Tellkamp

Das Ende der DDR liegt nun 28 Jahre zurück, ihre Historisierung hat beredt Gestalt angenommen. Der Roman „Der Turm“ spiegelt die letzten sieben Jahre der anderen deutschen Republik und ist in einem bildungsbürgerlichen Milieu angesiedelt, das es in der klassenlosen Gesellschaft des Sozialismus nicht länger hätte geben dürfen. In der Villenkolonie des Weißen Hirschen in Dresden geben sich seine Bewohner mit den Mitteln der Kultur der Illusion hin, der Tristesse der DDR zu entkommen. Doch auch sie werden mit voller Wucht von der finalen Krise ihres Staates auf dem Weg zur Wende 1989/90 erfasst.

Uwe Tellkamp, geboren 1968 in Dresden, lebte ab 1977 dank der Beziehungen seiner Familie auf dem Weißen Hirsch. Der Sohn eines Arztes studierte nach dem Untergang der DDR Medizin und arbeitete nach dem Staatsexamen einige Jahre als Chirurg in München, bevor er sich nach ersten schriftstellerischen Erfolgen und der Verleihung des Ingeborg-Bachmann-Preises 2004 komplett der Literatur zuwandte. Sein autobiografisch angereicherter Roman „Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land“ von 2008 machte den Autor schlagartig berühmt, er lebt heute mit seiner Familie wieder in Dresden.

Der knapp eintausend Seiten umfassende Text schildert die Entwicklung seines Helden Christian Hoffmann vom Jugendlichen zum jungen Mann. Das elitäre Bildungsbürgertum, das im südöstlichen Winkel der DDR überlebt hat, pflegt die Hausmusik sowie Debatten über Literatur und Malerei und richtet sich ein in der „süßen Krankheit Gestern“, der Verklärung der glänzenden Zeit der Residenzstadt Dresden, in stummer Opposition gegen das Grau in Grau des Sozialismus. Man ist Teil der DDR samt ihrer Ideologie und genießt zugleich eine lindernde Distanz aus Privilegien, Ironie und Ausreiseträumen, allen Gängelungen der SED und den Nachstellungen des MfS zum Trotz.

Der „Turm“ ist kein Ergebnis hartnäckiger Ostalgie, vielmehr fiktionales Dokument einer inneren Emigration mit den Mitteln der Kultur, zum allgegenwärtigen Geruch nach Wofasept. Christians Vater ist als Oberarzt in der Klinik den Launen des Chefarztes ausgesetzt und muss angesichts des Mangels an Medizinprodukten improvisieren; Christians Mutter bringt ihre Arbeit als Krankenschwester, den Haushalt und die Familie unter einen Hut und pflegt die Westkontakte etwa zu den Berliner Philharmonikern. Auf der Leipziger Buchmesse treffen Lektoren (Ost) auf Agenten (West) und sehen sich gezwungen, ihren Gästen die letzten Volten der DDR-Kulturpolitik zu übersetzen.

In einem Gespräch mit der FAZ sagt Uwe Tellkamp: „Heute wird gar nicht begriffen, was Romane leisten können. Dass sie einen Zugang zur Welt bieten, den Geschichtsbücher oder Philosophie gar nicht leisten können.“ Ein Roman kann historische Daten und Fakten mit subjektiver Fantasie variieren und eine Welt erschaffen, die dem Publikum näher rückt, als es Statistiken und Analysen je könnten. Im „Turm“ gibt es eine komische Ungleichzeitigkeit der 1980er-Jahre von Gorbatschow über das Waldsterben und Aids bis zum Krieg der Sterne neben einer kulturgeschützten Innerlichkeit im Rückgriff auf die Weimarer Klassik.

Doch das Idyll aus erster Jugendliebe und verfallendem Märchenviertel endet jäh, als Christian seinen Wehrdienst ableistet. Er hält den Schikanen seiner Vorgesetzten nicht stand und wird wegen „Öffentlicher Herabwürdigung der staatlichen Ordnung in der Öffentlichkeit“ nach § 220 StGB der DDR zu zwölf Monaten Strafarrest verurteilt. Das Urteil hat zur Folge, dass er den Studienplatz für Medizin an der Universität Leipzig verliert. Seine Strafe muss er in der Karbidfabrik abarbeiten: „Karbid. Wenn der Wind nach Süden drehte, blies er den Staub auf die Insel. An der Südmauer blühten Rosen. Christian hätte gern erfahren, welche Farbe sie hatten. Sie dufteten nicht. Die Blüten sahen aus wie aus Gips gemacht; selbst die Blätter und Rosenranken waren hellgrau bestäubt, eine stuckartige, schlafschwere Schönheit.“

Nach der Verbüßung der Haft wird er zur Sicherung der Grenze herangezogen. Im Herbst 1989 wachsen die Demonstrationen in Leipzig, Berlin und Dresden vom Niveau eines Spaziergangs auf das Format des 1. Mai. Mit scharfer Munition gegen die Demonstranten ausgerüstet, hat Christian Angst: „Vor ihnen die auf den Hauptbahnhof zustrebenden Menschen. Die Soldaten schlossen sich zu Hundertschaften zusammen, bildeten eine Kette, indem sie die Arme unterhenkelten. Christian ging in der zweiten Reihe neben Pfannkuchen. Vom Hauptbahnhof drang dumpfes, rhythmisches Klopfen. „Voorwäärts!“ schrien die Offiziere. Christian spürte, wie seine Beine weich wurden, das gleiche Gefühl wie bei der Urteilsverkündung im Gerichtssaal, jetzt fliegen können, etwas tun können, das den Wahnsinn beendete, sich umdrehen und einfach gehen (…).“

Das Ende dieser erhitzten Wochen ist ein gutes, die Wende bleibt friedlich, die DDR versinkt in surrealem Tempo im Orkus der Geschichte. Es bleiben die Villen auf dem Weißen Hirsch, die ebenso restauriert werden, wie die Frauenkirche wieder aufgebaut wird, deren Ruine einst die Partei zum Mahnmal an die Nazizeit instrumentalisierte. So ist die „Geschichte aus einem versunkenen Land“ doppeldeutig; gemeint sind die Jahre der DDR ebenso wie die wie in Bernstein eingeschlossenen Fabeln von der Pracht des Weißen Hirschen. Der „Turm“ steht dabei nicht nur als Synonym für Widerstand, sondern „auch für die Sprachenverwirrung, wie sie der Turmbau zu Babel hervorgebracht hat. Denn das ist die DDR ja auch gewesen: ein Staat, in dem man sich gegenseitig nicht mehr verstand.“