Mühe

Wer ihn jemals auf der Bühne des Theaters oder auf der Leinwand des Kinos gesehen hatte, konnte ihn nicht mehr vergessen. Sein mal warmer, mal stechender Blick aus blauen Augen, dazu die sonore Stimme und die sparsamen Bewegungen, in der Summe eine zarte Leiblichkeit sondergleichen. Den größten Triumph seiner Laufbahn erlebte er noch, als ihm 2007 für den Film „Das Leben der Anderen“ der Oscar verliehen wurde. Ein halbes Jahr später starb Ulrich Mühe an Magenkrebs, er wurde 54 Jahre alt.

Ulrich Mühe wurde im Juni 1953 im sächsischen Grimma geboren, der Vater hatte eine Kürschnerwerkstatt, die Ulrichs Bruder übernahm. Nach der Schule absolvierte Mühe eine Ausbildung als Baufacharbeiter, seinen Wehrdienst musste er wegen eines Magengeschwürs abbrechen. Von 1975 bis 1979 studierte er Schauspiel in Leipzig, anschließend bekam er ein Engagement in Karl-Marx-Stadt. 1982 holte ihn Heiner Müller als Gast an die Berliner Volksbühne, im Jahr darauf wurde Mühe Ensemblemitglied des Deutschen Theaters, wo er zu einem der profiliertesten Schauspieler der DDR werden sollte und in allen Rollen des Repertoires von Shakespeare über Kleist bis Brecht brillierte. Bei der großen Demonstration am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz gehörte er zu den Organisatoren und Rednern.

Nach der Epochenschwelle 1989/91 hatte Mühe wachsenden gesamtdeutschen Erfolg, vor allem im Kino. Er trat am Burgtheater in Wien unter Claus Peymann auf und spielte in der Mediensatire „Schtonk!“ ebenso mit wie in den abgründigen Filmen „Bennys Video“ und „Funny Games“ von Michael Haneke. Populär schließlich wurde er in der Gestalt des Gerichtsmediziners Dr. Robert Kolmaar in der ZDF-Serie „Der letzte Zeuge“. Seine größte Rolle des Stasi-Hauptmanns Hans Gerd Wiesler im „Leben der Anderen“ sollte auch seine letzte werden. Ulrich Mühe, der dreimal verheiratet war und Vater von fünf Kindern wurde, starb im Juli 2007 im sachsen-anhaltinischen Walbeck, wo er auch begraben wurde und wo seitdem ihm zu Ehren eine Straße seinen Namen trägt.

„Das Leben der Anderen“ des Regisseurs Florian Henckel von Donnersmarck ist bis heute der heftigste und treffendste Film über die zersetzenden Machenschaften der DDR-Staatssicherheit. 1984, als der Film einsetzt, ist vom kommenden Reformer Mikhail Gorbatschow in der UdSSR noch nichts zu sehen. Ulrich Mühe spielt den Vernehmungsspezialisten Hans Gerd Wiesler, der zu einem operativen Vorgang auf den Dramatiker Georg Dreyman angesetzt wird. Routiniert betreibt Wiesler die Verwanzung der Wohnung Dreymans, die dieser mit seiner Freundin, der Schauspielerin Christa Maria Sieland teilt. Diese wiederum wird vom Kulturminister Bruno Hempf zu einer Affaire gezwungen, die sie aus Angst vor beruflichen Nachteilen widerwillig mitmacht. Wiesler nun hört Dreyman und Sieland in ihrer Wohnung ab, die sie für sicher halten, linientreu wie sie sind.

Als Albert Jerska, ein mit Berufsverbot geschlagener Regisseur und Freund Georg Dreymans, sich das Leben nimmt, wird der bis dahin unpolitische Dichter aktiv. Er schreibt einen Essay über den Selbstmord in der DDR, den er anonym im westdeutschen „Spiegel“ veröffentlichen will. Wiesler, der durch das Abhören von diesen Plänen erfährt, macht eine erstaunliche Wandlung zur Subversion durch. Er, der vor Jahrzehnten unter dem Motto „Schild und Schwert der Partei zu sein“ seinen Dienst bei den Organen angetreten hatte, wird nun von Zweifeln ob der Richtigkeit seines Tuns geplagt. Er verliert nach und nach den Glauben an seine Arbeit, an den Sozialismus und die DDR und sorgt durch aktive Unterlassung dafür, dass man Georg Dreyman nach der Veröffentlichung seines Textes nichts anhaben kann. Er gibt Meldungen nicht an Vorgesetzte weiter, legt falsche Fährten, versteckt belastende Gegenstände und sabotiert den eigenen Verhörvorgang. Dass er damit auch seine eigene Karriere ruiniert, nimmt er billigend in Kauf.

