Die einschlägigen Wörterbücher (Duden, Dornseiff, Kluge) verzeichnen dieses Wort noch nicht. Im Englischen hat „queer“ die Bedeutung von seltsam, schräg, aber auch von stören; darüber hinaus ist es ein hartes Schimpfwort für schwul. Die US-Schwulenbewegung hat es in einem Akt sprachlicher Ermächtigung umgewertet, es ist zu einem Begriff des Stolzes geworden, der Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transidente (kurz LSBT) unter einem Dach vereint. In den akademischen Queer Studies wird hiermit eine Position bezogen, die tradierte Vorstellungen von Geschlecht und sexueller Orientierung hinterfragt und Kategorien von Mann und Frau als soziale Konstrukte begreift.
Markiert die Chiffre „queer“ ein Luxusproblem der urbanen hedonistischen Mittelklassemilieus westlich-liberaler Gesellschaften? Beileibe nicht, wie das Massaker in einer Bar in Orlando in Florida gezeigt hat. Dort hatte ein Mann 49 Gäste eines überwiegend von Schwulen besuchten Clubs erschossen. Zu seinen Motiven konnte er keine Auskunft geben, weil ihn die Polizei bei der Erstürmung des Clubs tötete. Ein tiefer Hass auf gleichgeschlechtliche Liebe und auf Geschlechterrollen abseits der Mann/Frau-Dualität darf dem Täter unbeschadet unterstellt werden. Offenbar stand er gedanklich der Terrorgruppe des Islamischen Staates nahe, die regelmäßig gegen Homosexuelle allerlei Geschlechts hetzt und zu ihrer Ermordung aufruft.
Queer klingt chic, leicht subversiv und obendrein nach Avantgarde. Tatsächlich ist es das Label einer vulnerablen Gruppe geblieben, eben jener Menschen, die abseits der Vorgaben der Heterosexualität leben. Fraglos haben sie in den Kämpfen der vergangenen Jahrzehnte große Fortschritte in wirtschaftlichen, politischen, juristischen und kulturellen Fragen erreicht. Aber die unheilvolle Dialektik von Anerkennung und Ablehnung macht die durchaus differente Szene verletzlich im Prozess wachsender Sichtbarkeit. Einander küssende Schwule, Lesben mit Kindern und Trans*frauen auf öffentlichen Toiletten sind für viele Menschen eine Provokation, nicht wenige geben ihr nach und schimpfen, schlagen, treten und schießen auf „sie“ ein.
Am sozialen Status queerer Menschen lässt sich das zivile Niveau eines Landes ablesen. Der Schutz der Menschenrechte dieser Minderheit korreliert in aller Regel mit der Gleichstellung von Frauen, der Pressefreiheit, der Säkularisierung und der Unabhängigkeit der Justiz. In autoritären Regimen wie etwa der Türkei, Russland, Saudi-Arabien und dem Iran werden Homosexuelle mit dem Tod, Folter oder hohen Gefängnisstrafen bedroht; ihre Auslöschung wird ideologisch oft mit dem Islam begründet, der für eine strikte Geschlechtertrennung im öffentlichen wie privaten Leben eintritt. Erschwerend kommt hinzu, dass in islamisch geprägten Ländern kein sachlicher Diskurs über Geschlecht und Sexualität eingeübt ist, zu tief sitzen offenbar Scham und Angst.
1928 veröffentlichte die englische Schriftstellerin Virginia Woolf den Roman „Orlando“, der den Weg eines jungen Adligen durch vier Jahrhunderte vom männlichen zum weiblichen Geschlecht beschreibt. Es ist ein trauriger Zufall, dass ausgerechnet in einer Stadt gleichen Namens ein Attentat auf die Gäste einer queeren Bar verübt wurde. Der Ort wird zur Mahnung, die Rechte der Lesben, Schwulen und Transen nicht für selbstverständlich zu halten – obwohl sie es natürlich sein sollten. Auch in den westlichen Staaten, die einen Pluralismus der Lebensstile feiern, gärt der Hass auf alles von der geschlechtlichen Norm Abweichende, auffällig oft unter jungen muslimischen Männern. Diese werden mit der Anwesenheit von Queeren in der Gesellschaft leben lernen müssen – sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Ein Motto für den CSD?