Schleuse

  Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie. – Gen 1,27

Es war kurz vor halb acht morgens. Kerstin stieg aus der S-Bahn und ging die Treppe hinunter zur Unterführung in die große Schwimmhalle, die Anfang der 1990er Jahre im Vorfeld einer Olympiabewerbung entworfen und gebaut worden war. Sie mochte dieses Bad, weil es über ein wettkampftaugliches 50-Meter-Becken mit zehn Bahnen verfügte; so kamen die schnellen Schwimmer ebenso zu ihrem Recht wie die planschenden und spielenden, es bot Platz für Schulklassen, Vereine und Aquafitness. In der Regel kam sie allein her, um ihre Bahnen zu ziehen, diesmal war sie mit Johann verabredet. Der Chlorgeruch war deutlich zu vernehmen.

Den Kontakt zu Johann hatte eine gemeinsame Freundin hergestellt. Sein mitgeteiltes Anliegen hatte sie berührt: Johann war ein Transmann, der im achten Monat schwanger war. Er wollte mal wieder ins Schwimmbad gehen, traute sich ob seiner kontroversen Erscheinung aber nicht allein und suchte eine Unterstützung, um die Schwelle der Umkleide und der Dusche zu nehmen, und zwar der weiblichen. Kerstin als routinierte Schwimmerin bot sich an, hier zu helfen. Die Verabredung mit Johann erfolgte über Signal, er meinte nur, mit seinem Babybauch sei er nicht zu übersehen.

Und dann kam ein junger Mann in den Vorraum, den Kerstin sofort als Johann identifizierte. Eine blaue Mütze auf dem Kopf, am Kinn ein dichter Ziegenbart, eine weite Jacke, die sich vor dem Bauch nicht mehr schließen ließ, dazu ein Rucksack mit den Schwimmsachen; seine Erscheinung war für sie fraglos männlich. Kerstin blickte ihn freundlich an und sagte: „Hallo, ich bin Kerstin, Du musst Johann sein.“ – „Ja, hallo Kerstin, schön, dass wir uns treffen können.“ Langsamen Schrittes gingen sie zur Kasse, Johann hatte sichtlich zu schleppen mit dem Kind kurz vor der Geburt. Sie kauften die Tickets und zogen im Vorraum die Schuhe aus, danach betraten sie die Frauenumkleide. Neben Einzelkabinen zum Umkleiden gab es einen größeren Raum, mehrere Wickeltische, einen Laufstall und zahlreiche Schränke zum Verstauen der Alltagskleider. Danach ging es weiter zu den nach Geschlechtern getrennten Duschen, hinter denen die eigentliche Schwimmhalle sich auftat.

Als sie im Duschraum standen und sich vor dem Schwimmen abseiften, verstand Kerstin, dass Johann sich hier unwohl fühlte und um Beistand bat. Er maß vielleicht Einsfünfundsechzig, hatte dichtes kurzes Haar und einen jetzt durchweichten Bart. An der blanken flachen Brust wiesen zwei sichelförmige Narben auf die erfolgte Mastektomie hin. Über den blauen, fast knielangen Boxershorts wölbte sich prall der Schwangerschaftsbauch, das Genital war unter den Falten des Textils nicht auszumachen, der Nabel sprang wie ein aufgeschraubter Verschluss gesondert hervor. Johann hatte die Augen geschlossen, wohl um die Blicke der Frauen nicht beantworten zu müssen. Wäre er in der Männerumkleide besser aufgehoben, fragte sich Kerstin. Er selbst denkt es nicht, meinte sie zu sich, dann ist es richtig, dass er hier bei den Frauen ist. Aus den Augenwinkeln musterte Kerstin die Anwesenden, keine von ihnen guckte ersichtlich irritiert oder richtete ein Wort des Erstaunens an Johann oder an sie.

Kerstin spürte eine existentielle Erleichterung in sich aufsteigen. Das Gefühl, eine Schwelle zu nehmen beim Duschen, war Teil ihres Schwimmens. Jedes Mal fragte sie sich insgeheim, als was die anderen Frauen sie nun wahrnahmen; sie ließ ihren schwarzen Badeanzug vor dem Schwimmen stets an, er schummelte ihr etwas Taille und Hüften an den Leib und ließ ihre kleinen Brüste etwas größer wirken. Wurde Johann durch die nicht zu übersehende Schwangerschaft nun wieder partiell zur Frau? Kerstin wusste von ihren Bekannten unter den Transmännern, dass das Testosteron bei ihnen zuerst für das Aussetzen der Menstruation sorgte, ein allseits ersehnter und als beglückend empfundener Effekt. Stimmbruch und Haarwuchs folgten Monate nach der ersten Dosis, von der Stärke individuell durchaus unterschiedlich. Johann hatte das Testosteron offenbar abgesetzt und war nun wieder empfängnisfähig, Kerstin hoffte für ihn, dass das männliche Geschlechtshormon die Eierstöcke und die Gebärmutter nur vorübergehend narkotisiert und nicht zerstört hatte. Sicherlich eine besondere Situation auch für die begleitende Gynäkologin.

