Das „Opfer“ hat mehrere Bedeutungen, die im Deutschen, anders als im Englischen oder Französischen, begrifflich nicht unterschieden werden. Das Sacrifice wird verstanden als Hingabe im religiösen Sinne; der Mensch opfert etwas ihm Wesentliches und Wichtiges, um Gott zu loben oder zu danken, um Schonung zu erbitten oder um ein Unrecht zu sühnen. Das Victim hingegen ist das passive Erleiden einer Erkrankung oder eines Unfalls, vor allem aber eines Verbrechens, des Diebstahls, der Körperverletzung oder des Mordes. Im ersten Fall kommuniziert der Mensch mit Gott mit dem Ziel des Gelingens eines Vorhabens, im zweiten mit einem anderen Menschen zur Missachtung der sozialen Ordnung. Der erste Fall ist der Versuch der Beeinflussung der Zukunft, der zweite zieht eine Wiedergutmachung und gegebenenfalls eine Strafe nach sich.
Kerstin sitzt weit vorn im Parkett des Theaters, für das sie bereits zu Gymnasialzeiten ein Abonnement im Theaterjugendring hatte. Sie spielte in der Theater-AG ihrer Schule mit und besuchte das Große Haus, um Stücke von Bertolt Brecht und Max Frisch sowie Darbietungen der städtischen Ballettcompagnie zu sehen. Das Theater war nach den Verheerungen des II. Weltkrieges im Jahr 1956 als erstes in Westdeutschland wiedereröffnet worden, die Architektur des jungen Harald Deilmann und seiner Kollegen wurde seinerzeit als Befreiungsschlag der Nachkriegsmoderne gefeiert. Das Treppenhaus, das sich halbkreisförmig um den Innenraum zieht und sich mit einer Glasfront zur Straße hin öffnet, wirkt anmutig und luftig. Die Balustraden der oberen Ränge sind mit beigem Flechtwerk verkleidet, an der hohen Decke hängen zahllose kleine Lampen für gleichmäßige Helligkeit und Textilsegel zur Optimierung der Akustik. Das unter Denkmalschutz stehende Gebäude gemahnt an eine begehbare Skulptur, die fast 70 Jahre nach ihrer Aufstellung nichts von ihrer stillen Kraft eingebüßt hat. Nur eine Garderobe fehlt im dunklen Foyer, die dort platzieren Schränke zur Selbstbedienung kommen arg profan daher.
Der erste Teil des Tanzabends widmet sich zu den Klängen der 3. Sinfonie Ludwig van Beethovens dem Heldenmythos beziehungsweise seiner Dekonstruktion. Beethoven hatte seine 1803 fertiggestellte Sinfonie zu Ehren Napoleons die „Eroica“ genannt, nur um rasch sehen zu müssen, dass Bonaparte nicht der anfängliche Freiheitskämpfer blieb, sondern zum Diktator mutierte. Die Männer und Frauen tanzen barfuß, anfangs lieblich, verspielt und zugewandt, im Verlauf des Stücks nach Geschlechtern getrennt. Die Männer imitieren den Gleichschritt des Marschierens, der zum Ausradieren der Individualität führen soll, die Frauen schauen ungläubig zu und müssen dabei lächeln. Das maskulin Heroische wird tänzerisch aufgehoben, etwa dadurch, dass auch eine Tänzerin einen Militärrock trägt oder dass sie, entgegen der Konvention, einen Tänzer hebt und ihn über die Schulter kreisen lässt. Die Lichtregie verzichtet darauf, einen Helden à la Achill optisch hervorzuheben; ohne diese segnende Praxis bleiben die Soldaten einfach Handwerker des Todes.
Der zweite, weitaus kürzere wie intensivere Teil des Abends bringt das berühmte Ballett „Le Sacre du Printemps“ von Igor Strawinsky auf die Bühne. Die Musik aus dem Jahr 1913 ist grell, dissonant und tut beinahe körperlich weh; sie passt aber gut zum schaurigen Inhalt der Choreographie, bei der sich eine junge Frau im Rahmen eines Frühlingsopfers im heidnischen Russland zu Tode tanzt. Anfangs tollt eine Gruppe junger Menschen übermütig um einander herum; erst als die junge Frau als Opfer ausgewählt ist, beginnen sich die anderen Tänzerinnen und Tänzer zu einer menschlichen Mauer zu formieren, die in Opposition zur vereinzelten Todgeweihten steht. In diesem Moment ist die Ballerina als Schauspielerin gefragt, die mit verkrampften Muskeln und verzerrter Mimik ihre Angst angesichts ihres Schicksals verkörpert.
Eine großartige Idee von Dramaturgie und Regie ist der gezielte Einsatz von Wasser auf der Bühne. Dieses regnet als Zeichen der Fruchtbarkeit und der Reinigung auf die Tanzenden hinab, die sich zunächst mit dem nassen Boden und der damit einhergehenden Rutsch- und Sturzgefahr arrangieren müssen. Nach der gelungenen Akklimatisation an die neuen Bühnenumstände setzt die Ensemble das Wasser grandios als Gestaltungselement ein: So werden Tänzerinnen von ihren sich um die eigene Achse drehenden Partnern mit dem Rücken über den nassen Boden geschleift, der Effekt des Aqua Planing macht es möglich. Zur Steigerung werden die Frauen dann regelrecht mit Anlauf über den Boden geschoben, meterweit und spritzend.
Die als Frühlingsopfers auserkorene junge Frau entzieht sich ihrer Bestimmung nicht, sie akzeptiert sich als Opfer der Gemeinschaft, das diese mit einer kommenden Ernte segnen und und so ihren Fortbestand garantieren soll. Das Menschenopfer ist auch im Alten Testament bekannt, in der Genesis stellt Gott Abraham sadistisch auf die Probe. Er verlangt von diesem, ihm seinen einzigen Sohn Isaak als Brandopfer zu bringen. Als Gott jedoch erkennt, dass Abraham bereit ist, sein Liebstes Gott zu Ehren zu schlachten, ist er von seinem Glauben und seinem Gehorsam überzeugt und reduziert seinen Opferbefehl auf das traditionelle Darbringen eines Widders. Dieses Entkommen ist der jungen Frau im „Sacre du printemps“ nicht beschieden, am Ende des Tanzes sinkt sie verdreckt und erschöpft zu Boden und verstirbt. Das Publikum hält es nicht länger auf den Sitzen, stehend applaudiert es der sagenhaften Darstellung und findet im Klatschen eine Erleichterung.
Das Frühlingsopfer in einer heidnischen Gesellschaft geht eng einher mit dem archaischen Kult um Dionysos, den Gott der Fruchtbarkeit und des Weines. Auch im Christentum ist dieser Bezug noch lebendig; in jeder katholischen Messe werden die Gaben am Altar geheiligt, der symbolisch angebotene Sohn Gottes in den beiden Gestalten des Brotes und des Weines wird dabei ausdrücklich als Opfer bezeichnet. Doch auch aus der entzauberten Welt der Technik und der naturwissenschaftlichen Analyse ist das Opfer nicht verschwunden, durchfährt es Kerstin bei der Heimfahrt durch die ruhige Stadt. In der Ukraine werden sei zwei Jahren zehntausende Rekruten den imperialen Herrschaftsansprüchen des russischen Regimes übermacht – auf dem Schlachtfest fallen die sakrale und die kriminelle Dimension des Opfers in eins. Hier ist es nicht Ausdruck der Interaktion, sondern der Zerstörung.