Mauer

  Freiheit hat ihren Sitz im Gesellschaftlichen, während Zwang und Gewalt im Politischen lokalisiert sind und so das Monopol des Staates werden. – Hannah Arendt, Vita activa

„Die Mauer ist auf!“ – Mit diesen Worten kam ein Kommilitone am Freitagmorgen ins Seminar. Kerstin hatte gerade Platons Politeia auf den Tisch gelegt und sich auf eine Diskussion der verschiedenen Staatsformen eingestellt. Doch nun kannte die Runde nur ein Thema: Der Kommilitone erzählte, er sei gestern Abend noch mit dem Auto zum Kurfürstendamm gefahren, dort wäre alles voller Trabbis und Ossis gewesen, dazu eine Stimmung wie auf einer rauschenden Party. Die Anwesenden inklusive des Dozenten schauten sich ungläubig an, über die Vorzüge der Aristokratie gegenüber der Demokratie bei Platon wollte niemand so richtig debattieren. Hier im Seminar am Otto-Suhr-Institut ging es um politische Theorie, ein paar Kilometer weiter ostwärts hingegen realisierte sich die politische Praxis.

Die Mauer ist auf! Diese vier Worte, zu einem einfachen Satz gereiht und mit einem Ausrufezeichen beglaubigt, gaben den Ereignissen der letzten Wochen und Monate einen weiteren Schub. Das Jahr 1989 war an Erschütterungen und Umbrüchen wahrlich nicht arm, dass aber nun die innerdeutsche Grenze offen sein sollte, überstieg die Phantasie auch derjenigen, die sich professionell mit Politik befassten. Im Januar hatte es in Prag große Demonstrationen zur Erinnerung an Alexander Dubcek und Jan Palach 1968/69 gegeben. Anfang Oktober hatte die Führung der DDR mit großem Pomp den 40. Jahrestag ihrer Gründung begangen, unter wohlwollender Teilnahme des Generalsekretärs der KPdSU, Mikhail Gorbatschow. Im Sommer waren immer mehr DDR-Bürger über Ungarn und die Tschechoslowakei nach Österreich und weiter in die Bundesrepublik geflohen, im Oktober schwollen die friedlichen Demonstrationen in Leipzig immer mehr an, ohne dass die Staatsmacht einschritte. Von Reisefreiheit war die Rede, von freien Wahlen, von Rechtsstaatlichkeit, von Parteienpluralismus, auch von vollen Regalen und weniger Wartezeit auf ein Auto.

Und nun, wie es amtlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung stand, hatte das Politbüro der SED beschlossen, den Bürgern der DDR ohne vorherige Beantragung Reisen in den Westen zu gestatten, unverzüglich, wie ein Funktionär während der Pressekonferenz auf Nachfrage eines Journalisten bekräftigte. In Berlin, der geteilten und weiterhin kriegsversehrten Hauptstadt, brauchte es nur ein paar Meter, um von einem politischen System ins andere zu reisen – Bornholmer Straße, Friedrichstraße, Kochstraße waren die geläufigen Namen der Grenzübergänge, die die Mauer zumindest semipermeabel machten. Und nun sollte die Wechselrichtung auch von Ost nach West gehen? Kerstin und Yannis, die im Seminar beide gut miteinander lernen konnten, schauten sich ungläubig an und beschlossen, am Abend zum Brandenburger Tor zu fahren, der aufgeworfenen Grenznarbe im Herzen der Stadt.

Es war schon dunkel, als sie ihre Räder an einer Laterne der Straße des 17. Juni anschlossen. Das Brandenburger Tor lag in einem fahlen Licht, das aus der Nebelsuppe des November stach. Scharen junger Leute zogen dorthin, viele hatten geöffnete Sektflaschen bei sich. Im Näherkommen wurden die heiteren Stimmen rund um das Tor immer lauter, Lachen und Jubelrufe mischten sich ineinander, hier und da zog eine Silvesterrakete in den blauschwarzen Himmel, Polizei war nirgends zu sehen. Yannis, der in Westberlin geboren wurde, machte Kerstin auf die Ruine des Reichstages aufmerksam, der wie ein großes Wrack im Niemandsland diesseits der Mauer schlummerte. Das Brandenburger Tor mit seiner Quadriga auf dem Dach lag bereits auf dem Territorium der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik. Hier stießen die beiden so unterschiedlichen Hälften der Stadt aufeinander, einander aus der Nähe nicht als Teile des Gleichen erkennend.

An dieser Position machte die Mauer nicht nur einen Schlenker, der den Maßen des alten Pariser Platzes folgte, sie war hier auch einen guten Meter tief mit flachem Plateau in über drei Metern Höhe. Erwartete man hier ernsthaft Panzer, die um jeden Preis aufzuhalten seien? An jeder anderen Stelle der Stadt war die Mauer zwar ebenso hoch, aber nur eine Handbreit tief, gekrönt von glattem Rundbeton, der das Festhalten und Überklettern unmöglich machen sollte. Hier nun tanzten die Menschen auf der Mauer, dem weltweiten Symbol des Kalten Krieges, der Teilung Deutschlands, der Konkurrenz zwischen Freiheit und Kommunismus. Yannis gab Kerstin die Aufstiegshilfe einer Räuberleiter, wie sie es in der Kindheit genannt hatten, helfende Hände zogen sie sicher nach oben auf die Mauer, Yannis folgte behende. Ihre Wangen wurden tränenfeucht, als sie der surrealen Szene gewahr wurde.

Spontan schloss sie Yannis in die Arme, sie musste irgendwohin mit ihrem Überschwang. Yannis sprach sie mit dem neuen Namen an, der bereits offiziell beim Amtsgericht beantragt war, gelegentlich verwendete er das alte Pronomen, um sich gleich darauf zu korrigieren. Sie war jetzt ein halbes Jahr auf Östrogenen und hatte in dieser Zeit deutliche Veränderungen an sich wahrgenommen, Veränderungen, die sie ersehnt und gewollt hatte. Die Haare waren länger und welliger geworden, die Haut feiner, die Augen etwas zu dramatisch geschminkt, die Schuhe hatten nun Absätze, der Pullover war hell und flauschig, der Mantel fiel glockig. Vor allem hatte sich ihr Körpergeruch verändert und, wie sie beim Mustern ihrer Gestalt im Schaufenster meinte, auch ihre Bewegungen. Ihr fehlte die Distanz, um die Entwicklungen zu überblicken und reflektieren, wie bei einer nachholenden Pubertät schlugen die Hormone über ihr zusammen, kein Tag war wie der andere, Gewissheiten lösten sich unter der Haut auf.

Und nun geschah Vergleichbares mit der Stadt, in der sie seit dreieinhalb Jahren lebte. Sie hatte sich, welch treffender Titel, einen behelfsmäßigen Personalausweis ausstellen lassen, der auf einen überholten Namen unter einem antiquierten Portrait lief; doch in dieser Situation der Euphorie dachte niemand ernsthaft an eine Ausweiskontrolle. Kerstin und Yannis ließen sich auf der östlichen Seite der Mauer auf den Boden herab, auch hier tanzten und sangen die Leute. Unmittelbar vor dem Brandenburger Tor standen Grenzsoldaten der DDR seitlich aufgereiht, den Blick versteinert nach vorn, die Beine leicht breit, die Hände im Rücken verschränkt, Waffen waren nicht zu sehen. Ein junger Mann ging auf die Formation zu, streckte einem Soldaten die Hand zum Gruße aus; eine Geste, die er geduldig wiederholte, doch kein Soldat traute sich, die Hand zu ergreifen und zu schütteln. Mittlerweile wurde ein Mann im Rollstuhl von der Mauerkrone hinuntergelassen, Volksfeststimmung allemal. Auf dieser Seite war die Mauer ein monotones Werk aus blassem Beton, auf der anderen Seite eine Galerie spitzer Graffiti.

Ihre bisherigen Besuche in der Hauptstadt der DDR waren auf offiziellem Wege erfolgt. Sie beantragte bei einer der dafür vorgesehenen Stellen ein Tagesvisum, fand sich zum festgesetzten Termin am gewählten Grenzübergang ein, tauschte 25,- DM in 25,- Ostmark um und betrat das Reich des Sozialismus. Auf den Toiletten roch es nach Wofasept, auf den Straßen nach Kohleöfen. Einmal fuhr sie im Advent hinaus nach Weißensee und spazierte stundenlang über den verschneiten jüdischen Friedhof; als sie danach an einem Imbiss einen Tee trank, hielten alle anderen Gäste wohlweislich Abstand, zu westlich war sie, als dass ein unbefangenes Gespräch möglich schien. Ein anderes Mal ging sie für 3,- Ostmark ins Berliner Ensemble und sah Bertolt Brechts Galileo Galilei. Und dann kaufte sie in einer großen Buchhandlung Unter den Linden einen aufwändig gestalteten Atlas und ein Lehrbuch der Psychologie, zu einem Bruchteil des Preises in einer westlichen Buchhandlung. Einmal gar war sie zu Besuch bei Bekannten ihrer Mutter in Lichtenberg, sie wurde herzlich bewirtet und schämte sich beim Abschied dafür, dass sie nun wieder über die Grenze durfte, ihre Gastgeber aber nicht.

