Sodom

  Male inverts make good husbands –
Gregory Woods

Die biblische Stadt Sodom wird von Gott verflucht und schließlich vernichtet. Über ihre Bewohner heißt es, dass sie sehr böse waren und schwer gegen den Herrn sündigten (Gen 13,13). Was genau die Bewohner Sodoms und Gomorras getan haben, bleibt unbestimmt; auch für Abraham, der die drohende Zerstörung der Städte aufhalten will, indem er „Gerechte“ unter ihnen finden will (Gen 18,20-33). Schließlich lässt der Herr Schwefel und Feuer auf Sodom und Gomorra regnen und tötet all ihre Bewohner (Gen 19,23-25). Im übertragenden Sinn steht die Wendung „Sodom und Gomorra“ für ein heilloses Durcheinander, etwas konkreter für eine Höhle des Lasters. Unter der Sodomie wurde im sexuellen Sinn die Unzucht mit Tieren verstanden, etwas weiter gefasst stand sie lange für männliche Homosexualität respektive deren Analverkehr.

Der französische Autor Marcel Proust (1871 – 1922) gibt dem vierten Band seines monumentalen Romanzyklus A la recherche du temps perdu den sprechenden Titel „Sodome et Gomorrhe“. Dem im Jahr seines Todes erschienenen Band stellt Proust die Losung „La femme aura Gomorrhe et l’homme aura Sodome“ von Alfred de Vigny voraus. In einer der berühmtesten Passagen des Zyklus beschreibt Proust das „Auftreten der Weibmänner, der Nachkommen jener Einwohner Sodoms, die das Feuer vom Himmel verschont hat“. Der Ich-Erzähler wird per Zufall heimlicher Zeuge eines Flirts zwischen zwei Männern, der in einen Tanz sexueller Lust und schließlich den Akt ihrer Befriedigung übergeht. Die für den Erzähler große Überraschung ist das feminine Gebaren eines der beiden Beteiligten, den er von seinen Besuchen in den Salons der Pariser Aristokratie als entschieden maskulin und heterosexuell kennt:

„In die Sonne blinzelnd schien er beinahe zu lächeln; ich entdeckte in seinem dergestalt in der Ruhe und gleichsam in natura vor mir liegenden Gesicht etwas so Liebevolles, so Wehrloses, daß ich mich nicht enthalten konnte zu denken, wie entrüstet Monsieur de Charlus gewesen wäre, hätte er gewußt, daß ihn jemand in dieser Sekunde sah; denn woran ich beim Anblick dieses Mannes, der so auf Männlichkeit hielt, ja ganz verliebt in sie war, der alle anderen viel zu weibisch fand, plötzlich denken mußte, war – weil er vorübergehend die Züge, den Ausdruck, das Lächeln einer solchen an sich trug – eine Frau.“

Baron Palamède de Charlus ist einer der bekanntesten Männer des exklusiven Faubourg Saint-Germain, belesen, kunstbeflissen, spöttisch, eitel und snobistisch. Er brüstet sich mit seinen Affairen zu seinen Maitressen und hält seine verstorbene Ehefrau in Ehren. Und dieser alternde, schwer reiche Don Juan hat eine ganz andere, dunkle Seite, seine eigentliche, wie es dem Voyeur in seinem Versteck dämmert. Er liebt die Männer, kann das aber in der Welt der Salons des Fin de Siècle nur im Verborgenen tun. Er spielt auf der Bühne der prächtigen Empfänge eine doppelte Rolle, die des angehimmelten hochmütigen Adligen, dessen Familie bis ins 11. Jahrhundert zurückreicht, sowie die des zärtlich Begehrenden und Lasterhaften, dem zur Vereinigung nur die Kulissen bleiben. Zur Camouflage gehört, wie es dem Erzähler aufgeht, eine besonders schroffe Haltung gegenüber verführerischen jungen Männern, um sein (wie er meint) Inkognito zu wahren.

Proust beschreibt männliche Homosexualität, als deren Exponent Baron de Charlus vorgestellt wird, durchaus wohlwollend, ohne moralische Wertung und keineswegs so alttestamentarisch zornig, wie über Sodom in der Genesis zu lesen ist. Die Begriffe, derer er sich bedient, sind dem 19. Jahrhundert entlehnt, das erstmals eine medizinische Pathologie des Sexuallebens aufstellt und den heterosexuellen Verkehr zur Norm erklärt, getreu der katholischen Kirche. Der Begriff des „Invertierten“ verweist auf die Wendung nach innen, also auf das eigene Geschlecht bei der Wahl des Objektes der Begierde. Der Begriff des „Urnings“ zeigt auf den Planeten Uranos, der in der Lyrik zur Heimat der gleichgeschlechtlich Liebenden verklärt wird. Der Autor Proust beschreibt die Homosexualität als Abweichung vom heterosexuellen Ideal, ganz im Einklang mit der sich zeitgleich entwickelnden Psychoanalyse – und genau wie diese ohne den Furor der Verdammung.