Diese Entwicklung eines überzeugten Stasi-Offiziers zum heimlichen Dissidenten wurde in der Rezeption des Films früh als irreal kritisiert. Mag die Figur des Hans Gerd Wiesler auch konstruiert erscheinen und mögen ihre Brüche historisch unwahrscheinlich sein, ist ihre Genese über die Dauer des Films schmerzhaft glaubhaft. Bei einem Besuch in der verwaisten Wohnung seiner Opfer nimmt der Täter Wiesler einen Band mit Gedichten von Bertolt Brecht an sich. Abends nach Schichtende liegt er auf der Couch seiner unpersönlich eingerichteten leeren Wohnung in einer Hochhausscheibe und liest ergriffen aus dem Gedicht „Erinnerung an die Marie A.“ Der allein lebende Wiesler, der keine Emotionen zu haben scheint, bekommt durch die Liebeslyrik Brechts einen zögerlichen Zugang zur Kunst, die er bisher völlig ignoriert hatte. Aus dem kalten Verhörroboter wird peu à peu ein Mann mit Gewissen, der faktisch seinen Dienst quittiert. Als Motiv drängt sich sein schülerhaftes Verliebtsein in Christa Maria Sieland auf, die er schützen will, so gut es eben geht.

Wiesler kann die Katastrophe nicht vollends verhindern. Christa Maria Sieland kommt bei einem Autounfall ums Leben, doch Georg Dreymans Autorschaft am inkriminierten „Spiegel“-Artikel kann diesem nicht nachgewiesen werden. Wiesler wird degradiert, die letzten Jahre der DDR verbringt er mit dem Aufdampfen und Zensieren von Briefen; nach der friedlichen Revolution, die seine berufliche Existenz vollends vernichtet, schlägt er sich als Prospektverteiler durch. In der tränenrührenden Schlussszene des Films betritt Wiesler eine Buchhandlung, in deren Schaufenster der neue Roman Georg Dreymans „Sonate vom guten Menschen“ prominent ausgestellt ist. Dieser hat zwischenzeitlich seine Stasi-Geschichte rekonstruiert und aus den Akten erfahren, dass ein hauptamtlicher Mitarbeiter mit dem Kürzel „HGW XX/7“ seine schützende Hand über ihn gehalten hatte. Eben diesem Offizier HGW XX/7 ist der neue Roman in Dankbarkeit gewidmet. Als Wiesler ein Exemplar kauft, antwortet er auf die Frage des Buchhändlers, ob das Buch als Geschenk verpackt werden solle: „Nein, das ist für mich.“

Ulrich Mühe gibt seinem Hans Gerd Wiesler zahlreiche Gesichter. Da ist eingangs der harte Vernehmer, der den Häftling erbarmungslos mit den immer gleichen Fragen traktiert, bis dieser nach 40 Stunden Dauerverhör schließlich kollabiert; da ist der wortkarge Protokollant, der nüchtern seine Berichte über das Mitgehörte tippt; da ist der schüchterne, fast jugendliche Leser, der durch die Dichtung Brechts eine erste Ahnung vom Zauber der Literatur bekommt; da ist der Doppelagent, der durch geschickte Fragen das Versteck einer Schreibmaschine herausfindet, nur um diese vor seinen Stasi-Kollegen zu verbergen. Dabei fehlt Wiesler eine konsistente Argumentation, die ihn weg von seinen Gewissheiten hin zum Widerstand treibt. Er macht es einfach intuitiv, seine wasserblauen Augen schauen dabei zunehmend melancholischer. Sein Mund ist noch meilenweit von einem Lächeln entfernt, aber aus seinem Antlitz ist die Genugtuung an der Qual seiner Opfer gewichenen.

Als Schauspieler, der mit dem verfemten Heiner Müller zusammenarbeitete, wurde Ulrich Mühe spätestens ausgangs der 1970er Jahre von der Staatssicherheit observiert; er ging so weit, seiner ehemaligen Ehefrau Jenny Gröllmann vorzuhalten, ihn als IM bespitzelt zu haben. Für die Vorbereitung auf die Rolle des Hans Gerd Wiesler musste er sich nach eigener Aussage nur erinnern. Mit dem „Leben der Anderen“, 2006 in die Kinos gekommen, hat die Historisierung der DDR einen ordentlichen Schub genommen. Das Konterfei Ulrich Mühes steht dabei für eine persönliche Tragödie im Strom der Geschichte mit all ihrer Wucht. Wenn es ein Signum eines bedeutenden Darstellers ist, dass man seine Züge stets erkennt, egal in welcher Rolle man ihn sieht, und er zugleich in jeder Rolle einmalig wirkt, als sei es seine erste, zählt Ulrich Mühe zu den ganz großen Mimen dieses Landes. Auch im Jahre 16 nach seinem Tod.