Diese Bilder zogen an ihr vorbei, als sie nun mit Yannis und weiteren Männern und Frauen einen Sirtaki tanzte, als spielten sie übermütig an einem kretischen Strand. Um sich herum nur leuchtende Gesichter, englische, französische und spanische Sprachfetzen mengten sich unter das Deutsche. Das gelbe Licht der Peitschenmasten schien hier wärmer, als es aus der Entfernung wirkte. Die Grenzanlagen jenseits des Tores waren nicht auszumachen, sie wurden von der Dunkelheit geschluckt. Der Mumm-Sekt, der hier in zahlreichen Flaschen kreiste, hatte Kerstin leicht beschwipst; als rauschhaft ließ sich die Situation beschreiben, als anarchisch, unkontrolliert und verspielt. Yannis und Kerstin konnten nicht anders als sich zu freuen, zu lachen, zu jubeln und singen. Sie stimmten den Schlusschor aus Beethovens 9. Sinfonie an, Freude schöner Götterfunken, mit dem Text von Friedrich Schiller. Die Umstehenden fielen in die Melodie ein, wortsicher waren nicht alle.

Zu keinem Zeitpunkt hatte Kerstin das Gefühl, dass die Situation kippen könnte. Sie hatte noch die entsetzlichen Bilder aus Peking vor Augen. Im Juni hatten Tausende von Studenten den Platz des Himmlischen Friedens im Herzen der chinesischen Hauptstadt besetzt, bei der gewaltsamen Räumung durch die Polizei kamen Hunderte Menschen ums Leben. In Europa vollzog sich im Sommer 1989 die Agonie des Kommunismus dafür in rasantem Tempo: In der DDR beklagten Bürgerrechtler die Fälschung der Kommunalwahlen, Ungarn baute die Grenzbefestigung zu Österreich ab, in Polen wurde der erste nicht-kommunistische Ministerpräsident gewählt. In den Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen schlossen sich geschätzte zwei Millionen Menschen zu einer 600 km langen Menschenkette von Tallinn über Riga bis nach Vilnius zusammen, um gegen die Folgen des Hitler/Stalin-Paktes vom August 1939 zu protestieren und um Unabhängigkeit für ihre Länder einzufordern. Ein für ewig gehaltener Zwang fiel von den Menschen und den Gesellschaften ab, die politische Macht der Partei kondensierte, die Freiheit schaute den Menschen aus dem Spiegel ramponiert, aber fröhlich ins ungläubige Gesicht.

Vor nicht einmal einer Woche hatten sich auf dem Alexanderplatz rund eine halbe Million Menschen versammelt, um friedlich gegen das SED-Regime zu protestieren. Nicht nur Künstler wie Ulrich Mühe, Bärbel Bohley, Heiner Müller und Christa Wolf sprachen zu den Anwesenden, auch der ehemalige Chef der DDR-Auslandsspionage ergriff das Mikrofon und mahnte unter Pfiffen vage Reformen an. Erneut wurde deutlich, dass von einer nach Hundertausenden zählenden Masse keine Gefahr ausgeht, wenn diese für die Sache der Freiheit auf die Straße geht und auf besonnene Kommandeure der Streitkräfte trifft, die sich weigern, in die Menge feuern zu lassen. Und diese Abwesenheit einer Eskalation war auch an diesem kalten Novemberabend sichtlich zu greifen.

Irgendwann hatten sich Kerstin und Yannis ausgetaumelt. Sie halfen einander erneut auf die Mauer hinauf und wieder hinab, die politischen Begriffe Ost und West hatten gegenwärtig keine geographische Entsprechung mehr. Aus der Innenstadt zogen Ströme von Menschen durch den Tiergarten in Richtung Tor, rufend und klatschend, einer trug gar eine schwarz-rot-goldene Trikolore. Kerstin absentierte sich kurz in Richtung Gebüsch, um sich zu erleichtern; die Kälte des Abends hatte ihre Blase gereizt, auch das eine neue Erfahrung. Als sie auf ihrem Rad saß und durch leere Straßen in Richtung ihrer neuen Wohnung fuhr, hatte nur ein Gedanke Platz: Gerade hatte etwas begonnen, was keine der Anwesenden voll verstand oder auch nur zu benennen gewusst hätte. Die Zeit hielt den Atem an und verschwisterte sich mit dem Raum.

Allerseelen

  Weihe uns ganz in dein Geheimnis ein. / Lass uns dich sehn im letzten Abendschein. / Herr, deine Herrlichkeit erkennen wir: / Lebend und sterbend bleiben wir in dir. – GL 325

Angesichts des religiösen Nihilismus dieser Tage gerät leicht aus dem Blick, dass sich die katholischen, orthodoxen und protestantischen Bekenntnisse in elementaren Punkten unterscheiden. So hat die katholische Kirche das Gedenken an die Toten exklusiv, der daran erinnernde Feiertag ist Allerseelen. Anfang November, wenn die Tage dunkel und neblig werden und erster Frost in der Luft liegt, besuchen die Gläubigen die Friedhöfe und gedenken in der Eucharistiefeier derjenigen, die ihnen im Leben und Sterben vorausgegangen sind. Dieser Glaube geht so weit, die Seelen der Verstorbenen für ein Gebet erreichbar zu halten, um ein mögliches Fehlverhalten auf Erden posthum zu kompensieren.

Kerstin macht sich auf den Weg zum Gottesdienst am Samstagabend, in der Hand ihr persönliches Exemplar des Gesangbuches. Der hellgraue Doppelkubus der Kirche Sankt Canisius ist nur mehr schemenhaft am Ufer des Lietzensees auszumachen, die Dunkelheit des frühen Abends hat ihn bereits geschluckt und ihn seiner leuchtenden Farbe beraubt. Nachdem sie das schwere Portal aus Massivholz aufgezogen hat und ihre Finger mit Weihwasser zum Kreuzzeichen benetzt, geht ihr Blick automatisch nach oben. Unter der Empore hängt der verbogene Kruzifixus, der als einziges Inventar der abgebrannten Vorgängerkirche hatte gerettet werden können. Kerstin geht gemessenen Schrittes zur Bank am Tabernakel, hält kurz inne und setzt sich. Die neue Organistin sitzt bereits am Manual und stimmt sich improvisierend auf die Feier ein.

Der Halbrund aus Stühlen vor dem Altar ist mäßig besetzt, als der Priester, begleitet von zwei Kerzen tragenden Ministrantinnen, einzieht und den Gottesdienst eröffnet, dabei „Wir sind nur Gast auf Erden“ (GL 505) anstimmend. Getragen von der Orgel, findet Kerstin in die Melodie hinein und kann bereits mit der ersten Strophe tonsicher mitsingen. Schräg hinter dem Altar ist ein Regal arrangiert, in dem einzelne flackernde Teelichter stehen; einige höhere Stumpen mit größeren Flammen lockern die Lichterreihe etwas auf. Nach dem Introitus lässt der Priester die versammelte Gemeinde wieder Platz nehmen, gleichzeitig wird das Deckenlicht gedimmt, sodass der Kirchenraum im Schein der Kerzen liegt. Vor dem Kerzenregal wird eine Prise Weihrauch verbrannt, dessen Schwaden bei einigen Anwesenden für Räuspern und Husten sorgen.

Der Priester geht zum Ambo, an dem eine kleine Lampe angebracht ist, die das Lesen im Halbdunkel erlaubt. Er fängt nun an, die Namen derjenigen zu verlesen, die seit dem Allerseelen des vergangenen Jahres in der Gemeinde verstorben sind. Dieser Mann, dessen flapsig-komödiantische Art Kerstin für gewöhnlich missfällt, geht nun vollends in seiner ernsten Rolle als Mahner der Toten auf. Jeden Namen liest er klar vernehmlich vor, dazu das Sterbedatum und das erreichte Lebensalter; danach kommt eine genau passende Pause, als hätte er ein akustisches Semikolon gesetzt. Jeder Name bekommt das Gewicht eines Blattes, das vom Herbstwind geschaukelt wird. Kerstin sucht bei jedem Namen ein Gesicht dazu, eine Person, eine Begegnung. Es fällt ihr auf, dass es ganz überwiegend Frauennamen sind, die verlesen werden; ein Großteil der Verstorbenen hat mit 80 aufwärts ein gesegnetes Alter erreicht. Sie sind nicht verschwunden, sie sind nun an einem anderen Ort, sie werden Teil der Tradition.

Kerstin protestiert innerlich, als nach dem Verlesen des letzten Namens das Deckenlicht zentral wieder erstrahlt, es tut ihren leicht tränenfeuchten Augen weh, nun wieder alles überdeutlich zu sehen. Die nach dem Kyrie sich anschließende Lesung (2 Makk 12,44-45) thematisiert das Sterben und den Glauben an seine Überwindung: „Hätte er nicht erwartet, daß die Gefallenen auferstehen werden, wäre es nämlich überflüssig und sinnlos gewesen, für die Toten zu beten. Auch hielt er sich den herrlichen Lohn vor Augen, der für die hinterlegt ist, die in Frömmigkeit sterben. Ein heiliger und frommer Gedanke! Darum ließ er die Toten entsühnen, damit sie von der Sünde befreit werden.“ Bei der Predigt legt der Priester diesen berührenden Text aus dem Alten Testament aus, dabei ganz auf seine gewohnten Anbiederungen an den Zeitgeist verzichtend, eine überraschende Offenbarung.

