Speicherstadt

An einem zauberhaft sonnigen Ostermontag macht Sascha eine Fahrradtour durch den Norden Münsters. Ihr besonderes Augenmerk gilt dem Stadtteil Coerde, der Anfang der 1960er Jahre als Großsiedlung am Reißbrett geplant und in nur acht Jahren Bauzeit bis 1970 errichtet wurde. Dominant sind Reihen- und Mehrfamilienhäuser in Zeilenbauweise, ergänzt um einzelne markante Punkthochhäuser. Im Zentrum sorgt der Coerdemarkt für die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Dienstleistungen, direkt daneben kümmert sich die katholische Kirche St. Norbert um ihr Seelenheil. Der Standard der Wohnungen und Häuser mit Zentralheizung, Bad und Balkonen machte die Gegend seinerzeit attraktiv, heute gilt der Stadtteil eher als Problemgebiet mit einem überdurchschnittlich hohen Anteil an Empfängern von Transferleistungen und Ausländern.

Sascha passiert die alte Justizvollzugsanstalt an der Gartenstraße, verlässt die Kernstadt Münster und nimmt mit dem Hohen Heckenweg die direkte Verbindung Richtung Coerde. Hinter dem ersten Punkthochhaus öffnet sich eine große Wiese, die alte Provinzhauptstadt Münster wird westfälisch ländlich, sodass sie richtig hineinfährt in den Stadtteil im Norden. Von den Bauten überwiegend im roten Klinker könnte es sich auch die Aaseestadt handeln, ein nur unwesentlich älteres Viertel im Südosten der Stadt, ebenfalls konzipiert zur Schaffung von Wohnraum für die wachsende Bevölkerung. Die Häuser sind mit Gärten versehen, zwischen den Wohnriegeln blüht reichlich Abstandsgrün. Auswüchse des Brutalismus der 1960er Jahre sucht man hier vergebens, einzig am Coerdemarkt wird Beton nicht nur als Konstruktions-, sondern auch als Gestaltungselement eingesetzt. In der Summe wirkt Coerde wie die Verwirklichung des Ideals der Gartenstadt, die den engen Hinterhöfen der Mietskasernen mit Licht, Sonne, Luft und Platz ein Ende bereiten sollte.

Auf der Königsberger Straße, die das Viertel nach Süden hin begrenzt, sind Spaziergänger unterwegs, der Autoverkehr hält sich feiertäglich in Grenzen. Was hinter den Gardinen und Jalousien in den Wohnungen sich abspielt, ist für das Auge der Passantin nicht ersichtlich. Sascha nimmt eine Kurve und findet sich am westlichen Ortsausgang wieder am Beginn eines Waldstückes voller Schatten, als ihr Blick auf eine Einfahrt auf ein weites Gelände fällt. Ihre erste Assoziation ist die einer Kaserne, auch wenn Schlagbaum, Flagge und Wachhäuschen fehlen. „Speicherstadt“ steht auf einem Schild an der steinernen Umfriedung, kein Pförtner, der ihr die Weiterfahrt auf das Gelände verwehrte. Auf dem langgestreckten Areal stehen in zwei Parallelen aufgereiht mehrere schlanke Gebäude, im Sockel geklinkert und mit umlaufenden Außenrampen für das Beladen von Fahrzeugen versehen. Der Boden ist mit Steinen unterschiedlicher Größe und Farbe gepflastert, einzelne stillgelegte Bahngleise sind auf voller Länge auszumachen. Die Tiefe der Zone beträgt fast einen Kilometer.

Wie eine kleine Stadt in der Stadt, durchfährt es Sascha in Gedanken, Bilder exerzierender Soldaten steigen unweigerlich in ihr hoch, deren Stiefeltritt von den Wänden zurückgeworfen wird. Die hochstehende Sonne bar jeder Wolke strahlt die Häuser in ihrem pastellenen Beige unbarmherzig an und wirft andere Teile des Geländes in harte Schatten, das menschenleere Ensemble wirkt wie eine metaphysische Komposition Giorgio de Chiricos. Sascha ist begeistert von der Weite und der Ruhe, die zwischen den Industriebauten liegen; auf dem länger nicht gemähten Rasenstreifen zwischen den Bautenbändern blühen Kirschbäume in Rosé, Vögel fliegen zwischen den Zweigen hin und her, noch weit entfernt von der Trägheit der drohenden Sommerhitze. Am Nordende des Terrains gewahrt sie einen Mann, der seinen Hund ausführt, ansonsten hat sie die in Reih und Glied stehende Anlage für sich allein. An der Ostflanke des Areals verläuft eine weiter befahrene Bahnlinie, gelegentlich variiert ein Zug den nachmittäglichen Dämmer.

