Margret

  Blut ist dicker als Wasser – Wilhelm II.

Als die Kleine im Bauch ihrer Mutter heranreifte, stand ihr Eintritt ins Leben unter keinem guten Stern. Als Augustes Vater von der Schwangerschaft seiner Tochter erfuhr, reagierte er verärgert und beleidigt; der mutmaßliche Kindsvater seiner unverheirateten Tochter war dem Dorfschullehrer nicht gut genug, einen Malergesellen wollte er nicht zum Schwiegersohn haben. So zwang er seine Tochter, bevor die Schwangerschaft in dem kleinen Dorf in der Rhön ruchbar wurde, unter beruflichen Vorwänden in die große Stadt Frankfurt zu fahren und in der dortigen Anonymität das Kind auszutragen, zu gebären und zur Adoption freizugeben. So wurde die kleine Margret, die es nach dem Willen ihres Großvaters nicht hätte geben dürfen, im Januar 1936 am Main geboren.

Ihre Mutter Auguste, 23 Jahre alt, hielt sich an das Schweigegebot, das ihr ihr Vater auferlegte. Nach der Geburt gab sie ihr Kind ins Waisenhaus und weigerte sich standhaft, Einzelheiten zum Vater des Mädchens herauszugeben. Unter Tränen sagte sie den Beamten des Jugendamtes, sie wolle eher ins Gefängnis gehen, als Angaben zu seiner Person zu machen. Sie versicherte den Beamten aber, dass er kein Jude sei – diese Frage war von erheblicher Bedeutung für die geplante Vermittlung der kleinen Margret in die Obhut von Adoptiveltern. Die 1935 erlassenen Nürnberger Rassegesetze verlangten von an einer Elternschaft interessierten Paaren sogenannte Ariernachweise bis in die vierte Generation; weiter war der Geschlechtsakt zwischen Juden und Nichtjuden untersagt. Auf einem Foto, das das Jugendamt Frankfurt an ein suchendes Ehepaar im Westfälischen schickte, steht das Mädchen, vielleicht 16 Monate alt, in einem Raum mit Parkettboden, in dessen Hintergrund ein großes Buffet mit Schüsseln zu erkennen ist, vermutlich der Speisesaal des Waisenhauses. Sie steht außerhalb eines Laufstalles, an dessen Geländer sie sich festhält; sie trägt ein etwa knielanges gebauschtes Hängekleidchen, der Kopf ist dem Betrachter zugewandt, der Blick ist leicht schüchtern. Sie will offenbar dort stehenbleiben.

Im September 1937 traf die kleine Margret mit einer Grundausstattung an Kleidung und Spielzeug sowie ein wenig Geld am Bahnhof in Münster ein, um bei dem kinderlosen Ehepaar zur Probe zu wohnen. Dessen erster Versuch einer Adoption war gescheitert, das Mädchen wurde wieder ins Heim zurückgeschickt. Margret schien sich in dem kleinen Haushalt von Beginn an wohlzufühlen. Sie entwickelte sich altersgerecht, zeigte ein reges Interesse an der sie umgebenden Welt, fand leicht Anschluss zu den Menschen um sie herum. Und sie war artig, wie der Stiefvater in Briefen an das Jugendamt Frankfurt zufrieden unterstrich. Dieses pflegeleichte Mädchen wurde schließlich 1940 offiziell von ihm und seiner Frau an Kindesstatt angenommen. Der Vater Toni war mittlerer Beamter in einer Landesbehörde, die Mutter Lene, Jahrgang 1898 wie ihr Gatte, führte den Haushalt, Margret blieb das einzige Kind. Sie hatte von ihren neuen Eltern den Namen Eva Margret erhalten.

Das Schweigen über ihre Herkunft setzte sich auch im bürgerlichen Mauritz im Osten Münsters fort. Durfte ihre leibliche Mutter über ihr Kind nicht sprechen, blieb Margrets Adoption auch in ihrer Familie ein Tabu, von dem alle wussten und an das vor ihr niemand rührte. Während des Krieges wurde sie mit ihrer Mutter Lene in den Teutoburger Wald evakuiert, der Vater Toni kam an den Wochenenden mit dem Fahrrad die 60 Kilometer herausgefahren. Margret respektive Eva ging auf eine Klosterschule, wo lebenslange Freundschaften zu anderen Mädchen entstanden. Diese wunderten sich, dass sie in Frankfurt geboren wurde; alle anderen stammten entweder aus Westfalen oder von ganz weit weg, aus Schlesien, Pommern oder Preußen, nach der Niederlage Richtung Westen vertrieben. Auch hier wird sich das Kind eine Antwort überlegt haben, die allerdings die eigenen keimenden Zweifel seiner Herkunft nicht überdecken konnte. Jahrzehnte später reagierte Eva gegenüber ihrer heranwachsenden Tochter unwirsch, die nach einem Blick in ihren Reisepass die gleiche Frage nach ihrem Geburtsort stellte.

