Reichow

  Die geistige Haltung der Großstädter zu einander wird man in formaler Hinsicht als Reserviertheit bezeichnen dürfen. – Georg Simmel

Sein Name dürfte selbst den Fachleuten der Architektur, der Stadtplanung und des Verkehrswesens heute kaum mehr geläufig sein, dabei hat Hans Bernhard Reichow (1899 bis 1974) mit seinen Thesen, Büchern und Bauten das Gesicht der deutschen Städte der Nachkriegszeit geprägt wie kaum ein zweiter Baumeister seiner Generation. Die „autogerechte Stadt“, die er in seinem maßgeblichen Buch von 1959 propagiert, hat sich bis weit in die 1990er Jahre zum Standard deutscher Stadtplanung entwickelt, deren Schattenseiten heute in einer Fülle von Verkehrs- und Siedlungsproblemen greifbar sind. Reichows Schaffen zeigt exemplarisch, wie sich die Effekte der Stadtplanung meist Jahrzehnte später und an anderer Stelle als vorgesehen zeigen.

Hans Bernhard Reichow wurde 1899 in Roggow in Pommern geboren. Nach dem Einsatz zum Ende des I. Weltkriegs begann er 1919 ein Architekturstudium in München, das er vier Jahre später in Danzig abschloss. 1927 gründete er in Berlin ein eigenes Architekturbüro, 1937 trat er aus Karrieregründen der NSDAP, deren fiebrigen Hass auf alles Urbane er insgeheim teilte, bei, 1939 wurde er zum Baudirektor von Stettin ernannt. Bei Kriegsende floh Reichow vor der Roten Armee nach Hamburg, wo er erneut ein Architekturbüro eröffnete. Nach der Wiederbelebung der Neubautätigkeit durch die Währungsreform 1948 konnte Reichow seine städtebaulichen Konzepte in zahlreichen Wohnsiedlungen exemplarisch umsetzen, bei denen er von der städtebaulichen Struktur bis hin zur architektonischen Durchbildung der Gebäude federführend tätig war. Zunächst war er an den Planungen zur Erweiterung der Volkswagenstadt Wolfsburg beteiligt, als wichtigstes Projekt konnte Reichow ab 1954 die Sennestadt in Bielefeld realisieren. Weitere nennenswerte Objekte sind die Gartenstadt Hohnerkamp in Hamburg, die Siedlung Steinrausch in Saarlouis und die Wohnstadt Limes in Schwalbach. Hans Bernhard Reichow starb 1974 in Bad Mergentheim.

Reichow erblickt, in der Tradition der Kritik der Moderne stehend, „in der Großstadt das Problem aller Stadtbaukunst“, wie er es in seinem Buch „Organische Stadtbaukunst“ von 1948 formuliert. Die Kultur der Großstadt ist für ihn eine fortwährende Zerstörung der Natur, ja deren Versteinerung, mit massiven Schäden für die psychische, physische und soziale Gesundheit des Menschen. Er spielt auf die innerstädtischen Industrieanlagen mit ihrem Lärm, ihrem Abfall und ihrem Dreck ebenso an wie auf die Enge der schlecht besonnten und durchlüfteten Hinterhöfe der Arbeiterquartiere mit ihrer chronischen Überbelegung. Diese Entwicklungen des 19. Jahrhunderts haben in der Tat die europäischen Städte im Zuge der Industriellen Revolution stark verändert, vor allem haben sie zu ihrem exponentiellen Wachstum geführt, wie es sich heute nachholend in den Megalopolen Asiens und Afrikas studieren lässt. Zur Verschärfung des für Reichow Chaotischen des großstädtischen Lebens kommt mit Beginn des 20. Jahrhunderts das Automobil als Verkehrsmittel hinzu, das das über Jahrtausende geübte Tempo des Menschen übersteigt.

