Gut möglich, dass die Menschen im mittleren Europa gerade in einer Übergangszeit leben. Der Sommer als Jahreszeit des Leichtsinns, der Freude und der Offenheit wird angesichts der chronischen Dauerhitze zu einer Jahreszeit des Stresses und der Qual. Die endlosen Tage mit Temperaturen jenseits der 30 Grad werden deutlich mehr, der ausbleibende Regen führt zu verdorrten Feldern, vergilbtem Rasen und versandenden Wegen. Verzweifelte Bäume werfen ihre trockenen Blätter bereits im August ab, weil sie kein Wasser mehr ziehen können. Die versiegelten Städte speichern die Hitze des Tages und werden nachts zu Backöfen, in denen die Menschen keinen Schlaf mehr finden. Giorgio de Chirico wäre der Maler der Stunde, der charakteristische Schatten auf seinen Bildern wird von den Menschen und auch Tieren instinktiv aufgesucht.
Kerstin hatte ursprünglich geplant, mit dem Rad durch das Baltikum zu fahren. Von Danzig sollte es durch Masuren an der Wolfsschanze vorbei gen Osten gehen, durch den Korridor von Suwalken nach Litauen. Dann weiter nach Kaunas, der europäischen Kulturhauptstadt 2022 und von dort weiter Richtung Siauliai. Schließlich weiter nach Norden ins geliebte Riga in Lettland, um von dort der Ostseeküste bis hinunter nach Klaipeda zu folgen, um dort eine Fähre zurück nach Rostock zu besteigen. Doch instinktiv entschied sie sich gegen diese Tour, die Wetterlage im August gab ihr nachträglich recht. Eine sogenannte stabile Hochdruckzone hatte den nördlichen Teil des Kontinents von der Normandie über Pommern bis hinauf nach Petersburg unbarmherzig im Griff. Das Radeln wäre unter der gleißenden Sonne zum Mahr geworden, auf schlechten staubigen Pisten mit der täglichen Sorge um ein geeignetes Nachtquartier.
Stattdessen fährt Kerstin zur Sommerfrische in die westfälische Heimat. Das Zimmer, in dem sie ihre Jugend verbracht und ihr Abitur gemacht hat, erwartet sie mit einer Grundausstattung aus Bett, Stuhl, Regal und Schrank inklusive Wlan. Seine Fenster gehen nach Osten, sodass die Morgenglut das Zimmer nur kurz streift und es zum Abend vergleichsweise kühl ist. Überhaupt bietet das komfortable Haus ausreichend Platz zur Erholung, sei es der Keller mit dem Spinningrad, der große Garten mit der kupierten Eiche und der unter dem Wein verschwundenen Pergola, die Terrasse oder der Balkon, jeweils mit Jalousien erträglich zu verschatten. Wenn Kerstin frühmorgens die Zeitungen aus der Röhre über dem Briefkasten nimmt, macht sie ein paar Schritte durch den Garten; ihre nackten Füße werden vom kühlen Gras und ein wenig Tau gepflegt.
Die gut 60 Jahre alte Siedlung mit ihren Einfamilienhäusern und Mietwohnungen, zentrumsnah am See und zugleich abgeschieden, ist angelegt nach dem Prinzip der Gartenstadt, mit ausladenden Wiesen, mit blickdichten Hecken, wuchernden Sträuchern und hohen Bäumen, bei wenig Autoverkehr. Mit Verlassen des Hauses kann Kerstin einen Spaziergang durch das Quartier beginnen, den sie nach Lust und Laune in der Länge variiert. Unterwegs hört sie die Geräusche der Natur und der Menschen, das Geschrei der Kinder weht von der nahen Kita herbei, das Singen der Drosseln und das Picken des Spechtes mischen sich dazwischen, die Glocken des Klosters rufen zur Sext und zur Vesper. Gegen Mittag lastet die lähmende Hitze über allem und erstickt die kreatürlichen Regungen. Im Vorgriff auf die südliche Praxis der Siesta halten sich die Menschen hinter den geschlossenen Läden auf und essen leichte Mahlzeiten aus Salat und Joghurt.
Hier lässt sich der Alltag locker mit dem Fahrrad bewältigen, auch der Oberbürgermeister tritt regelmäßig in die Pedale, auch wenn keine Fotografen in der Nähe sind. Kerstin verlässt gegen halb sieben das Haus, mischt sich in den beginnenden Berufsverkehr und radelt an den Ostrand der Stadt ins Freibad. Wie gut es tut, im klaren Wasser ihre Bahnen zu ziehen, um diese Zeit kommen nur disziplinierte Gäste zum Schwimmen; unsagbar weit weg ist der Reichshauptslum mit seinen Horrorgeschichten über prügelnde Migrantenhorden im Freibad. Schon beim zweiten Besuch merkt Kerstin, dass ihre Kraultechnik und ihre Ausdauer sich verbessert haben, durch die ewige Sperrung des öffentlichen Lebens konnte sie viel zu lange nicht Schwimmen gehen. Das Gefühl der wohligen Ermattung nach über einer Stunde im Becken begleitet sie den ganzen Vormittag.
