Dass der lettische Großmeister Mikhail Tal (1936 – 1992) nicht nur ein mitreißendes Schach spielte, sondern über die Generationen hinweg verehrt wurde, ist hinlänglich bekannt. Doch wie lebte es sich an der Seite dieses Bohemians, der so gar nicht in das kollektive Einerlei der UdSSR passte? Der seinen mit Freuden ausgeübten Beruf als Lehrer aufgab, weil er sich nicht mit den regelmäßigen Reisen eines Profis vertrug? Seine erste Ehefrau Sally Landau, mit der er von 1959 bis 1970 verheiratet war und mit der er einen Sohn hatte, hat bereits 1998 auf Russisch ihre Erinnerungen an den „Zauberer von Riga“ publiziert. Nun liegen sie unter dem Titel „Checkmate!“ auf Englisch vor.
Sally Landau wird 1938 im weißrussischen Vitebsk geboren, ihre Eltern arbeiten nach dem II. Weltkrieg am Theater in Vilnius in Litauen. Von klein auf taucht Sally in die Welt der Bühne ein und wird professionelle Sängerin und Schauspielerin. Ihre Engagements führen sie auch nach Riga, wo sie an Silvester 1958 den schon damals berühmten Mikhail Tal kennenlernt. Vom Schach versteht Saska Landau nichts, die schöne Frau mit ihrem flammend roten Haar („Sulamith von Vilnius“, wie sie ein Kollege nennt) ist allerdings empfänglich für das charmante Wesen des jungen Großmeisters, den sie am Klavier mit Elegien Sergei Rachmaninovs verführt. Sie ist beeindruckt von seinen tadellosen Manieren, seinem Witz und seinem Geschmack, vor allem aber vom individuellen Habitus seiner großbürgerlichen Familie.
Die beiden werden ein Paar und leben gemeinsam mit Tals Eltern in einer erlesen möblierten Wohnung im Zentrum von Riga. Mikhail drängt Saska, ihren Beruf aufzugeben, doch sie bleibt dem Theater treu. Daran ändern weder die Geburt des gemeinsamen Sohnes Gera noch die Affairen ihres Gatten etwas. Besonders in den Jahren seines kometenhaften Aufstiegs wird der attraktive Tal von männlichen wie weiblichen Fans angehimmelt, sein Popstarstatus beschert ihm Privilegien, Reisefreiheit und Devisen. Als Tal, der sich nur wenig Zeit für seinen Sohn nimmt, seine Geliebte in der gemeinsamen Wohnung einquartiert, geht Sallys Langmut zu Ende. Sie spricht offen von Scheidung, lässt sich aber von Mikhails Liebesschwüren („Du bist meine Königin!“) und den Bitten seiner Mutter davon abhalten: Ohne sie könne ihr Sohn nicht leben, und sie im übrigen auch nicht.
Mikhails manifester Alkoholismus und seine ständigen Schmerzen wegen eines chronischen Nierenleidens machen die Situation nicht einfacher. Sally ihrerseits, weiblich anziehend und selbstbewusst, gibt dem Werben eines hohen Funktionärs nach, der sie heiraten will, ihr eine Wohnung in Riga kauft und ihr später politisch hinter den Kulissen hilft. Zur Ruhe kommt Sally erst, als sie sich 1970 zur Scheidung entschließt und mit Gera nach Vilnius zu ihren Eltern zieht. 1979 schließlich emigrieren Mutter und Sohn aus der Sowjetunion, landen zuerst in Westdeutschland und später in Belgien. Während Mikhail krank und kränker wird und vor der Zeit verfällt, blüht Sally an der Seite ihres neuen Gatten, mit dem sie in Antwerpen lebt, neu auf.
„Checkmate!“ gibt einen Einblick in das Leben in der poststalinistischen UdSSR und reflektiert speziell die Lage der Juden im sozialistischen Imperium, die angesichts des unterschwelligen Antisemitismus stetig über die Ausreise nachdenken. Es zeichnet ein Bild des Weltmeisters Tal, der sich dem Schach opfert, Opern liebt, ganze Dramen frei zitiert und gerne den Entertainer gibt, seine Honorare für Gelage auswirft und nicht weiß, wie man eine Gasflamme auf dem Herd zündet. Seine kindliche Begeisterung und seine Großzügigkeit kommen in einer wie konstruiert wirkenden Anekdote zum Tragen: Sallys zweiter Ehemann Joe träumt davon, einmal eine Partie gegen sein Idol Tal zu spielen. Als er Mischa davon erzählt, antwortet der lakonisch: „Ich wurde geboren, um Dein Märchen zur Realität werden zu lassen.“
Saska schreibt, dass sie niemals eine typische Schachspieler-Ehefrau sein wollte. Ihr Desinteresse dem Spiel gegenüber erlaubt es ihr, Mikhail gegenüber nicht in Ehrfurcht zu erstarren, sondern ihn als Mensch zu erleben und lieben. Und sich auch um ihn zu kümmern, bei allem Beharren auf eigener Selbstständigkeit. Denn sie ist es, die den Alltag der Familie organisiert, die die Hausarbeit leistet und den kleinen Sohn erzieht. Sie weiß, dass sie Mischa mit seinen Unzulänglichkeiten nicht ändern wird, dass sie aber auch nicht vollends für sein Leben verantwortlich ist. Als sie sich schließlich trennen, behält sie die geschönten Erinnerungen an ihren Mann, die lästigen versinken im Strom der Zeit.
Auch nach der Scheidung und Mishas neuer Ehe mit Gelya halten die beiden regen telefonischen Kontakt. Als Misha 1992 schließlich stirbt, ist sie dem russischen Exweltmeister Anatoli Karpow unendlich dankbar, dass er seinen Einfluss geltend macht und die Überführung des Leichnams von Moskau nach Riga auf den Jüdischen Friedhof organisiert. Heute lebt Sally als 80 Jahre alte Dame in Antwerpen, während ihr Sohn Gera in Israel als Zahnarzt arbeitet und den Namen Tal am Leben erhält. Seit 2001 steht im zentralen Park Vermanes darzs von Riga eine Skulptur von Olegs Skarainis zu Ehren des berühmten Sohnes der lettischen Hauptstadt. Bis heute ist sie meist mit frischen Rosen geschmückt.
„Checkmate!“ liest sich wie eine Sammlung betörender Traumsequenzen à la Anton Čechov; ein ordnendes Lektorat allzu privater Szenen hätte dem Text gut getan. Dieser handwerkliche Mangel wird kompensiert durch eine Reihe von Fotos. Ergreifend ist die Aufnahme des frisch gebackenen Weltmeisters bei seiner Ankunft am Bahnhof in Riga 1960; er trägt den Lorbeerkranz des Champions wie einen Rettungsring um die Schultern, als wollte er verhindern, im wogenden Meer der tosenden Menschen unterzugehen. Wer den Schachspieler Mikhail Tal mag, wird Sally Landaus Buch genießen. Die anderen hören eine Romanze an das Leben und die Liebe, stellenweise kitschig, aber sicher zum Mitsingen einladend.