Schmerz

Der Schmerz bleibt über Nacht. Während er tagsüber mit einem miesen Spannen in der Kniekehle jeden Schritt hemmt, versucht Kerstin im Bett vergeblich eine Position zu finden, wo das geschwollene Knie nicht drückt und sticht. Als sei eine harte Kugel ins Gelenk eingelassen, zu groß für die Kapsel, mit nervösen Ausstrahlungen bis in den Spann. Jede Streckung des Beines kann zu einem Krampf der Wadenmuskulatur führen. So fällt es ihr schwer, den ersehnten Schlaf zu begrüßen, auch im Liegen wird der Leib zur Last.

Der Pschyrembel definiert den Schmerz als „unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktuellen oder potentiellen Gewebeschädigungen verknüpft ist“. Kerstin ergänzt: Der Schmerz ist eine Demütigung, sie empört sich über ihre Schwäche, er nimmt über Gebühr Raum in ihrem Leben ein. Er erinnert sie daran, dass ihre Mobilität und ihre Selbstbestimmung ein schnelles Ende finden können; mit schwankender Heftigkeit erschwert er die Fortsetzung des Alltags. Treppensteigen, Einkäufe und Toilettengänge können zu Expeditionen werden, die mentale Konzentration und Arbeitsfähigkeit zu halten gerät zur Herausforderung.

Gegebenenfalls greift Kerstin zu Tilidin, einem Opioid mit der Potenz von etwa 0,4 im Vergleich zu Morphin. Es blockiert an den schmerzleitenden Strukturen im Rückenmark und im Hirn die entsprechenden Rezeptoren und hebt das Schmerzempfinden auf. In Form einer Retardtablette wird die erlösende Substanz über einen Zeitraum von rund zwölf Stunden gleichmäßig im Organismus freigesetzt. Abends spürt Kerstin neben dem Verblassen des Reißens eine milde Euphorie bei febrilem Schwindel, nachts bleibt sie von Albträumen verschont, der Morgen beginnt im Drogenschatten. Der Name des Morphins, Anfang des 19. Jahrhunderts synthetisiert, geht zurück auf Morpheus, in der griechischen Mythologie der Gott des Traumes und Sohn des Hypnos, des Gottes des Schlafes.

Dank des Fortschritts der modernen Medizin und der Pharmakologie liegt heute eine breite Palette an Medikamenten für jede Einsatztiefe vor, chirurgische Eingriffe am anästhesierten Patienten sind Routine. Ungeachtet seiner symptomatischen Betäubung bleibt der Schmerz ein konstituierendes Element des Lebens, er ist eine für das Überleben wichtigte Sinneswahrnehmung. Er gilt im medizinischen Krankheitsmodell als Signal einer physischen Schädigung, verlässlich stoppt er ein Verhalten, das den Defekt etwa nach einer Verletzung noch vergrößerte. Dabei kann der Schmerz als Ausdruck eines Grundleidens auftreten oder als chronische Erscheinung selbst eine pathologische Qualität entwickeln.

Der Schmerz an sich ist unsichtbar – das verzerrte Gesicht, das Stöhnen, die Wunde, das Blut, die Narbe, die abnormen Werte im Labor, die Erstarrung, die Tränen verweisen lediglich auf ihn. Der Umstand, dass Analgetika in differenten Stärken verfügbar sind, provoziert das trügerische Selbstbild des heutigen Menschen, unangreifbar zu sein, als habe er in Drachenblut gebadet. Im Wort „peinlich“ schwingt das aggressive Berührtsein über den offenen Schmerz eines Dritten mit: „Wie seltsam, die Lebensscham der Kreatur, die sich in ein Versteck schleicht, um zu verenden – überzeugt, daß sie in der Natur draußen keinerlei Achtung und Pietät vor ihrem Leiden und Sterben zu gewärtigen hat, überzeugt hiervon mit Recht, da ja die Schar der schwingenfrohen Vögel den kranken Genossen nicht nur nicht ehrt, sondern ihn in Wut und Verachtung mit Schnabelhieben traktiert.“ schreibt Thomas Mann im „Zauberberg“.

Das Schicksal der Passion trifft Jesus Christus, der Kruzifixus ist das stärkste Bild des christlichen Glaubens. Zu seiner Zeit im Römischen Reich war die Kreuzigung eine besonders grausame Art der Hinrichtung, die als Schauspiel vollstreckt wurde. Der Verurteilte hing 48 Stunden oder länger am Holz, bis seine letzten Kräfte versagten und seine Schultern den verspannten Rumpf nicht länger halten konnten, er nach vorn kippte und elend erstickte. Krämpfe, Durst, Hitze und Fliegen machten die Kreuzigung zu einer perfiden Tortur; zur Beschleunigung des Sterbens wurden den Verurteilten manchmal die Schienbeine gebrochen, sodass die Knochen den Oberkörper nicht mehr stützen konnten, dieser nach vorn sank und der Lungenkollaps begann.

Diese abschreckende Tötungspraxis galt im Römischen Reich bis zum Beginn des vierten Jahrhunderts, als Kaiser Konstantin nach seiner Bekehrung das Christentum zur Staatsreligion erhob. Den schändlich Gemarterten beten die Christen (m/w/d) als ihren Erlöser an. Die katholische Malerei des Mittelalters stellt Jesus bevorzugt als Schmerzensmann dar, hilflos am Balken, blutend mit Dornenkrone, vom Pöbel verspottet. Seinen Kreuzweg durch die Via Dolorosa nach Golgatha begehen sie jedes Jahr zu Ostern. Als Mensch ist er dem Sterben ausgeliefert, als Gott ersteht er aus dem Grab. Seine Wunden verbirgt er nicht, sondern hält sie als Ausweis des Wunders den ungläubigen Aposteln hin. In der Feier des Schmerzes und seiner Überwindung liegt das Revolutionäre des Christentums – credo quia absurdum.

Kerstins irdischer Schmerz rührt von einer fortgeschrittenen Gonarthrose her. Sie hat das Spektrum der konservativen Therapie durchmessen, von der Akupunktur und der Injektion entzündungshemmenden Kortisons über Einlagen zur Achsenkorrektur und Gymnastik zur Kräftigung der Muskulatur bis zur Bandagierung der lädierten Struktur und regelmäßiger Kühlung. Die Perspektive einer Prothese erscheint ihr erniedrigend, als ein Schritt über die Grenze des Alters zur Behinderung. Die Aussicht auf ein Nachlassen des Schmerzes lockt zwar, das Risiko einer Infektion und Versteifung des künstlichen Knies aber droht und lässt sie Vergessen im Tilidin suchen. Gäbe es doch nur die Hoffnung, nach einer Operation wieder unbeschwert im Wald laufen zu können.

Extremer Schmerz unter der Folter, beim Tumordurchbruch oder während der Wehen lässt dem Menschen nur noch den Schrei. Diesen Grad kennt Kerstin noch nicht, allerdings ist ihr Schmerz Dauergast im Kopf. Ihre Strategie zur Bewältigung heißt Kompensation: Sie trägt keine hohen Absätze, vermeidet das Schleppen schwerer Lasten, hält ihr geringes Gewicht, schwimmt und fährt Rad ohne Stoßbelastung der Knie. Sie lächelt, wenn nach einer Ausdauereinheit im Sattel oder im Becken die Endorphine fluten. Sie visualisiert die heilende Intelligenz ihres verkrüppelten Beines, das ihr einen fließenden Gang und eine aufrechte Haltung geben möge. Sie will sich der Welt nicht als leichte Beute zeigen, den Schmerz atmet sie ab.