Riga

  Es war meine Aufgabe als Außenminister, die Grenzen unseres Vaterlandes zu vergrößern. – Wjatscheslaw Molotow

Als Kerstin mit der Air Baltic auf dem Rollfeld landet, merkt sie noch in der Maschine, dass es hier in Riga kälter ist als daheim. Während auf märkischem Sand der Frühling auszubrechen droht, nimmt hier rund 850 Kilometer nordöstlich der Winter den Weg in die Verlängerung. Mit der Straßenbahn geht es vom Flughafen in die Innenstadt, der Himmel ist grau verhangen, die Straßen sind feucht, und auf den Dächern zeichnet sich eine weiße Linie frischen Schneegriesels ab. Die Daugava liegt etwa 20 Kilometer vor ihrer Einmündung in die Rigaer Bucht bleischwer im Bett, der steife Wind über dem breiten Strom ist im Waggon zu spüren. Über der Altstadt zeigen sich erste zaghafte Sonnenstrahlen, das nahe Osterfest scheint eingeleuchtet zu werden.

Riga ist eine alte Stadt. Anfang des 13. Jahrhunderts vom Deutschen Orden gegründet, begann von hier aus und vom rund 300 Kilometer weiter nördlich gelegenen Reval die Kolonialisierung des Baltikums. Riga war Feste, Hafen, Marktplatz und Bischofssitz in einem, zudem stolzes Mitglied der Hanse. Der Handel über der Ostsee sowie über Kurland bis nach Russland, Litauen und Polen machte die Stadt reich und mächtig, bis heute zeugen prächtige Kontore und Stadtpalais im Zentrum von der ruhmreichen Vergangenheit. Nach dem Deutschen Orden herrschten die Königreiche Dänemark und Schweden über das Baltikum, unter Zar Peter I. gerieten Estland und Lettland als Westprovinzen ins Russische Reich. Im Jahr 1918 feierte Lettland seine politische Unabhängigkeit, Riga wurde Hauptstadt des jungen Staates. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt wurde Lettland 1940 und dann 1944 gegen seinen Willen der Sowjetunion eingegliedert, Riga wurde Verwaltungszentrum der Lettischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Nach der Epochenwende 1989/91 erhielt Lettland gemeinsam mit Estland und Litauen seine Souveränität zurück.

Heute ist Riga mit etwa 700.000 Einwohnern die größte Stadt des Baltikums; sie ist zudem das wirtschaftliche, kulturelle und politische Zentrum Lettlands. Kerstins Hotel liegt am Rand der historischen Altstadt (Vecriga), die als UNESCO-Weltkulturerbe anerkannt ist und als das größte zusammenhängende Jugendstilensemble Europas gilt. Die Gassen rund um das Schwarzhäupterhaus und die Alte Börse sind fast vollständig autofrei, es dominieren Kopfsteinpflaster, schmale Trottoirs, Erker, Türmchen und penibel restaurierte Fassaden in Pastelltönen. Die Zeit scheint stillzustehen in den kleinen ruhigen Straßen, auf denen die meisten Menschen zu Fuß unterwegs sind, allerdings handelt es sich hier nicht um ein Museum: Schilder verweisen auf Anwaltskanzleien, Agenturen und Arztpraxen in den prachtvollen Altbauten. Der zu erwartende Touristenkitsch mit Bernsteinketten und Bierrädern hält sich sehr in Grenzen, vielmehr kommt Kerstin an einer Buchhandlung speziell für Fotografie und Architektur vorbei und an kleinen Studios, wo junge Schneiderinnen ihre Kollektionen präsentieren.