Die Geschichte der Speicherstadt beginnt im Jahre 1936. Die Kriegsvorbereitungen der Nationalsozialisten gingen nicht nur mit massiver Waffenproduktion einher, sondern auch mit dem Aufbau einer militärischen Infrastruktur. Das sogenannte Heeresverpflegungsamt wurde dazu ausersehen, Garnisonen im Norden Deutschlands mit Lebensmitteln zu versorgen. Das gewählte Gelände mit einer Größe von knapp 21 ha zwischen den bäuerlichen Vororten Coerde und Kinderhaus wurde mit einem eigenen Gleisanschluss ausgestattet, der die Anlieferung großer Mengen an Getreide erlaubte. Nach drei Jahren Bauzeit wurde der Betrieb passend im Jahr 1939 zum Beginn des II. Weltkriegs aufgenommen. Auf dem Gelände befinden sich sieben Bodenspeicher und zwei Zellenspeicher für Getreide, die ansässige Heeresbäckerei buk in täglich drei Schichten bis zu 22.000 Brotlaibe. Neben den Wirtschaftsgebäuden wurden ein Casino, Garagen, Werkstätten, ein Lazarett, ein Wohn- und Gästehaus sowie ein Bürotrakt errichtet, um den enormen logistischen Aufwand zu bewältigen.

Nach dem Ende des II. Weltkriegs wurde das Münsterland von britischen Truppen besetzt, sie führten die Nutzung des weitläufigen Areals im Sinne der Erbauer weiter; das aus der Luft weithin sichtbare Industriequartier war vorausschauend von alliierten Bombardierungen ausgenommen worden. Bis 1994 war die Speicherstadt das Proviantamt der im Nordosten Münsters gelegenen Kaserne der britischen Armee. Nach dem Abzug der Briten begann nach längeren Planungen 1998 der Umbau der Bauten für die zivile Nutzung unter Anleitung des neuen Eigentümers, einer Tochtergesellschaft des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL), die Speicher erwiesen sich dabei als geeignet für die Nutzung als Büros, Archive, Veranstaltungs- und Seminarräume. In den denkmalgeschützten Gebäuden residieren seit 2011 ein Verlag, eine Kanzlei, Unternehmensberatungen und Werbeagenturen, eine Cateringfirma, der Internetbuchhändler thalia.de und diverse Verwaltungseinheiten der Stadt Münster und des LWL. Rund 550 Arbeitsplätze sind hier entstanden, private Wohnungen bedauerlicherweise nicht.

Die Kornspeicher waren seinerzeit mit modernen Trocknungs- und Schädlingsbekämpfungsanlagen eingerichtet. Der vertikale und horizontale Transport verlief über ein Förder- und Klappensystem und bediente sich elektrischer Elevatoren, die noch heute in Technik und Handhabung beeindrucken. Die auf stabilen Stahlbetoneinzelfundamenten gegründeten Bauten besitzen ein Skelett aus Eisenbeton, das bei den Bodenspeichern ausgemauert und bei den Senkrechtsilos mit 14 cm starken Betonaußenwänden versehen wurde. Diese äußerst belastbare und verschleißresistente Bauart hat maßgeblich dazu geführt, dass neben den Umbaumaßnahmen heute kaum noch nennenswerte Renovierungsarbeiten anfallen. Die ganze Speicherstadt wurde grundsaniert, die Außenanlagen wurden 2013 landschaftsarchitektonisch fertiggestellt, Eingänge zu ehemaligen Bunkern ragen wie Skulpturen der Land Art aus dem Gras. Die Höhe der Etagen, die Backsteine und der Schnitt der Fenster geben Hinweise auf ihre Entstehung Ende der 1930er Jahre, Treppen mit Handläufen aus Stahl, große nachträglich realisierte Fensterfronten und ausgebaute Geschosse unter dem Satteldach zeugen von einer umfassenden Aktualisierung der gesunden Bausubstanz.