Der örtliche Schachverein, wo sie vor weiland 45 Jahren spielte, feiert heuer sei Jubiläum und lädt zu zwei Turnieren in die Stadthalle im Vorort. Kerstin stellt ihr Rad ab und wird im Foyer von angenehm klimatisierter Luft empfangen. Sie meldet sich für das Schnellschachturnier an, zahlt fünf Euro Startgebühr und streift erwartungsvoll durch den Spielsaal. Viel Platz zwischen den Tischreihen und den Brettern, gute Luft dank der hohen Decken, eine passende Beleuchtung. Das Turnier über sieben Runden im Schweizer System verläuft ganz nach Wunsch. In der ersten Partie verzettelt sie sich mit einem Königsangriff und verliert eine Figur, bekommt aber ein Endspiel mit starken Freibauern, das der Gegner auf Zeit verliert. Danach spielt sie positionell überlegen und zwingt ihre Gegner der Reihe nach mit druckvollem Schach zur Aufgabe. Nur die sechste Partie remisiert sie ökonomisch durch Zugwiederholung, in der abschließenden siebten Partie steht sie etwas schlechter, kann aber am Damenflügel kontern und das entstehende Turmendspiel lehrbuchhaft gewinnen. Für den 1. Platz bekommt sie ein Preisgeld von 50 Euro, gelassen lächelt sie in die Kameras.
Auch tut sie etwas für ihr Seelenheil. Die Domstadt verfügt über eine ganze Reihe an – angenehm kühlen – Kirchen, sodass sie praktisch täglich an katholischen Gottesdiensten teilnehmen kann. Da wäre etwa das nahe Stephanus, geweiht im Jahr ihrer Geburt, das langsam zur Ruhe kommt nach den unschönen Umständen der Ablösung des beliebten Pfarrers im vergangenen Jahr; oder Anna, ein Kirchbau aus der gleichen Zeit, aber nicht aus Klinkern, sondern aus Sichtbeton, ein Werk des lokalen Architekten Harald Deilmann; oder Heilig Geist im Stil der Neuen Sachlichkeit der 1920er Jahre mit einem Pfingstmosaik in der Apsis und einer leider miserablen Akustik; schließlich die Abtei Gerleve in den Baumbergen, von jeher ein Ort der Ruhe und Kraft der Benediktiner mit ihrem formidablen Chorgesang; nicht zuletzt das Kloster Canisius in der Nachbarschaft, wo sie praktisch zur Familie gehört, das mit seinen alten Brüdern in Zivil wie ein Pflegeheim daherkommt.
Kerstin nutzt das Neun-Euro-Ticket für eine Bahnfahrt nach Enschede gleich hinter der niederländischen Grenze. Die Coffeeshops, die sie aufsuchen will, sind problemlos auf Google Maps zu finden, mit freimütigen Kommentaren der Kundschaft. Die lizensierten Läden sind zentral gelegen, allerdings nicht inmitten der Fußgängerzone, sondern in den schmalen Seitenstraßen; ihre Fenster sind neutral verklebt wie in Deutschland jene der Spielotheken, Wettbüros und Sexshops, damit aus Gründen des Jugendschutzes Passanten nicht mitbekommen, was im Inneren geschieht. Kerstin wirft einen kurzen Blick auf die Menükarte und deckt sich mit dem Gewünschten ein, anschließend schlendert sie noch über den Oude Markt mit der Grode Kerk und genießt die sprichwörtliche Lässigkeit der Niederlande. Sie meint, den Duft der harzigen Ware in der Tasche selbst im Freien zu erschnuppern.
Ihre Geburtsstadt wurde einmal zur lebenswertesten Stadt der Welt gewählt, eine Einschätzung, die sie nachvollziehen kann. Viele Studenten, viele Beamte, viele Kleriker, dazu die selbstbewusste Kaufmannschaft und die Osmose mit dem bäuerlichen Umland machen die Stadt lebendig, wohlhabend und langsam zugleich. Der Aufenthalt tut Kerstin bereits beim ersten Atemzug am Bahnhof gut, auch in der Hitze des August ist die Luftqualität herausragend. Von der ersten Nacht an schläft sie gut und tief, die Entspannung umfasst Leib, Nerven und Seele. Die Stadt wirkt auf sie sehr westdeutsch und scheint sich selbst genug, sie käme locker ohne die 1990 hinzugekommenen Bundesländer aus. Belustigt liest sie in der Lokalpresse die Posse um einen Mann, der sich im Führerhäuschen eines Krans eingerichtet hat und damit über Wochen die Arbeit auf einer Baustelle lahmlegt, ohne dass die Polizei einschritte. Felix Monasteria, wenn Du solche Sorgen hast.
Die heilende Wirkung des Urlaubs liegt in der freien Verfügung über die eigene Zeit. Kerstin sitzt auf dem Balkon und beobachtet das Eichhörnchen, das durch die Zweige klettert und eine Nuss nach der anderen knackt. Sie versinkt in stundenlangem Lesen und verfolgt die Partien der Schacholympiade in Chennai. Sie besucht ihre Mutter auf dem Friedhof und stellt bei dieser Gelegenheit auch anderen Verstorbenen ein Grablicht in die Laterne. Ihr Brotberuf mit seinem Gezerre liegt ganz weit weg, kein Gedanke an das Büro belästigt sie hier im westfälischen Frieden. Sie ist ganz bei sich, ernährt sich automatisch vernünftig und legt die schützende wie einengende Haut der Metropole ab. Vermutlich hat Thomas Mann dergestalt betulich seine Sommerfrische an der Kurischen Nehrung verlebt. Das Einzige, was Kerstin bei ihren Ferien im Elternhaus vermisst, ist der erlösende Regen, der partout nicht fallen will. In ihrer Kindheit war ihre Heimatstadt berüchtigt für die dauernden Schauer, es war ein Festtag, wenn sie in der Schule für die letzte Stunde hitzefrei bekamen.