In den Salons des Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist die Affaire Dreyfus um den des Hochverrats angeklagten jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus ein Dauerthema. Sie macht es für die wenigen assimilierten Juden, die es bis an die Spitze der französischen Gesellschaft geschafft haben (im Roman exemplarisch vertreten durch Charles Swann), noch schwerer, ihre Position zu behalten, gelten sie doch im Urteil der anderen als potenzielle Verräter und „unechte“ Franzosen. Proust, Sohn einer jüdischen Mutter und eines katholischen Vaters, zieht eine Analogie zu den Homosexuellen, die dem Komment der Gesellschaft entsprechen möchten respektive müssen und sich über ihre wahre Natur tarnen, so gut es ihnen gelingt. Doch auch über den Baron de Charlus sind Gerüchte über eben diese Neigungen im Umlauf, die ihn zu umso herrischerem Auftreten animieren. Selbstverständlich beteiligt er sich nicht an den Gesprächen über den Prozess gegen den Dichter Oscar Wilde in London oder über die Eulenburg-Affaire am Hof des deutschen Kaisers Wilhelm II.

In der dekadenten Welt der Salons mit ihrem dolce far niente sind es die endlosen Plaudereien voller Esprit, die die Gäste der Soireen erheitern. Das meiste des Gesprochenen erfahren die Personen aus zweiter oder dritter Hand und geben es portionsweise weiter. Dieser typische Klatsch lebt just davon, dass das Wissen über andere unvollständig ist – gerade im Verborgenen, Vermuteten und Gedachten gedeiht ihre Anziehungskraft. Dabei ist die Homosexualität im Alter, wie bei Charlus, eher tragisch, weil durch Einsamkeit und Zurückweisung gekennzeichnet, während die Attraktivität der Jugend sich selbst genügt. Proust verwendet bei der Skizzierung seines sodomitischen Zeugen Charlus die Metapher von der weiblichen Seele in einem männlichen Körper; zur Zeit der Abfassung des Romans sind Homosexualität und Transidentität weder begrifflich noch klinisch geschieden. Erst mit der Synthetisierung der Geschlechtshormone in den 1920er und den ersten genitaltransformierenden Operationen Anfang der 1930er Jahre werden körperliche Manipulationen und damit geschlechtliche Rollenwechsel möglich; die Ausdifferenzierung eines schwulen und lesbischen sowie transidentischen Stolzes vollzieht sich nochmals 40 Jahre später.

Während der Held der Suche sich ausschließlich in Frauen verliebt, liegt die Sache bei ihrem Autor komplizierter. Marcel Proust hat sich gar duelliert, um Gerüchten über seine eigene Homosexualität entgegen zu treten; tatsächlich genoss er seiner Lieben wegen keine sozialen Nachteile. Durch das große Erbe seiner Eltern sah er sich in die Situation versetzt, sein Leben seinen Lüsten und der schriftstellerischen Arbeit zu widmen; wenn er auch Affairen mit Damen der Gesellschaft hatte, fand er wahre Erfüllung nur bei Männern, häufig bei solchen unterhalb seines großbürgerlichen Standes. Seinen – verheirateten – Chauffeur liebte er unerwidert, stellte ihn als Sekretär an, finanzierte ihm eine Pilotenausbildung und schenkte ihm ein Auto. Nach dessen Unfalltod 1914 zog Proust sich vollends in seine Wohnung zurück und arbeitete bis zum Lebensende an der Suche.

Während die Männer Sodoms in der Suche beobachtet werden (wenn auch durchs Schlüsselloch) und zum Gegenstand der Konversation avancieren, bleiben die Frauen Gomorras weitgehend unter sich. Ihr Begehren ist noch mehr als das der Männer Thema des Tratsches, des Vielleicht, der Vermutungen und der Verhöre. Albertine Simonet, die der Erzähler liebt und die er nach einer Phase des Überdrusses bei sich in der Wohnung einsperrt, soll dem Vernehmen nach Frauen lieben. Dieses gleichgeschlechtliche Begehren entfacht im Erzähler eine rasende Eifersucht, von der er sich zu heilen trachtet dadurch, dass er Albertine überwacht, so gut er kann. Das Ausgeschlossensein von weib-weiblichen Freuden lässt den Erzähler der Suche schier verzweifeln – dabei bleibt bis zu Albertines Tod offen, ob sie denn tatsächlich in Gomorra wohnte. Heute gilt es in der Literatur als gesichert, dass Proust in der Person der Albertine verschleiert seinem Geliebten Alfred Agostinelli Gestalt verlieh. Das Rätsel der Homosexualität hat selbst der wortmächtige Autor Marcel Proust nicht lösen können – auch diejenigen, die dem Himmelsfeuer über Sodom und Gomorra entronnen sind, brauchen eine Frau respektive einen Mann, um sich in die nächste Generation fortzupflanzen. Eine Laune der Natur, wie die Befruchtung der Blüte durch die Hummel, durchaus gottgefällig.