Der Reiz dieses Ortes liegt für Sascha in der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Epochen und Nutzungszwecke. Das Hermetische einer Kaserne, einer Burg oder auch eines Ghettos wird überschrieben durch den fehlenden Zaun zur Straße hin, die völlige Abwesenheit privater PKW gibt der Anlage etwas von einer Residenz. An die Stelle der militärisch-industriellen Nutzung ist nun eine Mischung unterschiedlicher Dienstleister getreten, der erhaltene Uhrenturm in der Mitte des Geländes ist ein Signal der Moderne mit seinem weißen Zifferblatt mit schwarzen Zeigern und Minutenstrichen, schnörkellos wie die zeitgenössische Schriften Futura oder Gill. Unweigerlich formt sich in Sascha der Wunsch, hier ein Atelier zum Wohnen und Arbeiten zu beziehen. Leider gibt ihr der Hundeausführer auf ihre Nachfrage die Auskunft, dass hier lediglich Gewerberäume vermietet werden. Sie fühlt sich inmitten der hegenden Speicher geborgen vor der lärmenden Welt mit ihren Menschen – auch eine Frohe Botschaft an Ostern.

Die Speicherstadt in Coerde hat so gar nichts zu tun mit der berühmten Speicherstadt im Hamburger Hafen, wo die alten Kontore, Indizes der Strebsamkeit, des Handels und des Reichtums der Hansestadt, zu Lofts zum Leben am Wasser umgebaut wurden. Die „Speicherstadt“ Westfalens mag ein cleverer Marketingbegriff der Projektentwickler sein, die Umnutzung der grundsolide gebauten Immobilien kann nur als gelungen gewertet werden, wenn auch um den Preis fehlender Wohnungen. Was für ein Kontrast zu den konfektionierten Häusern im Zentrum Coerdes, die nach 50 Jahren unansehnliche Gebrauchsspuren aufweisen. Die über 80 Jahre alten Industriebauten am Holtmannsweg wirken in der Ruhe des Ostermontags wie eine Herde profaner Kathedralen, zeitenthoben und erhaben. Ihre Wirkung auf Sascha ist erbaulich und meditativ, sie muss sich regelrecht losreißen, um diesen Ort zu verlassen, der mit seiner Zukunftsfähigkeit zum Bleiben einlädt.

Als sie daheim auf ihrem Pixel die Fotos des Quartiers sichtet, fragt sich Sascha, ob die Begeisterung für Industriearchitektur geschlechtlich konnotiert ist. Und sie hadert damit, dass sie vor Jahrzehnten ihr Architekturstudium abgebrochen hat, der Ausbruch ihrer Transidentität nach langer Latenz absorbierte all ihre Energie, die sie dann nicht in ihre Ausbildung stecken konnte. Wie gerne wäre sie in einem exakten Beruf tätig, der zum einen auf den Gesetzen der Physik, der Geologie, der Thermik und der Mathematik basiert, zum anderen als Kunst des Raumes unabweisbar gestalterisch charakterisiert ist. Sie könnte sich qualifiziert mit Grundrissen, Isometrie, Baustoffen und Tragwerken beschäftigen, obendrein mit Stadtplanung, Verkehrsentwicklung, Landschaftsökologie und Wohnsoziologie. Stattdessen bleibt sie als Historikerin in der Sphäre der Anschauung und der Interpretation verhaftet, permanent wird ihre Rede mit einer Gegenrede beantwortet, niemand achtet ihre Kompetenzen. Das Industriedenkmal der Speicherstadt verkörpert für sie die Aura des Religiösen, wie sie auch einer Kirche eignet. Wie einschüchternd schön sind doch leere Räume, gerade jene unter freiem Himmel. Vom Zimmer zum Haus zum Quartier zum Bezirk, der Mensch dient nur als Staffage im Modell.