Im Westen wird die Altstadt von der Daugava gesäumt, im Osten von der Esplanade begrenzt. Dieser Boulevard markiert das geschäftige Riga der Gegenwart, hier liegen mehrere große Hotels, Banken, Restaurants, Einkaufszentren, Bürokomplexe und auch die Deutsche Botschaft. Bis heute hat die Stadt den halbseidenen Ruf als Geldwaschmaschine der GUS, mehrere lettische und russische Oligarchen waren in den 1990er und 2000er Jahren in Finanzskandale verwickelt. Das spannungsreiche Verhältnis zwischen Letten und Russen wird auch im privat geführten Okkupationsmuseum dokumentiert; die dortige Dauerausstellung rekonstruiert die Jahre zwischen 1940 und 1991, als Lettland zunächst von der UdSSR annektiert wurde, dann bis 1944 unter deutscher Besatzung stand und schließlich endgültig Sowjetrepublik wurde. Die Deutschen haben die jüdische Gemeinde aufgelöst und Tausende Juden in die Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert, die Bolschewiki haben nach dem II. Weltkrieg zahllose tatsächliche und vermeintliche Kollaborateure nach Sibirien in den Gulag verschleppt oder gleich erschossen.

An der Oper steigt Kerstin in eine Straßenbahn Richtung Smerlis. Nachdem die Tram die blinkende Innenstadt verlassen hat, beginnt Riga auszusehen wie Ostberlin in den frühen 1990er Jahren. Der Putz blättert eifrig ab an den Häuserwänden, über den Kreuzungen sind Oberleitungen für die Straßenbahn gespannt, die Farben der Gebäude, Autos, Geschäfte und selbst der Gesichter werden fahl. Schließlich franst die Stadt zwischen Möbelhäusern, Tankstellen, Waldstücken und Sportplätzen aus. Kerstin steigt aus und geht an einem verlassenen Armeegelände zum Jüdischen Friedhof. Die weitläufige parkartige Anlage ist verwunschen wie ein Märchenwald; die Grabsteine mit kyrillischen, hebräischen und lateinischen Lettern sind verwittert und voller Moos, steinerne Umfassungen sind durch jahrelangen Druck der Baumwurzeln angehoben und zerborsten, aus den Gräbern wachsen Rhododendren, Zedern und Kiefern. Jahrzehntelange Verwahrlosung hat aus dem Friedhof ein Stück Kulturnatur gemacht, das zum Freiluftdenkmal jüdischen Lebens geworden ist und den Verfall alles Irdischen anschaulich macht. Schließlich steht Kerstin am Grab Mikhail Tals (1936 – 1992), dem 8. Schachweltmeister, wegen seines fantastischen Angriffsschachs auch „Zauberer von Riga“ genannt. Auf dem Grabstein ist sein Konterfrei eingeritzt, obenauf liegen Kiesel, am Sockel steht neben frischen Rosen eine weiße Dame.

Riga, wie auch das estnische Tallinn (früher Reval), liegt an der Schnittstelle zwischen Russland, Skandinavien und Zentraleuropa. Etwa 43 % der Stadtbevölkerung sind lettisch, gut 40 % sind russisch. In den Geschäften wird Kerstin von den Verkäuferinnen auf Russisch angesprochen, kyrillische Buchstaben sind überaus präsent, ebenso wie die Logos westeuropäischer Bekleidungsketten. Als sie in der Schlange eines Museums, das Gemälde der Impressionisten zeigt, wartet, fällt ihr eine schlanke Frau schwerdefinierbaren Alters mit vollen Lippen, Honigteint, halbmondförmigen Augenbrauen und hoch sitzenden Wangenknochen auf. Die Schönheit spricht Russisch zu ihrem Begleiter, durch die Menschen um sie herum blickt sie durch. Später nimmt Kerstin an der Karfreitagsliturgie in der katholischen Sankt Jakob-Kirche teil. Die Gemeinde besteht fast ausschließlich aus älteren lettischen Frauen, die während der gut zweistündigen Zeremonie vollauf konzentriert sind, auch dauernd auf dem blanken Steinboden niederknien und zur Huldigung des Kruzifixus eilfertig nach vorne stürmen.