Der Tod ist der Nullpunkt des katholischen Glaubens, mit Beginn des Hochgebets nach der Wandlung wird dessen Geheimnis von der Gemeinde beschworen. Der Tod ist das Ende des irdischen Daseins, er lässt aus einem beweglichen, durchbluteten, empfindsamen und aktiven Körper schnöde Würmerkost werden. Und doch hat er nicht das letzte Wort in einer Welt, die von Gott geschaffen wurde und die er am Ende der Zeiten wiegen und bewerten wird. Der katholische Glaube wäre sinnlos, zumindest unvollständig, ohne die Annahme einer Auferstehung, einer den Verstand übersteigenden Überwindung des Todes. Sich in dieser Annahme zu üben, ist der Weg der Glaubenswirklichkeit. Wissen lässt sich planvoll erweitern, sein Wachsen lässt sich messen. Beim Glauben kann man sich nur um die Offenheit bemühen, das Unbegreifliche mit anderen Instrumenten als dem Denken an sich heran zu lassen. Credo quia absurdum, wie es die Urkirche im 2. Jahrhundert formulierte.

Nach der Kommunion und dem Schlusssegen sind die Gläubigen eingeladen, eine Kerze für einen Toten in ihrem Herzen zu entzünden und zu den bereits brennenden dazuzustellen. Kerstin reiht sich ein ins Defilee derer, die in Richtung Kerzenwand schreiten. Sie denkt intensiv an eine Kollegin, die vor zweieinhalb Jahren verstorben ist. Sie stand Kerstin in einer schwer erträglichen Situation des Mobbings am Arbeitsplatz bei und suchte mit ihr nach Lösungen. Dabei entging es Kerstin, wie schwer erkrankt Yvonne bereits war. Sie maß gerade 1 Meter 60 und hatte den rundungslosen Körper einer Präpubertierenden, ihre Kleider konnte sie in der Kinderabteilung kaufen. Erst mit der Nachricht ihres Todes erkannte Kerstin, dass der Leib ihrer Kollegin von Auszehrung kündete. Sie schämt sich noch immer dafür, diesen Zusammenhang übersehen zu haben; nun bleibt ihr nur ein Gebet, diese existentielle Einsamkeit zu bewältigen.

Schließlich öffnet sich das massige Tor und entlässt die Gläubigen in die dunkle Kälte des Abends. Der Tod, so durchfährt es Kerstin, ist keine abstrakte Größe mehr, die irgendwann auch ihr Leben beenden wird. Er hat vielmehr an Gegenwart gewonnen, ist präsent in ihren Gedanken und Gefühlen. Ihr nahender 60. Geburtstag trägt das Seine dazu bei, dass ihre Vergänglichkeit sich nun beziffern lässt: Wenn sie die Statistik bemüht, stehen ihr noch rund 25 Jahre ins Haus, ohne dass damit etwas über deren Qualität gesagt wäre. Kann man sich auf den eigenen Tod, den großen Gleichmacher, vorbereiten? Eigentlich nur dadurch, dass man täglich das Leben feiert, dafür dankt und es nicht durch Bitterkeit, Korruption, Langeweile und Zynismus beschmiert. Auch das ist ein zutiefst katholischer Gedanke, sagt sich Kerstin, während sie das Laub am Ufer des Lietzensees mit ihren tänzelnden Tritten zum Rascheln bringt.

Algorithmus

  Die Zukunft, wie sie einst ausgemalt wurde, ist nie die Zukunft, die sich tatsächlich einstellt. Wir neigen dazu, jene Technologien zu überschätzen, die für uns vollständig sichtbar und Teil unserer Vorstellungswelt geworden sind, erweisen uns jedoch als kläglich unfähig, uns ihre sozialen Konsequenzen vorzustellen. – Helga Nowotny

Der Kluge, das etymologische Wörterbuch der deutschen Sprache, übersetzt den „Algorithmus“ mit einem „Berechnungsverfahren“. Der Begriff ist dem mittellateinischen algorismus entlehnt, das das Rechnen im dekadischen Zahlensystem und damit die Grundrechenarten bezeichnet. Das Wort geht laut Kluge auf den Beinamen Al-Hwarizmi eines arabischen Mathematikers aus dem 9. Jahrhundert zurück, dessen verschollenes Lehrbuch die arabischen Ziffern in Europa bekanntmachte. Im heutigen Jargon der Informatik ist ein Algorithmus eine komplexe Kette aufeinander folgender Wenn/Dann-Entscheidungen innerhalb eines Systems. Abstrakter formuliert, meint der Algorithmus das Abarbeiten mathematischer Befehle durch den Prozessor, in Abhängigkeit der zugrunde liegenden maschinenlesbaren Daten.

Was sprachlich hermetisch klingt, ist längst gelebter Alltag im Leben der Menschen, sobald sie einen Computer im Internet benutzen. Jede Produktempfehlung auf der Seite eines global agierenden Versandhändlers, jeder Vorschlag auf der Seite einer Videoplattform, jedes denkbare Reiseziel auf der Seite einer Fluggesellschaft, jede Nachricht in einem Debattenforum, natürlich die Vorschläge auf Dating-Seiten, selbst die Anordnung der Artikel auf der Startseite der digitalen Fassung einer Tageszeitung ist das Ergebnis der Interpretation der bisherigen Nutzerdaten im Internet, mithin eines Algorithmus. Der Nutzer bekommt das digitale Angebot, von dem der Algorithmus meint, das es zu seinen bisher bekannten Neigungen, Vorlieben, Einstellungen passt. Je mehr digitale Daten dem Algorithmus bei der Analyse des Such- und Leseverhaltens eines gegebenen Nutzers vorliegen, umso detailliert und präziser werden die neuen Angebote beziehungsweise Vorhersagen.

Heutige Computer und ihre Mikroprozessoren, zusammengeschaltet in riesigen Rechenzentren, erlauben die Abarbeitung eines Algorithmus und das Kommunizieren seines Ergebnisses in Sekundenbruchteilen. Das Skript dieses Prozesses ist von Menschen erdacht und geschrieben, das Lernen im Vollzug geschieht jedoch automatisch. Morgen ist der Algorithmus, menschlich formuliert, klüger und genauer als heute. Für dieses maschinelle Lernen hat sich der Begriff der Künstlichen Intelligenz (KI) eingebürgert. Die damit gemeinten Rechenoperationen vollziehen sich in einem Tempo, für das der Mensch nur noch mathematische Dimensionen heranziehen kann, jedoch keine Vorstellung mehr, die der humanen Alltagserfahrung entspräche. Manche Beobachter stellen sich die Frage, ob die Maschine mehr ist als ein nüchterner nimmermüder Rechner, ob sie nicht vielleicht auch über ein Bewusstsein ihrer selbst verfüge.

Die Arbeit der Computerwissenschaftler der vergangenen Jahrzehnte auf dem Feld der Künstlichen Intelligenz fand in der letzten Woche ihren Niederschlag in der Verleihung der Nobelpreise. So erhielt Geoffrey Hinton (Jahrgang 1947) den Nobelpreis für Physik, der Kanadier legte die theoretischen Grundlagen für das heutige maschinelle Lernen in neuronalen Netzen. Hinton hat seine Arbeit beim Internetkonzern Google mittlerweile aufgegeben und zählt heute zu den prominenten Warnern vor einer unbändigen Künstlichen Intelligenz. Demis Hassabis (Jahrgang 1976) teilt sich den Nobelpreis für Chemie, der Brite erhielt diese Auszeichnung für seine Arbeiten an dem Gebiet der Rekonstruktion der Struktur der Proteine. Er hatte 2010 das KI-Start-up DeepMind mitgegründet, das vier Jahre später von Google übernommen wurde, für angeblich 400 Mio. Dollar.

Hassabis war in seiner Jugend ein passabler Schachspieler, bevor er sich nach der Schule entschied, Informatik in Cambridge zu studieren; promoviert wurde er in kognitiver Neurowissenschaft. Bei DeepMind gehörte er zu den Konzeptoren und Programmierern des Algorithmus AlphaGo, der 2016 erstmals einen Weltklassespieler im extrem komplizierten Spiel Go schlagen konnte. Das Nachfolgeprogramm AlphaZero ist die stärkste Software in der Geschichte der Schachcomputer. Bisherige Schachprogramme, paradigmatisch Deep Blue von IBM, das 1997 den amtierenden Weltmeister Garri Kasparow in einem Match unter Turnierbedingungen schlagen konnte, arbeiten nach der Brute Force-Methode, die ihr immens schnelles Rechnen begünstigt. Das Programm rechnet in jeder gegebenen Stellung jeden denkbaren legalen Zug in definierter Tiefe, so unsinnig er einem menschlichen Spieler auch erscheinen mag. Sein „Wissen“ bezieht das Programm aus einer Datenbank, die Millionen gespielter Partien enthält; hier gleicht es bisher zum Erfolg führende Züge ab und wendet sie auf die gegebene Position an. Es bedient sich also eines Gedächtnisses, zu dessen Entstehung es nichts beigetragen hat.

