Weltmeister

Der Norweger Magnus Carlsen, Ende November 31 Jahre alt geworden, dominiert seit einem Jahrzehnt die Schachwelt. Er steht mit großem Vorsprung an der Spitze der Weltrangliste und hält seit 2013 den Titel des Weltmeisters im Schach, hinzu kommen wiederholte Siege bei allen großen Turnieren des internationalen Kalenders. In einem Match in Dubai hat Carlsen seinen Titel kürzlich gegen den russischen Herausforderer Ian Nepomniachtchi überzeugend verteidigt. Wenige Tage nach diesem Triumph ließ er die Schachwelt Mitte Dezember in einem Interview wissen, dass er möglicherweise gerade sein letztes Match um die Weltmeisterschaft gespielt habe. Ihm fehle die Motivation für weitere Titelkämpfe.

In dem Interview für seinen Sponsor Unibet, einem Wettanbieter, sprach Carlsen davon, dass ihm der Weltmeistertitel nicht mehr so viel bedeute wie zu Zeiten seiner Eroberung vor acht Jahren. Carlsen hat fünfmal um die WM gespielt, er hat die Ära seines Vorgängers Viswanathan Anand beendet und seine Generationenkollegen Sergey Karjakin, Fabiano Caruana und eben Ian Nepomniachtchi geschlagen. Er sprach davon, einzig der mögliche Herausforderer Alireza Firouzja, der im Dezember 2021 mit gerade 18 Jahren die 2800-Elo-Schranke passiert hat und für das nächste Kandidatenturnier qualifiziert ist, könne für ihn Grund genug sein, ein weiteres Mal um die Schachkrone zu spielen. In einer Weihnachtsbotschaft für seinen Sponsor Simonsen Vogt Wiig, eine Anwaltskanzlei, relativierte Carlsen seine Haltung und sprach davon, der nächste Herausforderer solle die „nächste Generation repräsentieren“, damit er seinen Titel in einem Match verteidige.

Der gute Subtext dieser beunruhigenden Nachricht ist, dass Magnus Carlsen nicht daran denkt, sich komplett vom Schach zurückzuziehen. Er habe wieder große Freude am Schach und wolle weiter Turniere spielen, in die er naturgemäß stets als Favorit gehe. Er spricht weiter davon, dass er sich vornehme, die utopisch wirkende Schallmauer von 2900 Elo-Punkten zu knacken – angesichts eines aktuellen Standes von 2856 Zählern und eines historischen Höchststandes von 2882 (05/2014, 08/2019) keine pure Illusion, es gebe nur keinen Raum für Fehler, in jeder Partie müsse er dann sein bestes Schach zeigen. Neben dem WM-Titel im klassischen Schach hält Carlsen auch jene im Schnellschach und im Blitz. Diese Titel will er bei den Wettkämpfen, die am 26. Dezember in Warschau beginnen, verteidigen. Mögliche Rekorde im klassischen Schach mit langer Bedenkzeit – Zahl gewonnener WM-Duelle, Anzahl der Jahre als Weltmeister – scheinen ihn weniger zu reizen.

Als Grund für seine Müdigkeit bei traditionellen Matches gibt er an, dass ihm die Freude beim Kampf Mann gegen Mann abhandengekommen sei. Er ist der Ansicht, dass Leidenschaft die treibende Kraft in der Vorbereitung und Durchführung eines Duells sein müsse, nicht die schiere Orientierung am Resultat. Das Training – schachlich, sportlich, nervlich, sozial – für ein Match gehe im modernen Profischach über Monate, der Verlierer jedoch, so Carlsen, habe praktisch umsonst gearbeitet. Diese Dynamik lasse sich mit der eines Turniers, wo man sich mit vielen verschiedenen Gegnern zu messen habe, nicht vergleichen. Wird dem Stoiker Carlsen dieser spezielle Druck zu viel? Im Rückblick auf das Match in Dubai gegen Ian Nepomniachtchi sagt Carlsen, dass das deutliche Ergebnis von 7,5 : 3,5 zu seinen Gunsten schmeichelhaft sei und dieses das heftige Ringen unter Gleichen in der ersten Matchhälfte nicht angemessen widerspiegle.