Margret, dieser Name blieb ihr als zweiter erhalten, fühlte sich wohl bei Toni und Lene. Die geräumige Wohnung, mit schweren Holzmöbeln eingerichtet, lag in einer ruhigen Straße, der Wald begann gleich vor der Tür, Felder und Kanal waren nicht weit. Zuhause ging es zwar ernst zu, sie musste mittags immer still sein, musste sich bei Tisch gerade halten und durfte sich beim Spielen nicht schmutzig machen, aber ihre Eltern waren für da und kümmerten sich, wo immer es nötig schien. Nur sahen sie so ganz anders aus als sie, sie waren zudem gefühlt zu alt für eine Elternschaft. Kindlichen und jugendlichen Fragen wichen sie aus, das Gehorsam gewohnte Kind ließ sich beschwichtigen. Mit dem 21. Geburtstag, seinerzeit mit der Volljährigkeit und damit Mündigkeit gleichgesetzt, endete Margrets Langmut. Sie hatte sich bei einer Rechtsanwältin erkundigt und wusste, dass ihre Eltern ihr die Wahrheit zu ihrer Herkunft sagen mussten. Und diese hielten sich daran; sie gaben ihrer Tochter die aufbewahrten Akten, die Korrespondenz mit dem Jugendamt, den richterlichen Entscheid zur Adoption, die Daten ihrer leiblichen Mutter, ihren Namen und ihre Adresse aus dem Jahr 1936.

Diese Papiere gingen nun in Margrets Besitz über, sie bewahrte sie sorgfältig auf und unternahm zwanzig Jahre später auf ihrer Grundlage einen ersten Kontaktversuch zu ihrer leiblichen Mutter. Toni und Leni hatten die Sorge, ihre Margret mit dem Offenbaren der Wahrheit ihrer Herkunft zu verlieren; zu Unrecht, wie sich schnell zeigte. Die junge Frau, die Margret mittlerweile geworden war, zeigte sich erleichtert über das Wissen, das eine lange Ahnung bestätigte. Das änderte nichts an der Zuneigung zu Toni und Lene, die sie all die Jahre als Tochter aufgezogen hatten. In einem Punkt wiederholte sich in Margrets Leben ein Versäumnis aus dem Leben ihrer Mutter Auguste. Diese war mit 23 Jahren und ungewollt schwanger, von ihrem Vater derartig abhängig, wirtschaftlich wie emotional, dass sie ihm betäubt gehorchte und die Existenz ihrer Tochter verbarg und schließlich aus dem Gedächtnis tilgte. Erst allein in Frankfurt, wo Auguste dauerhaft blieb, fand sie zu einer beruflichen Selbstständigkeit im Büro eines großen Baukonzerns. Geheiratet hat sie nicht, längere amouröse Beziehungen wurden nicht bekannt.

In Margrets berufliche Bildung haben Toni und Lene nicht sonderlich investiert, zu dominant erschien in den 1950er Jahren die Perspektive einer Heirat für die Frauen, die eine eigene kostspielige Ausbildung fragwürdig erscheinen ließ. Die junge Frau lernte das Imkern, ohne sich ganz unter Bienen wohlzufühlen. Sie arbeitete als Schwesternhelferin im Krankenhaus und in der Arztpraxis, auch nach ihrer Heirat, zumindest bis zur Geburt ihres ersten Kindes 1965. Wie so viele Frauen ihrer Generation tappte Margret in die berufliche Falle, einzig auf das Gehalt und das Wohlwollen des Ehemannes zu setzen. Das deutsche Steuerrecht fördert dieses Versorgermodell durch den Alleinverdiener noch heute über Kinderfreibeträge, Mitversicherung in der Krankenkasse und das Ehegattensplitting; es schafft eine fatale Abhängigkeit in finanzieller Hinsicht, wie sich in einer Krise schnell zeigt. Ihre Eltern lebten ihr diesen Entwurf vor; als Toni 1960 starb, bezog Lene eine Witwenpension, die ihr ein auskömmliches Leben sicherte. Sie zog aus dem alten Osten Münsters in das zentrumsnahe Südviertel, wo sie bis zu ihrem Tod die Wäsche auf dem Herd in einem Topf kochte und im Schlafzimmer stets zwei Federbetten frisch bezog.