AlphaZero hingegen geht vor wie ein Kind am Anfang des Denkens und des damit verbundenen Spracherwerbs, er probiert, verwirft, erneuert, schreitet voran. Dem Algorithmus werden die Regeln und das Ziel des Schachs erklärt, jegliches Wissen über Eröffnungen und das Endspiel, über Strategie und Taktik, werden ihm hingegen vorenthalten. AlphaZero lernte Schach im Spiel gegen sich selbst, kolportiert wurden vier Partien pro Sekunde. Am Mittag des Schöpfungstages hatte das morgens nackt gestartete Programm die Stärke eines Großmeisters, am Abend übertraf es alle bisher bekannten Programme. Dabei geht AlphaZero rational und ökonomisch vor; es trifft in gegebener Stellung eine Vorauswahl möglicher Kandidatenzüge und berechnet nur diese. Wie ein Großmeister mit Stellungsgefühl und Erfahrung sortiert er die meisten möglichen, aber randständigen oder gar schädlichen Züge vorab aus. Dieser schonende Umgang mit eigenen Ressourcen ist ein Ausweis eigenständigen Lernens.

Das königliche Spiel des Schachs ist seit jeher ein bevorzugtes Objekt für Informatiker, die Funktion und die Kraft ihrer Programme zu demonstrieren. In der Tat eignet es sich mit seiner Regelbasiertheit, den für alle Beteiligten offen vorliegenden Informationen und dem Ausschluss eines Zufalls bestens als Testfeld, gewaltige Datenmengen in Form möglicher Züge strukturiert zu verarbeiten und danach Entscheidungen herbeizuführen. Die Apologeten Künstlicher Intelligenz mussten sich bislang die skeptische Frage gefallen lassen, worin der konkrete Nutzen der dahinter stehenden mathematischen Modelle bestehe, wie das Transponieren des Algorithmus auf andere Zusammenhänge, in eine andere Datenumgebung funktionieren könne. Eine Antwort lieferte im November 2022 das Programm ChatGPT des Start-ups Open AI, das im Handumdrehen Texte aller Art vom Sonett im Stile Shakespeares bis zur Einkaufsliste für den Kindergeburtstag formuliert.

Während ChatGPT erkennbar spektakulär auf die Endnutzer zielt, bietet AlphaFold aus dem Hause DeepMind, die Lösung eines alten Problems der Biologie und der Medizin. 2018 erstmals vorgestellt und 2020 wie 2024 aktualisiert, liefert das Programm auf der Basis neuronaler Netze präzise dreidimensionale Modelle der Struktur der Proteine – in wenigen Tagen, während ganze Labore mit hochspezialisierten Experten für die Analyse lediglich eines Proteins Jahre brauchten. Das Wissen über die Struktur respektive die Faltung konkreter Proteine erweitert das Verstehen der Funktionsweise menschlicher Zellen kolossal und spielt eine große Rolle bei der Erforschung von Krankheiten und der Entwicklung neuer Medikamente. Einzelnen Professoren der Biologie und der Chemie soll nach der Präsentation von AlphaFold der Stoßseufzer entfahren sein, der Algorithmus habe sie nun von einem Tag zum anderen überflüssig gemacht.

Im Juni dieses Jahres warnte der Wagniskapitalgeber Sequoia vor dem Platzen einer KI-Blase. So seien in den vergangenen Jahren weltweit etwa 600 Mrd. Dollar privates Kapital in die Forschung und die Entwicklung von KI-Algorithmen und dazu gehöriger Recheninfrastruktur geflossen, ohne dass die damit finanzierten Unternehmen eine Antwort auf die Frage hätten, wie sich diese schwindelerregende Summe refinanzieren ließe – kurzum, es fehle der notorisch lautsprecherischen KI-Branche an Geschäftsmodellen für künftigen Umsatz und Profit. Tatsächlich ist es so, dass das Wettrennen der großen Technologiefirmen von Google über Microsoft und Meta bis zu Tencent mit ihren allgemeinen Sprachmodellen riskante Wetten auf die Zukunft sind. Die gewaltigen Investitionen dieser Konzerne in KI, die längst jene der Universitäten und des Militärs in den Schatten stellen, dienen primär der Besetzung eines emergenten Marktes; sie wollen die Ersten sein, längst bevor es etwas zu verkaufen gibt. Der Algorithmus AlphaFold nun stößt die Tür zum Gesundheitsmarkt weit auf.

Der neben dem Fortschrittsoptimismus ebenfalls artikulierten Sorge vor einer KI, die mächtiger werden könne als der sie programmierende Mensch, begegnen die staatlichen Regierungen mit Regulierung. Sie wollen den Konzernen Vorschriften machen, zu welchen Zwecken, in welchen Kontexten und mit welchen Folgen sie ihre Algorithmen einsetzen. Ein hehres Ziel, das angesichts des Tempos der technologischen Entwicklung rührend antiquiert wirkt. Vielmehr ist es so, dass die Menschheit gerade eine weitere Kränkung erlebt. Die Astronomie der frühen Neuzeit sagte dem Menschen, nicht die Erde, vielmehr die Sonne sei der Mittelpunkt des Universums, um den sich die Planeten drehten; die Biologie des 19. Jahrhunderts erklärte den Menschen zum vorläufigen Endresultat der Evolution und verwarf die Vorstellung, er sei die Krone der Schöpfung; die Psychoanalyse des 20. Jahrhunderts zeigte, dass der Mensch nicht von rationalen Argumenten gesteuert sei, sondern von unbewussten, meist sexuell konnotierten Affekten wie Gier, Verlangen, Neid und Egoismus. Und nun kommt die Informatik und demonstriert theoretisch wie empirisch, dass der Algorithmus Daten schneller, billiger und genauer verarbeiten kann als das menschliche Gehirn. Doch ein Trost bleibt vorerst: Bisher wurde noch kein Algorithmus von einem Algorithmus programmiert, der Mensch behält zumindest symbolisch das letzte Wort.

Verlage

  Literaturpreise sind Instrumente der Hierarchisierung von ästhetischer Kultur, Organe kulturpolitischer Steuerung und gehören als Reflex und Stifter öffentlichen Sinns zum Repräsentationswesen von Kulturen. – Sibylle Cramer

Der Oktober steht verlässlich im Zeichen des Buches. Mitte des Monats trifft sich die Branche zur weltgrößten Buchmesse in Frankfurt am Main, hier werden Lizenzen gehandelt, Diskussionen geführt, Reden gehalten, Autogramme gegeben, Lesungen bestritten und Klatsch wie Tratsch weiter gereicht. Hier sind die international tätigen Konzerne ebenso vertreten wie die mittelständischen inhabergeführten Verlage, Gastland dieses Jahr ist Italien. Anfang des Monats gibt die Schwedische Akademie zudem bekannt, an wen diesmal der Nobelpreis für Literatur geht, Jahr für Jahr ein beliebtes Ratespiel unter den Lesern: Karl-Ove Knausgard? Wohl kaum, erst im letzten Jahr wurde der norwegische Autor Jon Fosse ausgezeichnet. Haruki Murakami? Favorit seit Ewigkeiten, allerdings bekam Kazuo Ishiguro den Preis erst 2017. Leanne Shapton? Sehr interessant, aber noch versteckter als der letzte Geheimtipp. Taylor Swift? Lieber nicht nach dem Bob Dylan-Debakel von 2016.

Auch die Verlagswelt produziert ihre einschlägigen Neuigkeiten. So wurde jüngst bekannt, dass ein bislang branchenfremder Unternehmer den renommierten Suhrkamp-Verlag, eine tragende Säule der Belletristik wie der Geisteswissenschaft der Republik, vollständig übernimmt. Die bisherigen Eigner haben die Villa des legendären Verlegers Siegfried Unseld im Frankfurter Westend verkauft, ein Fingerzeig, dass es selbst beim noblen Hause Suhrkamp wirtschaftliche Spannungen gibt. Dazu passt auch ein Beschwerdeartikel, den die Geschäftsführerin des Merlin-Verlags Anfang des Monats in der FAZ veröffentlichte. Die Autorin Katharina Meyer beklagt darin den angeblich zugenommen Druck auf die Buchbranche, genauer auf die Verlage. Diese litten unter Selbstausbeutung, geringen Margen, hohem Konkurrenzdruck gesichtsloser Konglomerate, Übernahmedrohungen von Investoren sowie allgemein sinkenden Käuferzahlen. Weil sie aber mit ihren Produkten, also Büchern, die Grundlage „unserer Demokratie“ bildeten, sei es nur angemessen, dass sie Zuschüsse von der Politik bekämen, die die Autorin larmoyant einklagt.

Eine Forderung, die zu erheben reichlich Chuzpe voraussetzt. Die Buchbranche, speziell der Verlagskosmos, genießt in Deutschland schon jetzt etliche ökonomische Annehmlichkeiten. So liegt der Umsatzsteuersatz für Bücher, als Kulturgut deklariert, bei 7 Prozent, nicht bei den sonst üblichen 19. So legen die Verlage, also die Produzenten, und nicht der Handel, die Preise für die Bücher fest (damit ist der Grund genannt, warum sich inhabergeführte Buchhandlungen im Wettbewerb mit Ketten à la Thalia und auch Amazon behaupten können). Es gibt weiter eine Unzahl an Literaturpreisen in diesem Land, in Frankfurt beispielsweise wird zum Auftakt der Messe der Deutsche Buchpreis verliehen. Zudem existieren steuerfinanzierte Literaturhäuser, in denen Verlage Lesungen abhalten und ihre Autoren öffentlich und werbewirksam präsentieren können. Nicht zuletzt sorgen verschiedene Fonds für Zuschüsse an Übersetzer, Autoren können sich darüber hinaus für zahlreich zu vergebende Stipendien bewerben.