Sie verließen die Dusche und traten in die Schwimmhalle, wo einzelne Bahnen abgeleint waren. Kerstin sagte: „Ich gehe zu den mittleren Bahnen, da wird gekrault und eher sportlich geschwommen.“ Johann erwiderte: „Ich bleibe besser hier am Rand, hier geht es vom Tempo wohl gemächlicher zu, genau, wie ich es möchte.“ – Prima, wir können ja in einer Stunde sehen, ob wir noch länger bleiben oder gehen wollen.“ Kerstin setzte sich ihre Schwimmbrille auf und ließ sich an der Stirnseite des Beckens ins Wasser gleiten. Sie stieß sich kräftig ab und tauchte ein paar Meter, dabei aus dem Bauch die Beine wie eine Peitsche schwingend. Sie fand ihre optimale Wasserlage und begann mit den langsamen Armzügen, bei jedem zweiten Zug über Wasser einatmend, unter Wasser ausatmend. Die Bahn war nicht sonderlich dicht besetzt, die Schwimmer hatten ein ähnliches Tempo und achteten speziell bei den Wenden aufeinander.

Gelegentlich spähte sie zu der Bahn, auf der Johann schwamm, mehr paddelte wie ein wasserscheuer Dackel. Er hatte den Kopf über dem Wasserspiegel erhoben, trat mit den Beinen auf der Stelle und bewegte die Arme kreisend vor sich. Langsam schob er sich durch das Wasser, umgeben von älteren Damen, die ihr Pensum der Wassergymnastik absolvierten. Kerstin sah, dass alles in Ordnung war und konzentrierte sich wieder auf ihre Längen. Wie eine Spindel rotierte ihr Leib um seine Längsachse, das Gesicht unter Wasser, der Blick auf den Boden gerichtet. Schultern und Arme sorgten für den Vortrieb, die Bauchmuskeln stabilisierten die Leibesmitte und verhinderten das Abknicken der Hüfte, die Beine unterstützen den Vorwärtsdrang mit gezielten Schlägen, vor allem hielten sie die Spur. Sie hatte sich von einer ehemaligen Olympiateilnehmerin in den Details des richtigen Armzugs unterweisen lassen, dessen entscheidende Phase das Abdrücken nach dem Eintauchen der Hand unter Wasser war.

Johann war der erste Transmann, den sie kennenlernte, der ein Kind bekommen wollte und eines austrug. Denjenigen, die sie bisher getroffen hatte, war alles weiblich Konnotierte ihres Körpers fremd bis zuwider; sie machten Krafttraining, um Fett abzubauen und um muskulöser zu werden, sie berichteten stolz, dass sie emotional viel gefestigter seien, seitdem sie Testosteron nähmen. Deren Erfahrungen deckten sich vice versa mit ihren eigenen. Sie erinnerte sich noch genau daran, wie sie nach der ersten Gabe von Östrogenen anders zu riechen begann, wie putzige Hügelchen ihre Brust bewuchsen, wie ihr Unterleib stillgelegt wurde, wie ihre Haut weicher wurde, wie die Behaarung nach und nach zurückging. Ein Kind wollte sie nicht bekommen beziehungsweise zeugen, eine Samenprobe für alle Fälle hatte sie nicht einfrieren lassen. Wie war Johann schwanger geworden? Die Frage ging sie nichts an, sie hoffte für ihn, dass er das Kind in einer Beziehung würde großziehen können.

Nach einer runden Stunde kletterte Kerstin aus dem Becken, nahm die Schwimmbrille ab und ging zur Bahn, wo Johann noch im Wasser war. Als er sie sah, schwamm er zum Ausstieg und stieg aus dem Becken. Er lächelte glücklich und sagte: „Das hat so gut getan, das Gewicht des Kleinen einmal nicht zu tragen. Wunderbar!“ – Das freut mich, magst Du noch bleiben oder wollen wir gehen?“ – „Von mir aus können wir gehen, ich bin schon etwas erschöpft.“ Sie nahmen ihre Handtücher vom Haken und gingen wieder in den Duschraum. Kerstin zog sich aus und schäumte ihre langen Haare mit einem Shampoo und einer Spülung ein, auch die Achseln und die Neovagina damit bedenkend. Hier an diesem Ort, wo Öffentlichkeit und Intimität sich kreuzen, war sie sich ihres Körpers mit all seinen Makeln vollauf bewusst; auch wenn der Aufenthalt in dieser Schleuse für sie nichts Neues mehr war, saß doch ein Schamrest hartnäckig unter ihrer Haut. Doch wofür schämte sie sich eigentlich? Dass sie von den Idealmaßen einer Frau meilenweit entfernt war? Dass ihre Silhouette unabweisbar maskulin war? Dass sie mehr tun musste als die anderen Frauen, um sich hier rechtmäßig aufzuhalten?

Sie ahnte, dass sie diese Gedanken bis zum Ende ihrer Tage plagen würden. Sie wusste aber auch, dass sie sich von der damit verbundenen Peinlichkeit nicht abhalten ließ, Schwimmen zu gehen – auch und gerade weil das bedeutete, sich dem Defilee der weiblichen Körper auszusetzen und sich einzureihen. Beim sprichwörtlichen Sehen und Gesehenwerden nahm sie eine wechselseitige Billigung wahr, keine missgönnte der anderen die Anwesenheit, weder ihr noch Johann. Vielleicht ist Deine Angst vor Ablehnung unbegründet, dachte sie in stiller Zufriedenheit, für Transfrauen wie für Transmänner ist hier Platz. Als sie sich abgetrocknet, die Haare gerichtet und wieder angezogen hatten und in der Vorhalle standen, fragte Kerstin: „Wann ist es denn so weit mit der Geburt?“ – „Meine Hebamme meint, es seien noch drei bis vier Wochen.“ – Prima, ich wünsche Euch beiden alles Gute.“ – „Danke Dir. Und danke für die heutige Begleitung, das war mir wirklich wichtig.“ Kerstin streichelte ihm über den Oberarm und meinte: „So gehört sich das, unter Geschwistern.“