Margret heiratete einen Mann, der charakterlich und wesensmäßig so gar nicht zu ihr passte; diese falsche Wahl traf sie nach zu geringen Erfahrungen, ohne vergleichen und abwägen zu können. Während sie eher sanft, schicksalsergeben und intuitiv ihrer Wege ging, von einer kindlichen Arglosigkeit und einer Lebensfreude sondergleichen geprägt, war der Vater ihrer Kinder von herrischer, drängender Art, die keinen Raum für andere Menschen in seiner Nähe ließ. In Margrets weicher Natur fand er genau die Provokation, die gezeigte Schwäche auszunutzen. Es dauerte nicht lange und er fing an, sie zu betrügen. Als Lehrer war er ständig unter Leuten, vor allem Kolleginnen, die auf sein gewinnendes und einnehmendes Auftreten flogen. Zu seinem Markenzeichen wurden enge Jeans, die sein Gemächt detailgetreu modellieren – noch Jahrzehnte später bekamen Margrets erwachsene Töchter diese Anekdote von ehemaligen Schülerinnen ihres Vaters unter die Nase gerieben. Margret hätte diesen Mann spätestens Mitte der 1970er Jahre nach zehn Jahren Ehe verlassen müssen, doch ihre weibliche Geduld und ihre Unterwerfungsbereitschaft versperrten ihr den Weg in eine zweite Freiheit.

In ihrer Ehe entwickelte sie eine zweifelhafte Routine des Erduldens bei gleichzeitigem Zurückstellen eigener Bedürfnisse. Den Eskapaden ihres Gatten setzte sie das Festhalten am Ideal einer Heiligen Familie entgegen, das sie um ihrer Kinder und vor allem um ihrer selbst willen durch eine Trennung nicht aufs Spiel setzen wollte. Die Scheidung einer Ehe im Einvernehmen, also ohne das Schuldprinzip, wurde erst Ende der 1970er Jahre in einer großen Reform des Zivilrechts ermöglicht. Damit einher ging die Gleichstellung der Frau im Beruf, die bis in diese Zeit die Erlaubnis ihres Mannes benötigte, einer bezahlten Arbeit nachzugehen. Margret zog sich in die innere Emigration zurück, lebte neben ihrem Mann, vor dessen Launen und Wutausbrüchen sie ihre Kinder nicht zu schützen vermochte. In einer Ethik der Selbstvergessenheit redete sie sich ihre kaputte Ehe schön, das Schicksal einiger geschiedener Freundinnen als einsame Zurückgelassene war ihr zusätzliche Mahnung, nicht zuletzt fühlte sie sich durch das katholische Eheversprechen gebunden.

Ende der 1970er Jahre unternahm sie einen ersten Versuch, ihre leibliche Mutter kennenzulernen. Sie beauftragte einen Rechtsanwalt mit der Adressrecherche auf Grundlage der Dokumente, die ihr ihre Adoptiveltern überlassen hatten. Der Anwalt stellte fest, dass die Frau, mittlerweile Mitte 60, nicht geheiratet hatte und unter ihrem Mädchennamen in Frankfurt geblieben war, sie wohnte in einer Wohnung nahe am Günthersburgpark. Eines Tages im Herbst fuhren Margret und ihr Mann nach Frankfurt, ohne sich bei der alten Dame telefonisch oder brieflich angemeldet zu haben. Sie standen einfach vor der Tür und konfrontierten sie mit ihrer Anwesenheit. Auguste, völlig überrumpelt, wehrte alle Fragen und Vermutungen ab und erklärte ihre angebliche Mutterschaft zu Margret zu einem Missverständnis, der offenkundigen Ähnlichkeit beider Frauen zum Trotz. Hoch erregt schloss die alte Dame schließlich die Tür, ohne dass es zu einem Gespräch gekommen wäre. Aufgewühlt und enttäuscht machte sich Margret gemeinsam mit ihrem Mann wieder auf den Weg ins heimatliche Münster, für lange Zeit das Kapitel Mutter/Auguste geschlossen lassend.