Doch diese weltweit einmalige Förderlandschaft reicht nach Ansicht Katharina Meyers nicht aus, es sollen nun auch die Verlage Mittel der öffentlichen Hand erhalten. Ihren Vorstellungen nach soll es neben der staatlich subventionierten Bühnenwelt der Opern, Theater und Orchester, der staatlich finanzierten Museen und natürlich dem zwangsfinanzierten öffentlich-rechtlichen Rundfunk ein weiteres kulturelles Standbein geben, das nicht primär eigenwirtschaftlich handelt, sondern umsorgt im Licht und vom Wasser der Politik gedeihen soll – als ob das der Weg in die Freiheit und Unabhängigkeit wäre. Und all das wegen des unterstellten kulturellen Mehrwertes „der“ Verlage und „der“ Bücher. Ein unbefangener Gang durch eine beliebige Buchhandlung einer deutschen Innenstadt offenbart schonungslos, wie viel überflüssiges Zeug Jahr für Jahr auf Papier gedruckt erscheint, von dem der übergroße Teil bereits in Vergessenheit gerät, bevor er überhaupt wahrgenommen werden kann.

Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels legt alljährlich im Juli die Wirtschaftszahlen des deutschen Buchmarktes vor. Für das Geschäftsjahr 2023/24 zieht er eine positive Gesamtbilanz, der Umsatz wird mit 9,7 Mrd. Euro beziffert, einem Plus von 2,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Knapp 42 Prozent dieser Umsätze werden über den stationären Handel generiert, das Internet sorgt für knapp 25 Prozent, 18 Prozent gehen von den Verlagen direkt an institutionelle Endkunden. Die Belletristik hat mit 35 Prozent den größten Anteil am Umsatz, dann schon kommen die Kinder- und Jugendbücher mit 18 Prozent, noch vor den Ratgebertexten mit 12 Prozent. Bei der absoluten Zahl der Buchkäufer ist seit Jahren ein langsamer, aber stetiger Rückgang auf jetzt 25 Mio. zu verzeichnen, was bei leicht steigenden Umsätzen der Branche den Schluss zulässt, dass die weniger werdenden Kunden mehr und teurere Bücher kaufen (und hoffentlich auch lesen). Beim Ausblick der Branche kommt der Börsenverein unter anderem zum Ergebnis, eine Verlagsförderung „zum Erhalt der Vielfalt auf dem Buchmarkt“ sei „unbedingt erforderlich“.

Katharina Meyer zitiert in dem erwähnten Artikel in der FAZ eine von der seinerzeitigen Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien Monika Grütters angedachte Verlagsförderung, die bei mindestens 10 Mio. Euro pro Jahr liegen solle. Deren Nachfolgerin im Amt Claudia Roth soll laut Haushaltsentwurf der Bundesregierung für 2025 über einen Etat von insgesamt 1,9 Mrd. Euro verfügen, da lägen die begehrten 10 Mio. Euro also locker drin. (Zur Einordnung: Der Bundeshaushalt 2025 soll komplett bei 488 Mrd. Euro liegen. Der Löwenanteil entfällt mit geplanten 179 Mrd. Euro auf das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 53 Mrd. Euro sind für das Bundesministerium der Verteidigung vorgesehen, noch 49 Mrd. Euro für das Bundesministerium für Digitales und Verkehr und 22 Mrd. Euro für das Bundesministerium für Bildung und Forschung) Der nach Sachgruppen differenzierte Etatentwurf der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien veranschlagt 2 Mio. Euro zur „Förderung der kulturellen Vielfalt unabhängiger Verlage“.

Muss das sein?, fragt sich unvoreingenommen die Steuerzahlerin, die im konkreten Fall auch ausgewiesene Liebhaberin, Käuferin und Leserin von Büchern aus allen möglichen großen, mittleren und kleinen Verlagen ist. Wieso ist es Aufgabe der Regierung, den Betrieb „unabhängiger Verlage“ durch Subventionen mitzufinanzieren? Wer entschiede im Haus der Kulturstaatsministerin nach welchen Kriterien, welche Verlage in den Genuss des Geldes kommen und welche nicht? Spielte gegebenenfalls deren politische Positionierung eine Rolle? Ist bei rund 60.000 Neuerscheinungen jährlich in Deutschland quer durch alle Genres nicht von ausreichender „kultureller Vielfalt“ auszugehen? Muss wirklich jeder Mikroverlag mit drei oder vier Stellen, der ohne einen gutwilligen Mäzen im Rücken innerhalb einer Dekade vielleicht 15 Titel produziert, durch staatliche Unterstützung am Markt gehalten werden? Wäre das Angebot eben jener als hilfsbedürftig deklarierten kleinen Häuser wirklich so wertvoll, innovativ und qualitätvoll sowie kulturell unverzichtbar wie behauptet, setzte es sich gewiss am Markt durch, fände es seine Nische und sein treues Publikum. Ansonsten wäre es Zeit für eine Konsolidierung.

Der Suhrkamp-Verlag hat es vorgemacht, wie die Ökonomie von Liebhabertexten in niedrigen Auflagen gelingen kann. Zu seinem Programm gehören etwa Klassiker wie Bertolt Brecht, Hermann Hesse, Max Frisch und Thomas Bernhard, die auch Jahrzehnte nach ihrem Tod mit ihren stabil verkauften und gelesenen Büchern verlässlich Tantiemen in die Kasse des Hauses spülen. Diese werden dann zur Querfinanzierung zum Beispiel von Lyrik oder Judaica eingesetzt. Festzuhalten bleibt, dass Verlage selbstständige Akteure der Wirtschaft sind, sie handeln mit Büchern, Ideen und Kultur. Sie sind keine bedürftigen Agenten einer Zivilgesellschaft, die vom Staat zu hätscheln und zu päppeln wären. Wenn es so weit käme, könnte die Regierung über eben ihr Steuergeld mitentscheiden, welche Texte nun gedruckt, publiziert und verkauft würden – an einer solchen offenen Einflussnahme der Politik auf intellektuelle, ästhetische und kulturelle Debatten hätten Verleger, Autoren und Leser definitiv kein Interesse. Ist doch die Existenz der Verlags- und Buchwelt im 19. Jahrhundert in bewusster Abgrenzung zum Staat entstanden, ja, gegen seine Zensurvorgaben erkämpft worden. Daran sollte sich die Branche auch heute erinnern.

Sub 3

  Das Gefühl der Freiheit ist eines der größten Geschenke, die einem das Laufen geben kann. – Heather L. Reid

Nach einem gemächlichen Einlaufen über breite Waldwege stoppte die Gruppe an einem größeren Platz nahe des Teufelssees. Hier fand das rituelle Dehnen der unterschiedlichen Muskelgruppen statt, um diese für den eigentlichen Land geschmeidig und warm zu machen. Einer der erfahrenen Läufer beschrieb die jeweiligen Übungen, die die Gruppe dann konzentriert ausführte. Strecken des Beines nach hinten bei flacher Sohle zur Dehnung der Achillessehne, Beugen des Knie bis zum Po zur Kräftigung des Oberschenkels, Rumpfbeugen zur Straffung der Bauchmuskeln, Kreiseln des Kopfes zur Lockerung des Nackens. Diese Übungen, so der Gedanke, sollten den Körper an die bevorstehende Belastung heranführen, die mit der Zeit stetig zunahm. Sie sollten ein ruckartiges Wackeln auf der zweiten Hälfte der Strecke verhindern und damit Verletzungen vorbeugen.

Nach diesem spielerischen Auftakt bildeten sich mehrere Laufgruppen, je nach angestrebter Streckenlänge und zu laufendem Tempo. Kerstin schloss sich mit Mario, Jan, Eckart und Jürgen den schnellsten Läufern an, von den bisherigen Trainingseinheiten wusste sie, dass sie deren reguläres Tempo über die anspruchsvolle Havelhöhenrunde gerade so mitgehen konnte. Sie wollte von den Besten lernen, um selbst besser zu werden. Ihr Ziel war es, bei ihrer anstehenden Marathonpremiere im Herbst in die Nähe der magischen drei Stunden zu gelangen. Da war es gut, sich jene zum Maßstab zu nehmen, die bereits eine Sub 3 beim Marathon vorweisen konnten.

Es war einer der milden Tage im August, noch stand die Sonne hoch, aber sie brannte nicht unbarmherzig. Sie liefen in gleichmäßigem Tempo, das ein Reden noch erlaubte; Kerstin war klar, dass mit zunehmender Streckenlänge die Geschwindigkeit gesteigert werden würde – leichtes Einlaufen, konzentriertes Hochfahren, Grundlagenausdauer, schließlich Beschleunigen und Halten des Wettkampftempos bis zum Endspurt. Sie hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, in der Tradition der Rennradfahrer zu kreiseln; einer ging nach vorn in die Tempoarbeit, nach zwei Minuten rückte der nächste nach vorn, dann übernahm der dritte, sodass jeder das Wechselspiel von Führung und Mitlaufen kennenlernte. Die Waldwege waren teils sandig, teils durchwurzelt, manche waren kurvig, andere lang gezogen. Die sich dauernd ändernde Topographie war eine zusätzliche Schulung für einen aufmerksamen Tritt; anders als beim Laufen auf Asphalt gab es im Wald viel mehr Hindernisse, die aber nur dann zur Sturzgefahr wurden, wenn das Auge aktiv nach ihnen suchte.

