gnadenlosigkeit des zu allem entschlossenen Regimes Josef Stalins, um diese klimatisch feindliche Gegend im Permafrost zu erschließen und zu besiedeln und Gold, Wolfram, Zinn, Diamanten, Kobalt und Uran zu fördern. Mit dem Gold, so das Kalkül der Sowjetführung, sollte die Industrialisierung und militärische Aufrüstung des jungen sozialistischen Staates finanziert werden. 1932 wurden an der Kolyma gut 500 Kilogramm Gold abgebaut, 1934 bereits fünf Tonnen. 1936 waren es dann 30, im Jahr darauf schließlich 51 Tonnen. Ein Drittel des Goldes der Sowjetunion stammte seinerzeit aus den Minen der Kolyma. Die Erhöhung der Arbeitsnorm ab 1938 steigerte in dem Gebiet die jährliche Fördermenge auf rund 300 Tonnen Gold.
1931 nahm der dem Geheimdienst unterstehende Dalstroj, die Hauptbauverwaltung des Hohen Nordens, seine Arbeit zur Kolonialisierung der Kolyma auf. Stand die Katorga, die Zwangsarbeit und Verbannung, in den 1920er Jahren noch im Zeichen der pädagogisch motivierten ideologischen „Umschmiedung“ der Inhaftierten, wurden die Deportierten an der Kolyma als Sklaven vernutzt, deren Arbeitskraft bis zum eingepreisten Tod ausgepresst wurde. In den Jahren des Großen Terrors 1936/38 wurden Hunderttausende Häftlinge aus dem europäischen Teil der Sowjetunion über Wladiwostok an die Kolyma nach Magadan verschifft; es handelte sich dabei um eine wilde Mischung aus kleinen Kriminellen, Berufsverbrechern, Ingenieuren, Trotzkisten, Oppositionellen, entkulakisierten Bauern, Religiösen, Intellektuellen, Angehörigen ethnischer Minderheiten und unglücklichen Namenlosen, die von der Raserei der Verhaftungen erfasst wurden. 1951 war mit etwa 180.000 Gefangenen ein trauriger Höchststand erreicht.
Der russische Dichter Warlam Schalamow hat die Lager an der Kolyma überlebt und darüber geschrieben. Seine Texte zählen zu den Klassikern der Gulag-Literatur, auch wenn ihm zeitlebens die Anerkennung als Schriftsteller versagt blieb. Er wurde 1907 im nordrussischen Wologda als jüngstes Kind eines orthodoxen Priesters und einer Lehrerin geboren. Nach dem Abitur ging er nach Moskau und schrieb sich an der juristischen Fakultät der Universität ein, neben seinem Studium suchte er Kontakt zu politisch oppositionellen Kreisen und zu Künstlern und Literaten. 1929 wurde er wegen illegaler Verbreitung von „Lenins Testament“, in dem der todkranke Sowjetführer vor Josef Stalin warnte, zu drei Jahren Zwangsarbeit im Ural verurteilt. Nach seiner Rückkehr nach Moskau 1931 arbeitete er als Journalist und veröffentlichte erste Gedichte und Prosatexte.
1937 wurde er wegen „konterrevolutionärer trotzkistischer Tätigkeit“ erneut verhaftet und in ein Arbeitslager an der Kolyma mit ihrem schütteren Lärchenbewuchs deportiert. Hier wurde er zur Fron im Bergwerk, im Forst und im Straßenbau gezwungen, unterbrochen durch Aufenthalte im Krankenhaus. 1953 wurde er aus dem Lager entlassen, 1956 kehrte er nach Moskau zurück. Bis in die 1970er Jahre arbeitete er an seinen „Erzählungen aus Kolyma“, in denen er die Realität in den Lagern literarisch thematisierte. In der Sowjetunion kursierten erste Stücke im Samisdat, Ende der 1960er Jahre wurden einzelne Texte in französischen und deutschen Emigrantenzeitschriften publiziert. Schalamow bezog eine kleine Invalidenrente und litt an den Langzeitfolgen der Haft. Ende der 1970er Jahre zog er in ein Altenheim, 1982 starb er in einer Nervenheilanstalt. Seine „Erzählungen aus Kolyma“ erschienen in der UdSSR erst posthum während der Perestroika der späten 1980er Jahre, seit 2007 liegt der Zyklus erstmals komplett in deutscher Übersetzung vor.
Der Gulag im Allgemeinen und die Kolyma im Besonderen suchen in der organisierten Quälerei des Sisyphos ihresgleichen, hier lässt sich unter Laborbedingungen studieren, was Menschen einander antun, wenn ihre Verbrechen straffrei bleiben, weil die Führung es befiehlt. Im sibirischen Osten hat der Winter acht Monate, die Temperaturen fallen auf 50 Grad Kälte und darunter. Die Baracken sind nicht winddicht und schlecht geheizt, die Kleidung ist für den Dauerfrost ungeeignet. Die Umzäunung der Lager mit Stacheldraht erweist sich als unnötig, da ein Fluchtversuch in der tief verschneiten Taiga von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Die Auszehrung der Häftlinge mit ihren bindfadendünnen Muskeln erfolgt durch Schwerstarbeit über zwölf und mehr Stunden am Tag bei völlig unzureichender Ernährung, desolaten sanitären Anlagen, dauernden Schlägen der Wächter und mangelhafter medizinischer Versorgung. Eine Privatsphäre existiert nicht, die Verurteilten bestehlen einander, denunzieren für eine Prise Machorka und morden für einen wollenen Pullover. Hinzu kommen willkürliche Erschießungswellen, um im fernen Moskau angeordnete Quoten überführter „Volksfeinde“ zu erfüllen. Die Leichen können wegen der vereisten Böden nicht begraben werden, sie werden aufeinandergestapelt und mit Schnee überdeckt; die Schneeschmelze im Sommer treibt die konservierten Kadaver zurück unter die Nochlebenden.