Reichow bezeichnet seinen Ansatz der Stadtplanung als organisch. Als sinnliches Muster dient ihm das System der Gefäße des menschlichen Blutkreislaufes, das aus den Hauptschlagadern, den versorgenden Arterien und Venen der Extremitäten und schließlich den Kapillaren, die das Zellgewebe durchsetzen, besteht. Seine Skizzen und Pläne neu zu errichtender Wohnquartiere erinnern an das feine Geäder eines Blattes, das in der Mitte reliefartigen Charakter hat, an den Rändern hingegen immer filigraner wird. Solche der Biologie entlehnten Konzepte laufen den überlieferten Stadtgrundrissen, die vom Schachbrett- und Mühlemuster über das Diagonalsystem bis zu den Radialen und Tangenten reichen, zuwider. Reichow plant leicht romantisierend in den Jahren des Wiederaufbaus des kriegszerstörten Westdeutschlands das aufgelockerte, durchgrünte Quartier fern des Zentrums, das auf die geschlossene Blockbebauung verzichtet zugunsten einer Zeilenbauweise, die jede Wohnung mit ausreichend Platz, Licht und Luft versorgt. Zur verkehrstechnischen Erschließung setzt er paradoxerweise auf das Automobil, dem er in der Hierarchie der Mobilitäten absoluten Vorrang einräumt. Die Gesetzgebung des jungen Staates wird diesem Ansatz exemplarisch in Form der Straßenverkehrsordnung (StVO) entschlossen folgen.

In seinem Buch „Die autogerechte Stadt“ von 1959 führt Hans Bernhard Reichow seine Überlegungen zur Stadtplanung mit jenen zur Verkehrsführung zusammen. Er tritt für eine strikte Trennung der Verkehrsarten ein, die Straße soll ausschließlich dem privaten Auto vorbehalten sein, das analog zum Blut möglichst störungsfrei fließen, also fahren soll. Dies wird erreicht durch eine Verbreiterung und Begradigung der Hauptstraßen, oft unter Abriss erhaltener Gebäude, der Entfernung der Schienen der „störenden“ Straßenbahn, der Verbannung des Fußverkehrs in Unterführungen, der Vertreibung des Radverkehrs in die Reservate der Parks und ans Flussufer. Reichow verfolgt mit seiner „autogerechten“ Stadt unter anderem das hehre Ziel, die rund 12.000 Menschen, die jährlich im Verkehr ihr Leben lassen, zu retten. Anstatt aber das Auto, das in den Jahren des Wiederaufbaus zum massenhaften Statussymbol wird, zu zähmen und einzuhegen, muss nach Reichow der mittelalterliche Grundriss der Stadt in ihren Befestigungsmauern der neuen Mobilität angepasst werden. Das geht nur über massive bauliche Eingriffe in „unsere total kranken Stadtkörper“, wie er festhält.

Wie andere Architekten, Verkehrsplaner und Baustadträte seiner Generation ging auch Reichow von einem enormen Wachstum der Flotte privater PKW aus. Im Jahr 1939 waren im Deutschen Reich etwa 1,4 Mio. PKW zugelassen; 1950 waren es in der jungen Bundesrepublik bescheidene 516.000. 1959, im Erscheinungsjahr der „autogerechten Stadt“, waren es bereits 3,6 Mio.; 1979 fuhren auf den Straßen der Bundesrepublik schon 22,5 Mio. PKW. Heute sind es im vereinten Deutschland 48,2 Mio., von denen 1/3 von Frauen gehalten und gefahren werden. Reichow und seinesgleichen haben bei ihrer Eloge auf das private Automobil völlig außer Acht gelassen, dass die von ihnen großzügig entworfenen Straßen, die als innerstädtische Autobahnen die historischen Stadtkerne zerschneiden und zum tragenden Element der Zersiedelung der städtischen Agglomeration mit ihren Vororten werden, nur unzählige weitere Autos gebären. Die Folge der autogerechten Stadt ist die blecherne Besetzung öffentlichen Straßenlandes, das zum kostenlosen Parken genutzt wird. Die immer größer und schwerer gewordenen PKW verstopfen als „Stau“ nicht nur ob ihrer schieren Menge noch jede Magistrale, sie behindern als „ruhender Verkehr“ auch Rettungswagen und Müllfahrzeuge.