Es war ein Genuss, Mario beim Laufen zuzusehen; er bewegte sich mit einer Eleganz, Ökonomie und Zielstrebigkeit vorwärts, als hätte er in seinem Leben nie etwas anderes gemacht. Er nahm große Schritte und rollte lehrbuchhaft über den Mittelfuß ab, sich mit den Zehen am Ende jedes Schrittes noch einmal abstoßend. Die Arme im Ellenbogen im rechten Winkel gebeugt, die Handgelenke gestreckt, als trieben die oberen Extremitäten den Läufer ebenso nach vorn wie die unteren. Der Rumpf leicht nach vorn gebeugt, die Halswirbelsäule als Verlängerung des Rückens. Der Kniehub und das Anfersen fast so hoch wie bei einem Mittelstreckenläufer, die ganze fließende Bewegung wie eine Studie, die am großen Paavo Nurmi Maß nahm. Dazu ein flüssiger Atem, leise und behende.

Kerstin waren die sich kreuzenden und sich wieder entfernenden Wege im Grunewald durch ihr regelmäßiges Training vertraut; wenn sie allein unterwegs war, lief sie ohne Uhr und konzentrierte sich auf eine saubere Technik und ihr von innen wachsendes Körpergefühl. Sie hatte es im Blut, schneller oder gemächlicher zu laufen; wichtig waren die Kilometer pro Woche, das Dehnen zum Runterkommen und das Schwimmen als Ausgleichssport. In einer anderen Trainingsgruppe ging es entlang der Seenkette die Hundekehle, die Krumme Lanke und den Schlachtensee entlang, bis zur Wende am Wannsee. Diese langen Läufe mit rund 34 Kilometern hatten vor allem eine psychologische Wirkung, sie führten Geist und Organismus an die heftigen 42 Kilometer des Marathon heran und signalisierten, dass auch der längste Lauf mit dem ersten Schritt beginne und jede Meile eine kleine Etappe sei.

Mit den Jungs ihrer Laufgruppe begab sie sich auf ein neues Niveau. Sie hatte nicht den Eindruck, dass Mario, Jan, Eckart und Jürgen ihr zuliebe ein ruhigeres Tempo anschlügen; sicher stand auch bei diesen Einheiten der Spaß an der Bewegung im Vordergrund, gleichwohl wollten alle noch ein bisschen schneller werden, und das ging nur durch schnelleres Laufen. Als die Führungsarbeit an Kerstin war, ging es gottlob leicht bergauf, was zu einer automatischen Reduktion des Tempos führte. Die sanfte Steigung ließ sie kurz auf dem Vorfuß laufen, was eine besondere Belastung der Wadenmuskulatur und der Achillessehne darstellte und entsprechend geübt werden musste. Eine bessere Situation für diesen Zweck konnte Kerstin sich kaum vorstellen. Ihr Zwerchfell pumpte im tiefen Rhythmus, die Sohlen ihrer leichten Schuhe tippten auf den märkischen Sand, der Schweiß sammelte sich im Nacken, oberhalb der Lenden und in den Kniekehlen.

Auf dem Kamm der Havelhöhe öffnete sich der Blick über Lindwerder zum anderen Ufer nach Gatow. Die Havel war hier so breit, dass sie mehr an einen See denn an einen Fluss gemahnte. Das Quintett hatte einen gleichen Takt gefunden, es kam Kerstin so vor, als bildeten sie einen gemeinsamen Körper, der in Bewegungen von allen zusammen geformt wurde. Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn, um sich den Schweiß abzuwischen, die langen Haare wippten im Zopf von links nach rechts wie das Pendel einer Standuhr. Von der Havelchaussee drängten die surrenden Ketten einer Rennradgruppe nach oben, über ihnen sangen unsichtbare Vögel ihr Nachmittagslied. Ihr gleichmäßiges, tiefes Atmen komplettierte das Geräusch des Laufens auf federndem Waldboden.

Würde sie dieses Tempo einen ganzen Marathon durchhalten, ohne überhaupt zu wissen, wie sich die Strecke ab dem berüchtigten Kilometer 35 anfühlte? Auf ihren Trainingsläufen hatte sie noch nie Trinkflaschen mitgeführt, während eines Marathons war es unabdingbar, regelmäßig zu trinken, auch das würde sie noch üben müssen. Durch das dichte Geäst drängte sich die Sonne auf den Waldboden, der die Leinwand für ihre tanzenden Schatten abgab. Nach einer guten Stunde war Kerstin in einem Zustand angekommen, von dem sie annahm, dass er im Zen Satori genannt wurde, ein Zustand des schieren Geschehenlassens ohne Wille und Zweifel, ein Sein ohne Fragen und Beschwerden. Sie wusste, dass ihr Organismus mit der Zeit Endorphine ausschüttete, die die Pein des Laufens abmilderten und das Hirn mit ozeanischer Zufriedenheit fluteten. Als der Lauf nach rund 16 Kilometern auf dem großen Parkplatz schließlich endete, breitete sich ein wohliges Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Ob das Tempo für eine Sub 3 reichen würde, konnte sie nicht abschätzen. Das war auch nicht so wichtig, solange ihr das Laufen eine reine Freude war.

Solo

  Should auld acquaintance be forgot and never brought to mind? – Auld lang syne, schottische Volksweise

Nach der Vesper saßen sie zusammen im Gästehaus der Abteikirche, das Abendbrot einnehmend. Der Gesang der Mönche zum Abendlob war für Kerstin der Höhepunkt eines jeden Tages, die Stimmen wurden behutsam von der Orgel getragen und bis unters Dach der Kirche gehoben, wo sie sich in Dunst und Atem auflösten und sich auf den Mauersteinen ablagerten. Im Lauf der Jahrzehnte hatte sich dergestalt eine Sedimentschicht oberhalb des Chorgestühls gebildet, wie es auch in jedem Konzertsaal und Opernhaus mit der Zeit geschieht. Nachdem der letzte Ton verklungen war und schließlich ausschwang, hallten die Quader noch minimal nach. All die Noten lagen auf dem Putz des Gemäuers wie ein akustischer Anstrich, als Vorgriff auf die Ewigkeit.

Den Anwesenden am Abendbrottisch ging es wie Kerstin, sie waren verzückt und beseelt vom gregorianischen Gesang der Mönche, den sie ebenso religiös wie ästhetisch aufnahmen. Die Gemeinschaft der Mönche klang wie eine einzelne Stimme, dabei blieb jede einzelne für das geübte Ohr identifizierbar. Einer der Tischnachbarn fing an, von seinen eigenen Chorgesängen zu berichten. Er war vor langer Zeit einem Bergmannschor im Ruhrgebiet beigetreten, der mit den Jahren immer schütterer wurde; die Sänger starben weg, ohne dass ausreichend frische Stimmen nachrückten. An Kerstin gewandt, fragte er, ob sie nicht auch Lust hätte, in einem Chor zu singen? Sie habe ja eine so schön volle Altstimme, die sich in einem Chor bestimmt gut machen würde.

Touché, dachte Kerstin. Sie hatte durchaus Freude am Singen und genoss die eigene Stimme, wenn sie sie allein zum Lied erhob, beim Spazierengehen etwa oder auf dem Fahrrad. Aber in einem Chor zu singen, war dann doch zu viel für sie. Zum einen wollte sie sich der Aufnahmeprüfung, die mittlerweile jeder Amateurgesangverein einer Bibliothek verpflichtend für Neumitglieder macht, nicht stellen; zu groß war ihre Scheu, vor zahlreichen Unbekannten im Mittelpunkt zu stehen. Zum anderen waren die schüchternen Versuche, die sie auf dem Weg dahin unternommen hatte, zu ernüchternd gewesen, als dass sie an einer Wiederholung interessiert wäre. Mochte ihre Stimme auch von Unbeteiligten als voll und wohlklingend empfunden werden, sie selbst wusste, dass sie nie die Lage erreichen würde, die ihr angemessen schien.

Beim Sprechen, vor allem wenn sie dabei anderen ansichtig wurde und ihre Mimik mitspielte, lag ihre Stimme auf der Höhe des Alt. Beim Singen aber konnte sie diese Gefilde nicht erklimmen, sie blieb in den Niederungen des Tenors stecken, wie es eine Freundin anlässlich eines gemeinsamen Messebesuchs einmal bemerkte. Anatomisch kein Wunder, hatten sich doch unter dem verderblichen Einfluss des Testosteron Kehlkopf und Stimmbänder dergestalt vergrößert, dass ihre Stimme dauerhaft ein Register tiefer gerutscht war, eine Entwicklung, die auch unter langjährigen Östrogengaben nicht rückgängig zu machen war. Sopran, Mezzo und Alt waren unter diesen Umständen nicht erreichbar, alles andere wollte sie sich nicht zumuten.