Neben Erfrierungen an Ohren, Nasen, Zehen und Fingern sind typische Gefängniskrankheiten wie Pellagra oder Skorbut, ausgelöst durch chronische Vitamin- und Kalorienarmut, weit verbreitet; nach einer Saison werden die zum Skelett abgezehrten Sklaven von der Mine als „Grubenschlacke“ ausgeworfen. Als „Dochodjaga“ befinden sie sich näher am Tod als am Leben, ihr vor Hunger erschöpftes Hirn fasst keinen Gedanken mehr, sie existieren nicht anders als ein Stein. Die Insel Kolyma, durch Berge, Meer und Kälte isoliert, nimmt das Sterben der Häftlinge nicht nur billigend in Kauf, sie zielt unausgesprochen auf ihre Vernichtung durch Arbeit. Vor diesem Hintergrund leuchtet es ein, dass nach dem Ende des II. Weltkriegs, als im sibirischen Osten der Holocaust der Nazis bekannt wurde, von der Kolyma als „Auschwitz ohne Öfen“ gesprochen wurde. In dieser Hölle aus Eis, Fels und Schmerz nicht zermahlen zu werden, ist eine Frage des dunklen Zufalls. Warlam Schalamow hat nach neun Jahren Haft das Glück, einen Kurs als Arzthelfer zu belegen, der ihn vor dem Schacht bewahrt und ihn von einem Gespenst an der Schubkarre zu einem privilegierten Menschen macht, dessen Zukunft über den heutigen Tag hinausreicht.
Für Schalamow ist die Literatur über das Geschehen ein Mittel des Überlebens. Dazu muss er das Schreiben erst wieder mühsam erlernen, da die mehrfach erfrorenen Finger durch die jahrelange Umklammerung der Schaufel sich nicht mehr geradebiegen lassen zum Halten des Stiftes. Für ihn ist das Lager eine zutiefst sinnlose Erfahrung, die keinerlei Läuterung erträgt: „Ich bin überzeugt, daß das Lager – immer – eine negative Schule ist, auch nicht eine Stunde darf man darin verbringen – es ist eine Stunde der Zersetzung. Niemandem hat das Lager jemals etwas Positives gegeben und geben können. Auf alle – Häftlinge wie Freie – wirkt das Lager zersetzend.“ Schalamows „Erzählungen aus Kolyma“ haben natürlich dokumentarischen Rang und verleugnen ihre autobiografische Quelle nicht; er will Zeugnis ablegen, unbestechlich und detailgetreu. Er will aber auch über das Protokoll und den Rapport hinaus erzählen, quasifiktiv: Deswegen wählt er Namen, komponiert Charaktere, setzt Kontexte. Er zielt nicht auf moralische Belehrung und stellt keine Auferstehung in Aussicht. Seine Prosa aus dem Inneren des Leidens ist trostlos präzise, nirgends wird eine Linderung durch Solidarität, Humanismus oder Ästhetik angedeutet. Schalamow gelingt das Unmögliche: Er vermittelt den „Anderen“ eine Ahnung vom Horror der Kolyma, nach ein paar Erzählungen muss die Leserin (m/w/d) das Buch aus der Hand legen und sich seelisch entgiften.
1996 wurde auf einer Anhöhe bei Magadan die betonierte „Maske der Trauer“ des Bildhauers Ernst Neiswestny (1925 – 2016) errichtet, die an das Kreischen der Gewalt der Kolyma erinnert. Die 15 Meter hohe Skulptur stellt ein stilisiertes menschliches Gesicht dar, aus dessen linkem Auge kleine Gesichter wie Tränen rinnen. Die von Schalamow festgehaltenen Zustände an der Kolyma decken sich prinzipiell mit den Befunden der Archive. Die Rekonstruktion des Grauens erfolgt in Russland weitgehend durch privat forschende Historiker und Menschenrechtsorganisationen wie etwa Memorial, die von der russischen Regierung regelmäßig der Spionage bezichtigt werden. Eine offizielle Kultur der Aufarbeitung und des Gedenkens in Russland fehlt bis heute, der politisch und strafrechtlich Verantwortliche für die Jahrzehnte des Tötens, Josef Stalin, ist stattdessen zu einer Figur nostalgischer Verklärung geworden. Nach der Auflösung des Dalstroj 1957 verfielen die Baracken, die Gruben, die Gerüste und die Schienen, sie wurden mittlerweile von der unwirtlichen Natur zerrieben – die in den 1930er Jahren angelegte zweitausend Kilometer lange „Straße der Knochen“ von Magadan entlang des Flusses tief ins Gebirge besteht noch. Heute erzählt nur noch der schneidende Wind über dem grenzenlosen Weiß der Taiga vom Unbeschreiblichen.