Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben? Im Gegenteil, das ganze Tagwerk steht im Zeichen des Hymnus des Herrn. Das klösterliche Leben katholischer Mönche und Nonnen kennt nach der Regel des Heiligen Benedikt sieben tägliche Gebetszeiten, Horen genannt, die mit dem Morgenlob beginnen und mit dem Nachtgebet enden. Die Vesper (im Lateinischen der Abend) im profanen Sinn bezeichnet eine kleine Mahlzeit am späten Nachmittag, im sakralen Sinn meint sie das Abendgebet.
Kurz vor 18:00 Uhr im Kloster St. Gabriel im schattigen Berliner Westend. Nach und nach betreten zwölf Nonnen den Kirchenraum und nehmen kniend im Chorgestühl Platz, den Blick zum Altar gerichtet. Ihr knöchellanges Gewand ist in einem satten Altrosa gehalten, Überwurf und Haarschleier leuchten in Wäscheweiß. Die Vesper beginnt mit einem gemeinsam rezitierten Ave Maria, an das sich das Deklamieren eines Psalms im Wechselgesang der Leitstimme und der Antiphone anschließt. Die Akustik ist exzellent; wenn die Schwestern zu spärlicher Orgelbegleitung singen, scheinen die Stimmen über ihren Häuptern zu schweben.
Die Klosteranlage, die neben der Kirche und dem Wohnhaus auch einen Garten zur Subsistenzwirtschaft umfasst, wurde zwischen 1933 und 1937 errichtet, sie enthält stilistische Anklänge an die Neue Sachlichkeit und den Expressionismus. Die hier lebenden Steyler Anbetungsschwestern, 1896 als Kongregation gegründet, widmen ihr Leben komplett dem Gebet: „Sie verwirklichen ihre Sendung durch ihr kontemplatives Leben im Lobpreis und der Anbetung des eucharistischen Herrn im Dienst der Glaubensverkündigung und im Gebet für alle Menschen. In der Verborgenheit und im Schweigen ihres klausurierten Lebens, im ora et labora ihres Tagewerkes, wissen sie sich solidarisch mit allen Menschen.“ So steht es auf der Webseite der Gemeinschaft.
Diese Mission empfängt die stets willkommenen Besucher der Horen auch architektonisch: Venite adoremus jesum steht als Relief über der Eingangstür. Ein Messinggitter trennt den allgemein zugänglichen Raum vom klösterlichen Bereich – die Gäste sind beim Gebet dabei und bleiben zugleich außen vor. Die rund halbstündige Vesper schließt nach der Tageslesung mit den Fürbitten und dem Vaterunser. Die Klosterkirche ist tagsüber durchgehend geöffnet, gepolsterte Kniebänke laden zur Begleitung des monastischen Gebetes ein, eingedenk des 113. Psalms: „Der Name des Herrn sei gepriesen von nun an bis in Ewigkeit. Vom Aufgang der Sonne bis zum Untergang sei der Name des Herrn gelobt.“
Leben die Steyler Anbetungsschwestern, etwa 400 weltweit, auch in Klausur und Schweigen, bleibt ihre Kontemplation keineswegs folgenfrei. Sie hören auf das Wort Gottes und öffnen sich für die Leiden und Hoffnungen aller Menschen. Es ist, wie bei allen Ritualen, das Element der Wiederholung, das dem Leben Struktur und Tiefe gibt. Nach einem vollen Arbeitstag mit Lesen und Schreiben, Sprechen und Wirken ist das schlichte Hören der Vesper für die Besucherin ein Labsal. Die Litanei schwingt in der Seele nach, gestärkt und beschenkt klingt der Tag in der Rückschau aus. Das Echo des Gesangs der Schwestern, die sich in ihren Konvent zurückziehen, lagert sich an den Wänden als Frieden ab. Stille ist ansteckend.