Lettland ist sich wie seine Nachbarn Estland und Litauen der besonderen geografischen Lage bewusst, die zu einer erhöhten Sensibilität in Sicherheitsfragen führt. Die EU-Mitgliedschaft (2004) wird vor allem wegen der damit verbundenen Brüsseler Subventionen als günstig betrachtet, während eine Verpflichtung zur Aufnahme von Flüchtlingen abgelehnt wird; die NATO-Mitgliedschaft (ebenfalls 2004) gilt als Lebensversicherung gegenüber dem als expansiv eingeschätzten Russland. Die Jahre unter dem sowjetischen Joch sind bis heute präsent, im Jahr 30 der Unabhängigkeit wird einmal mehr des „Baltischen Weges“ gedacht, zu dem am 23. August 1989 geschätzte 2 Mio. Menschen zu einer 600 km messenden Menschenkette von Tallinn über Riga bis nach Vilnius zusammenkamen, um an das Geheime Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes zu erinnern, das das Baltikum territorial der UdSSR zuschlug. Die Schwertbrüder haben das Gesicht Rigas ebenso gestaltet wie die schwedischen Reformatoren und die baltendeutschen Adligen, zu einer Grimasse wurde es in der Zeit des Kommunismus. Diese Position ist in der heutigen lettischen Politik konsensfähig, ihre Freiheit ist den Letten besonders kostbar.

Am nächsten Morgen überquert Kerstin die Akmens Titls, schon von weitem ist der Neubau der Lettischen Nationalbibliothek am westlichen Daugava-Ufer zu sehen, ein Werk des in Riga geborenen Architekten Gunnar Birkerts (1925 – 2017), 1989 in Auftrag gegeben, aber erst 2014 eröffnet. Das markante Gebäude mit seinen 68 Metern Höhe und 13 Stockwerken türmt sich wie eine dreieckige Woge am Ufer auf, außen in Blau, Grau und Silber gehalten, innen dominieren die blonden Holztöne des Nordens. In einem Kabinett im Foyer gibt eine Ausstellung Auskunft über den Buchdruck und das Verlagswesen im Baltikum sowie über die Geschichte der Bibliothek seit ihrer Gründung 1919. In den Lesesälen sind nationale und internationale Fach- und Publikumszeitschriften verfügbar, ebenso wie Handapparate. Für wissenschaftliches Arbeiten werden Bücher aus dem Magazin beschafft, einzelne Kabinen garantieren Ruhe und Konzentration, WLAN ist flächendeckend verfügbar. Der Blick über die Daugava auf das Panorama der Altstadt mit den Türmen von Sankt Peter, des Doms und Sankt Jakob ist meditativ; die Bibliothek ist nicht nur ein Ort zum Studieren, sondern auch ein Knotenpunkt der Kommunikation für Kinder, Familien und Freundinnen. Besonders spektakulär ist die umlaufende Galerie mit dem freistehenden Treppenhaus rund um das Foyer aus poliertem Granit.

Der Ostermontag ist ein Geschenk der Sonne, passend zur Botschaft der Auferstehung. Kerstin nimmt den Regionalzug und fährt hinaus nach Jurmala, dem Hausstrand der Rigaerinnen. Der Sand ist hell und sauber, die Promenade ist frisch gefegt, die See plätschert gemächlich ans Ufer, die Luft ist sauber und klar, der Himmel ist fast schmerzhaft blau, geschmückt mit Wolken wie von Manet. Wie Perlen an einer Kette liegen die mondänen Dörfer mit ihren bunten Holzhäuschen hinter den Dünen am Strand, die Anwesen dazwischen wirken diskret hinter ihren Mauern und den SUV in der Einfahrt. Zu Sowjetzeiten war Jurmala ein ebenso begehrtes Urlaubsziel wie die Schwarzmeerküste um Jalta, Sotschi oder Batumi; nur wenigen Genossen war es vergönnt, in den Sanatorien am Ostseestrand zu entspannen. Riga stand immer für sich allein, in der UdSSR war das Baltikum von Haapsalu bis Kauguri europäisches Ausland, exterritoriales Gebiet. Dieser latent aristokratische Geist, der viel besser zum Zarenreich als zum Paradies der Werktätigen passt, ist hier am Meer wieder präsent. Wer hier wohnt und flaniert, hat es geschafft.