Eine Freundin, mit der sie die Faszination für die Gemälde Caravaggios teilte und mit der sie einst eine Wallfahrt nach Rom zu den Museen, Kirchen und Galerien, die die Werke des Barockmalers bargen, unternahm, meinte einmal scherzhaft, unter Zugrundelegung der Theorie der Wiedergeburt Rudolf Steiners, vermutlich sei sie vor 400 Jahren ein Kastrat gewesen und seinerzeit von Caravaggio portraitiert worden. Bis in die Zeit des I. Vatikanum wurden präpubertierende Jungen mit einem glockenhellen Knabensopran kastriert, um ihre Stimme für den päpstlichen Chor zu erhalten. Diese barbarische Tradition wurde unter Verweis auf 1 Kor 14,34 legitimiert, nach der Frauen in der Kirche zu schweigen hätten, also auch nicht singen sollten. Die Kastraten mit ihrer chirurgisch eingefrorenen hohen Stimme übernahmen dann die Frauenpartien, sie klangen dank des größeren Lungenvolumens kräftiger und schmetternder als jene, sie wurden ähnlich dem metallischen Klang einer Trompete beschrieben.

Heutige Aufführungen barocker Oratorien brauchen gottlob nicht mehr auf Kastraten zurückzugreifen, vielmehr übernehmen Altistinnen oder Countertenöre deren Passagen. Letztere singen nicht mit ihrer Brust-, sondern mit ihrer Kopfstimme, dabei die Schädelhöhlen als Resonanzkörper nutzend. Diese Technik erfordert ein langes intensives Training und führt nicht immer zum gewünschten Ergebnis. Kerstin hatte sich einmal in der Praxis mit einer Lehrerin versucht, war aber davon abgekommen; zu unnatürlich die dafür erforderliche Atmung, zu eng und starr der vokale Raum der Mundhöhle, zu krampfend die damit einhergehenden Muskelkontraktionen. Sie hatte einmal den französischen Countertenor Philippe Jaroussky in einer Monteverdi-Oper Unter den Linden erlebt und war hingerissen von seiner Stimme aus Seide, Licht und Wind. Doch selbst verfügte sie nicht über ein solches Organ, sodass sie in Gemeinschaft lieber schwieg, als die Partien eines Tenors zu singen.

Sie erinnerte sich der Aussage eines Mönches, den Heiligen Augustinus zitierend, dass, wer singe, doppelt bete. Dem war nur beizupflichten, nur gelang ihr dies nicht offen in der Gemeinde mit zugewiesenen Tonlagen. Beim Messgesang summte sie mehr, denn dass sie sang; sie selbst hörte ihre Stimme als rein und tonsicher und hoffte, die anderen dadurch nicht zu stören. Der heilenden Kraft der Musik konnte und wollte sie sich nicht entziehen, sie genoss den Schauer der Rührung, der sie gemeinsam mit Tränen erfasste, ob sie nun das Adeste Fideles oder Ik sta voor U in leegte en gemis intonierte, die Wahnsinnsarie aus Lucia di Lammermoor oder eine zeitlose Weise von Abba. Nur war sie mit ihrer Stimme nicht geschaffen für einen Chor mit klaren Rollen; sie war generell nicht tauglich für die Gruppe, die Equipe, die Einheit, das Peloton, sie war bestimmtfür das Solo, und auch das nur im Privaten, nicht auf der Bühne.

Dem Tischnachbarn gab sie auf seine Frage die ausweichende Antwort, dass sie lieber der Musik zuhöre, als sie selbst mitzugestalten. Diese halbe Wahrheit nahm sie sich selbst nicht vollends ab, konnte sie aber in Gesellschaft gelten lassen. Nach Beendigung des Abendbrotes ging sie hinauf auf ihr Zimmer, ein wenig in der illustrierten Geschichte der Abtei blätternd. Dem Buch konnte sie entnehmen, dass die Pflege des gregorianischen Gesangs konstitutiv für die Benediktiner generell und für diese Abtei speziell sei; professionelle Musiker unterwiesen ihre Brüder in dieser Kunst, bis sie alle ein zufriedenstellendes Niveau erreicht hatten. Zur Komplet ging sie erneut hinunter in die Abteikirche, ein letztes Mal am Tag zogen die Mönche ins Gestühl und psalmodierten den Dank an den dreieinigen Gott. Kerstin ließ sich forttragen von der einen Stimme, die sie mit geschlossenen Augen vernahm, bevor das heilige Schweigen der Nacht sie alle umfing. Die einen singen, die anderen lauschen, all das gehört zur Musik, war ihr letzter Gedanke vor dem Einschlafen.

Befreiung

  Jeszcze Polska nie zginęła – Erster Vers der polnischen Nationalhymne

Der Begriff der Befreiung wird im deutschen Sprachgebrauch mit dem Ende des II. Weltkriegs und dem Zusammenbruch des NS-Regimes 1945 assoziiert. In seiner berühmten Rede zum 8. Mai 1985 im Deutschen Bundestag sprach der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker erstmals von einem Tag der Befreiung, als der der Termin der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht zu verstehen sei. Die Lesart eines historischen Datums kann auch anders ausfallen, wie es das Buch „Nach der Befreiung“ der polnischen Philosophin Barbara Skarga illustriert. Der Untertitel dieses Buches „Aufzeichnungen aus dem Gulag 1944 – 1956“ ist dazu beredt genug, gemeint ist hier die Entlassung aus sowjetischer Gefangenschaft.

Barbara Skarga wurde 1919 in eine begüterte polnisch-litauische Familie geboren; ihr Vater war ein Versicherungsjurist, eine Tante verfügte über ein großes Anwesen in der Nähe von Vilnius. Barbara Skarga genoss wie ihre Schwester eine humanistische Erziehung mit Musik und Literatur, lernte Griechisch, Latein, Französisch sowie Deutsch und glänzte in der Schule in Mathematik. Nach dem Abitur nahm sie auf Wunsch der Eltern ein Studium der Elektrotechnik auf, das sie jedoch nach drei Semestern zugunsten der Philosophie in Vilnius aufgab. Der Überfall der deutschen Wehrmacht im September 1939 und die Aufteilung des erst 1919 wieder unabhängig gewordenen Polen zwischen dem III. Reich und der Sowjetunion beendete jäh das frohe Leben als Studentin; Skarga arbeitete in der Folge als Stuckateurin und Wandmalerin, um sich und ihre Familie im Krieg durchzubringen.

Parallel hierzu schloss sie sich der Armija Krajowa, der nichtkommunistischen polnischen Widerstandsarmee, als Kurierin an. Im September 1944 wurde sie von Soldaten der Roten Armee verhaftet und in einem Scheinprozess der Kollaboration mit den Nationalsozialisten für schuldig befunden. Nach zwölf Jahren der Zwangsarbeit in sowjetischen Lagern und einer Kolchose in Kasachstan konnte sie nach Polen zurückkehren und ihr Studium der Philosophie fortsetzen, unter anderem beim zehn Jahre jüngeren Leszek Kolakowski. Nach ihrer Promotion arbeitete sie an der Universität Warschau, sie beschäftigte sich gänzlich unmarxistisch mit dem Positivismus und publizierte zu Auguste Comte und Henri Bergson. 1988 wurde sie Chefredakteurin der Fachzeitschrift Etyka und erhielt schließlich eine Professur. Sie engagierte sich in der Oppositionsbewegung Solidarnosc und wurde eine der wichtigsten Intellektuellen des Landes. Barbara Skarga starb 2009 in Altenstein.

Ihre Zeit im Gulag (Akronym aus Glawnoje uprawlenije lagerej, i. e. Hauptverwaltung der Lager) ließ Skarga auch nach ihrer Rückkehr in ihre Heimat nicht los. Sie konzentrierte sich auf ihre akademische Laufbahn, fertigte aber auch Skizzen zu ihrer Lagerhaft an. Der Text „Nach der Befreiung“ entstand Mitte der 1980er Jahre und wurde zuerst 1985 unter dem Pseudonym Wiktoria Krasniewska im Ausland veröffentlicht. Die Autorin erlebte 1990 die erste polnische Ausgabe unter ihrem Namen, wenn auch in einer geringen Auflage. Im Jahr 2022 erschien eine niederländische Übersetzung, die wiederum die Basis der vorliegenden deutschen Ausgabe von 2024 ist. Dass hierfür nicht das polnische Original herangezogen wurde, begründete der deutsche Verlag mit der immensen Schwierigkeit, hiervon ein Exemplar auch nur antiquarisch zu erwerben.

Das Buch „Nach der Befreiung“ reiht sich auf den ersten Blick ein in die kanonischen Werke der Gulag-Literatur, die mit den einschlägigen Texten von Fjodor Dostojewski und Anton Cechov ihre Vorläufer hat und mit Warlam Schalamow, Jewgenia Ginsburg, Angela Rohr und Alexander Solschenizyn ihre bekanntesten Vertreter. Skarga beschreibt die brutalen Verhöre, denen sie nach ihrer Verhaftung unterzogen wird, die Gerichtsfarce ohne jeden anwaltlichen Beistand, die drangvolle Enge in den Gefängniszellen, die groteske Fabrikation der Vorwürfe ohne jeden Beleg, den tagelangen Transport in Viehwaggons in das Arbeitslager im Hohen Norden am Polarkreis. Sie tut das im Tonfall eines sachlichen Protokolls, das auf Dramatisierungen wie Ausschmückungen verzichtet, da die geschilderten Szenen erschütternd und beschämend genug sind. Neben den detaillierten Beschreibungen des Lagerlebens findet die Leserin immer wieder ethische und psychologische Reflexionen des Agierens der Häftlinge wie der Wärter. Vor ihren Augen entsteht eine grausame Welt ohne Ausweg, die nach eigenen Gesetzen funktioniert, deren Übertreten unweigerlich zum Tode führt.