Dass Hans Bernhard Reichow mit seiner „autogerechten Stadt“ den Nerv einer ganzen Nation treffen konnte, lag an einer historisch wie geografisch einmaligen Konstellation. Zunächst lagen fast alle deutschen Städte nach dem Flächenbombardement der Alliierten im II. Weltkrieg zu 40 und mehr Prozent in Trümmern, die Architekten und Stadtplaner fanden die seltene Situation einer Tabula Rasa vor; sodann avancierte die deutsche Automobilindustrie nach der Währungsreform zu einem entscheidenden Wachstumsmotor des (west-)deutschen Wiederaufbaus, der von der Umstellung auf die arbeitsteilige Fließbandproduktion profitierte; nicht zuletzt eignete sich das private Auto ideal als identitätsstiftend in einer von den Alliierten geforderten unpolitischen wie exportorientierten Konsumgesellschaft, die das III. Reich nach Kräften verdrängen wollte. Die Stunde Null der Verkehrs- und Siedlungspolitik hat es in der jungen Bundesrepublik tatsächlich gegeben, auch wenn sie an frühere Visionen der Weimarer Republik und an die Autobegeisterung der Nationalsozialisten anknüpfen konnte.

Dass heute auf deutschen Straßen „nur“ noch rund 3.000 Menschen pro Jahr sterben, liegt vor allem am industriell verbesserten Schutz der Autoinsassen. Die Kollateralschäden der autogerechten Stadt sind zum Dauerthema der Stadt- und Verkehrsplaner in ganz Europa geworden. Das einstige Freiheitsversprechen des privaten PKW hat sich in sein Gegenteil verkehrt – wer heute aus dem halbwegs ruhigen Vorort zum Arbeiten in die City pendelt, hat kaum eine andere Wahl, weil der ÖPNV und auch der Fernverkehr der Bahn systematisch heruntergewirtschaftet wurden. Die erdrückende Allgegenwart der schweren PKW in den Städten ist nicht nur für die schlechte Atemluft und den krank machenden Dauerlärm verantwortlich, sie gefährdet auch das Leben und die Gesundheit von Fußgängern und Radfahrerinnen, denen gemessen am Anteil der Verkehrsteilnehmenden viel weniger sicherer Platz auf der Straße zugestanden wird als den Autos. Groteskerweise ist aus der „organisch“ strukturierten Vorstadt eine dreidimensionale Betonwüste mit Hochstraßen, Parkhäusern, Einkaufszentren, Wohntürmen und Lärmschutzwällen geworden, die Bäume nur als humanoide Vegetation kennt und den Menschen im Geist der Kybernetik zum Verkehrshindernis degradiert. Diese Entwicklungen hat Hans Bernhard Reichow nicht mehr reflektiert; er starb 1974, ein Jahr nach der Ölkrise, die als erste Mahnung des grenzenlosen Wachstums und des hemmungslosen Fortschrittsoptimismus wahrgenommen wurde.

Das Erbe der autogerechten Stadt hält sich in Deutschland hartnäckig, hier sind immerhin drei Generationen mit einer grotesken Privilegierung des privaten PKW aufgewachsen, sodass ihnen dessen bevorzugte Stellung naturgegeben erscheint. In anderen Ländern hat bereits vor Jahrzehnten ein Umdenken in der Stadt- und Verkehrsplanung eingesetzt, die auf einen vernünftigen Mix der Verkehrsträger setzt, weg vom Besitz, hin zur Nutzung. Barcelona, Kopenhagen, Amsterdam, Wien und Helsinki sind oft zitierte Beispiele „menschengerechter“ Städte, wie das Paradigma zu Beginn des 21. Jahrhunderts lautet. Hier werden im Zuge der Stadtreparatur Fahrspuren zu Radwegen gemacht, aus Parkplätzen werden Grünflächen, Durchfahrtsstraßen werden dem Rad- und Fußverkehr vorbehalten. Diese Politik orientiert sich nicht länger an der Zahl der PKW, die pro Zeiteinheit über eine Strecke X zu befördern sind, sondern an der Zahl der Menschen, die möglichst sicher, bequem und schnell ihr Ziel erreichen wollen. Der intrinsische Flächenfraß des PKW wurde von Hans Bernhard Reichow, als er die Infrastruktur des Wohnens und des Verkehrs dem Automobil zurichtete, nicht gesehen. Heutige Stadtplanung kommt nicht umhin, die Neuverteilung des öffentlichen Raumes zu diskutieren.