Seit der ersten offiziellen Weltmeisterschaft 1886 wird die Schachkrone in einem Match zwischen den Weltmeister und dem Anwärter ausgespielt. Lediglich 1948 und 2007 wurde der Titel in einem mehrrundigen Turnier mit mehreren Kontrahenten vergeben; das erstgenannte Turnier war nach dem Tod des Weltmeisters Alexander Aljechin 1946 notwendig geworden, das zweite galt der Vereinigung der zwei seit 1993 konkurrierenden WM-Titel. Unbestritten sind die Fixpunkte in der Geschichte des Schachs die Matches um die Weltmeisterschaft. Hier wird der Beste der Besten ermittelt, hier werden die legendären Partien gespielt, die Einzug in die Lehrbücher halten, hier werden neben den schachlichen auch die psychologischen, sportlichen und zum Teil politischen Register gezogen. Das Format eines Zweikampfes hat sich gegenüber einem Rundenturnier oder einem Knock-out-System durchgesetzt; dass es nur alle zwei (früher drei) Jahre stattfindet, steigert gar seine Attraktivität.

Vor diesem Hintergrund erstaunt es, dass Magnus Carlsen die Lust an Duellen um die Krone verloren zu haben scheint. Carlsen hat seit dem Erwerb des Großmeistertitels 2004 mit bemerkenswerter Disziplin, Ausdauer, Schöpfergeist und Konsequenz an seinem Schach und an seiner Wettbewerbsfähigkeit gearbeitet; dass er seit 2013 der Weltmeister ist, bildet die Verhältnisse im Profischach nur folgerichtig ab. Der WM-Titel ist Teil der Marke „Magnus“, unter der er sehr erfolgreich ein börsennotiertes Unternehmen betreibt, zu dem neben einer Trainings-App sowie einer Lern- und Kommentarplattform auch das traditionsreiche Branchenblatt New in Chess gehört. Carlsen, der in Norwegen mindestens so populär ist wie der Schriftsteller Karl Ove Knausgård mit seiner Romanreihe Min Kamp, hat in der letzten Dekade viel für die Verbreitung des Schachs in der ganzen Welt getan. Mit seinem unprätentiösen Auftreten ist er der ideale Markenbotschafter des königlichen Spiels, in der öffentlichen Wahrnehmung fallen seine führende Position in der Elo-Liste und der WM-Titel zusammen.

Mit seinen 31 Jahren ist Carlsen im besten Schachalter, es gibt zudem historisch genügend Beispiele für konstant großartiges Schach mit Mitte 40 und aufwärts. Aus seiner Ankündigung, nur noch gegen einen Vertreter der kommenden Generation spielen zu wollen, spricht eine leise Arroganz gegenüber denjenigen, die er aus gemeinsamen Jugendtagen kennt, die ihm angeblich nicht das Wasser reichen können. Dabei sollte nicht das Alter allein Auskunft über die Faszination eines Zweikampfes um den Schachthron geben. Der gleichaltrige Chinese Ding Liren wäre ein ebenso unbequemer Gegner für Carlsen wie der gleichaltrige Franzose Maxime Vachier-Lagrave. Die deutlich jüngeren Alireza Firouzja (früher Iran, jetzt Frankreich), Jan-Krzysztof Duda (Polen), Andrej Esipenko (Russland) und Daniil Dubov (Russland) ließen gegen Carlsen einen ebenso großen Kampf erwarten wie auch die älteren Alexander Grischuk (Russland) und Levon Aronian (früher Armenien, jetzt USA).

Die Zeiten, in denen der WM-Titel persönliches Eigentum des Weltmeisters war, sind gottlob vorbei. Der Herausforderer qualifiziert sich in einem komplizierten Verfahren, an dessen Ende der Sieg im Kandidatenturnier steht. Wer hier gewinnt, hat gezeigt, dass er sich gegen stärkste Konkurrenz durchzusetzen vermag und zurecht nach der Krone greift, egal wie alt oder erfahren er ist. Möglicherweise spricht aus Carlsens Unwillen, erneut gegen einen Spieler der eigenen Alterskohorte anzutreten, der uneingestandene Wunsch, sich durch den freiwilligen Rückzug vom Olymp den Nimbus des Unbesiegten zu geben. Der bisher einzige Fall in der Geschichte des Schachs führte ab 1975 den Amerikaner Bobby Fischer immer tiefer in die Isolation und in die Krankheit. Das stünde bei Carlsens geerdeter Art nicht zu befürchten, wohl aber die Beschädigung seines Namens: Magnus bedeutet der Große, der Starke, der Bedeutsame. Und ein solcher streicht nicht einfach die Segel.