Dabei legt Skarga, anders als die erwähnten Klassiker der Gulag-Literatur, besonderen Wert auf ihre Nationalität als Polin. Sie ist keine Sowjetbürgerin, die nach den Jahren der Oktoberrevolution, des Bürgerkrieges, der Kollektivierung und der Industrialisierung im unbedingten Glauben an den Siegeszug des Sozialismus und ergebener Treue zu den Führungskadern erzogen wurde, sondern eine gebildete Angehörige eines Volkes, das nach den Jahrhunderten der Teilung seines Landes erneut die Erfahrung macht, den räuberischen Gelüsten eines imperialen Nachbarn zum Opfer zu fallen. Das nach Westen verschobene Polen der Nachkriegszeit findet nicht etwa seine Freiheit wieder, sondern wird als Volksrepublik in den sowjetischen Machtbereich in Osteuropa eingegliedert, seine staatliche Souveränität existiert nur auf dem Papier, die Vorgaben zu Politik, Wirtschaft und Kultur aus Moskau müssen umstandslos umgesetzt werden.

Hinter dem Zaun der sowjetischen Lager versammeln sich nach dem II. Weltkrieg nicht nur Kriminelle und – vermeintliche wie tatsächliche – Regimegegner, sondern auch Deutsche, Balten, Italiener, Griechen, Kaukasier, Rumänen, Japaner und eben Polen, die allein wegen ihrer Nationalität inhaftiert werden. Sie alle werden mit dem nicht näher definierten Vorwurf der Spionage konfrontiert, sie gelten als Saboteure und Feinde des Sozialismus. Für diesen Vorwurf reicht es aus, als Soldat etwa in der Schlacht um Berlin gekämpft zu haben oder als Häftling in Buchenwald und selbst Auschwitz gewesen zu sein. Skarga sieht bei den Menschen, die nicht zum Kosmos des Vielvölkerstaates UdSSR gehören, eine unbändige Sehnsucht nach Freiheit, die dem Sozialismus unbekannt sei. Dieser habe seine Untertanen zu Sklaven abgerichtet, die ihr Schicksal nicht mehr hinterfragen und die fortwährenden Schläge nur noch hinnehmen wie ein Stein. Einmal sagt ihr ein Offizier während eines Verhöres, allein dass sie die gegen sie erhobenen Anschuldigungen nicht einfach zugebe, zeige, dass sie eine gefährliche Feindin der Sowjetunion sei und durch schwere Arbeit im Lager gebessert werden müsse.

Der Horror des Lagerlebens wird von Skarga überdeutlich geschildert. Das Essen besteht meist aus einer wässrigen Suppe ohne Fett und Kohlenhydrate, der groben körperlichen Arbeit im Straßenbau, in der Mine und im Forst völlig unangemessen. Die sanitären Bedingungen sind katastrophal, fließend Wasser gibt es kaum, Seife existiert ebenso wenig wie Hygieneprodukte; bei vielen Frauen setzt die Menstruation schockartig aus. Die Arbeitskleidung ist verdreckt und zerlumpt, Nadel und Faden zum Ausbessern sind nur gegen Brot zu bekommen, und auch das nicht immer. Die Baracken sind überbelegt, auf den harten Bohlen gibt es keine Decken und Kissen, die Notdurft müssen sie des Nachts in einem großen Eimer verrichten, der den Raum mit beißendem Gestank durchzieht. Bücher und Zeitungen sind so gut wie nicht zu bekommen, eine Privatsphäre gibt es nicht, selbst eine Stunde des Alleinseins ist undenkbar. Hinzu kommen die Hiebe des Wachpersonals und die Diebstähle der geborenen Kriminellen, die niemals ein Gewissen und eine Tötungshemmung entwickelt haben.

Skarga gibt eine einleuchtende Antwort, warum sie, im Gegensatz zu so vielen Anderen, die Mahr der Lager überlebt hat. Zunächst kann sie aus ihrer akademisch-literarischen Erziehung schöpfen; sie rezitiert liebgewonnene Gedichte und Erzählungen und setzt dergestalt der Rohheit des Lagers einen Anflug von Kultur als Überlebensmittel entgegen. Sodann ist sie von einem starken Willen zur Freiheit durchdrungen, der sie nicht resignieren lässt, sondern das System, das sie knechtet, als das eigentliche Übel identifiziert. Schließlich hat sie schlicht das Glück, als vielseitig gebildete Frau für die Arbeit als Arzthelferin im Lagerhospital und später als Buchhalterin rekrutiert zu werden; diese Tätigkeiten verschonen sie von der verschleißenden Fron mit Hammer, Meißel, Säge und Schaufel, in die der rasche Tod der Häftlinge eingepreist ist. Dessen ungeachtet, hat der Gulag der Autorin die blühenden Jahre einer jungen Frau geraubt; nach ihrer Repatriierung braucht sie Zeit, um den geschundenen und ausgemergelten Körper wieder auf ein gesundes weibliches Niveau zu hieven.

Das Menschheitsverbrechen des Gulag, das bereits kurz nach der Oktoberrevolution mit der Gründung der Tscheka und der Errichtung des ersten Lagers auf den Solowezki-Inseln beginnt und mit der Geheimrede Nikita Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU ein vorläufiges Ende findet, ist weder politisch noch juristisch aufgearbeitet worden; kein Minister, kein NKWD-Offizier, kein Parteisekretär, kein Richter, kein Folterscherge, kein Propagandaautor, kein Ökonom, kein Wachsoldat musste sich jemals vor Gericht verantworten, weder in der Sowjetunion noch im postsowjetischen Russland. Es besteht vielmehr eine traurige Kontinuität von der zaristischen Katorga über den sowjetischen Gulag bis in das Straflagersystem des zeitgenössischen Russland; letzteres lässt Oppositionelle wie Mikhail Chodorkowski oder Alexej Nawalnyi für Jahre verschwinden oder gleich umkommen.

Bis in die 1980er Jahre war die Memoirenliteratur die einzige Quelle zur behutsamen Rekonstruktion des verharmlosend „Repression“ genannten Staatsterrors der UdSSR. Die Zeugnisse der Entkommenen machen deutlich, dass die Errichtung und Befüllung der Lager in allen Winkeln des Riesenreiches kein Unfall auf dem Weg des Aufbaus des Sozialismus war oder als Exzess Josef Stalins zu verbrämen wäre; vielmehr war die Versklavung von Millionen unbescholtener Bürger des Sojus konstitutiv für den ersten sozialistischen Staat der Erde, der auf das nackte Leben seiner Untertanen keinerlei Rücksicht nahm und dem gewaltsamen Sprung von der rückständigen Agrarnation zur Atommacht binnen einer Generation buchstäblich alles unterordnete. Als sich unter Mikhail Gorbatschow die Archive des Innenministeriums, der Partei und der Geheimdienste für die historische Forschung öffneten, konnten Wissenschaftler die subjektiven Befunde der Verurteilten im Großen und Ganzen bestätigen. Wladimir Putin hat dieser Arbeit ein Ende bereitet, ehrenamtliche Organisationen wie Memorial wurden verboten, an die Opfer des Gulags darf noch erinnert werden, an die Täter aus den Reihen der Justiz, der Miliz, der Geheimdienste und der Verwaltung jedoch nicht.

Es ist bezeichnend, dass Barbara Skarga angesichts der Zensur im kommunistischen Polen ihre Erinnerungen unter Pseudonym veröffentlichen musste; dieses Zeugnis wäre unweigerlich als Schmähung des Großen Bruders in Moskau aufgefasst worden. Neben ihrer persönlichen Befreiung 1956 konnte sie 1989 mit den ersten freien Wahlen auch die Befreiung ihres Heimatlandes erleben. Es ist ein unverzichtbares Element autoritärer Herrschaft, die freie Rede, selbstständiges Denken und die Meinungsäußerung kategorisch aufzuheben und an deren Stelle die Illusion nur einer Wahrheit zu setzen. Die Menschen unter dem Joch des Zwangs müssen Strategien entwickeln, das Gemeinte hinter dem Gesagten zu entschlüsseln: „Worte haben diese Macht, Dinge zu verändern, das Absurde in ein Ideal zu verwandeln, Rückschläge in Erfolge und Siege, ein Verbrechen in eine Tugend.“ Ihr Buch zeigt eindringlich, welch monströse Formen eine existentielle Lüge für ein ganzes Volk, ja für einen ganzen Kontinent annehmen kann.

Entfreundet

  Vereinsamung bedeutet nicht, dass wir keine Freunde und Bekannte gehabt hätten – davon hatten wir stets genug -, sondern beschreibt das Leben in einer Gesellschaft, die ihre Ohren verschließt vor allen Mahnungen, die die Augen verschließt und auf dem Weg des Brudermordes weitergeht und alle und jeden auf diesem Weg mit sich reißt. – Nadeschda Mandelstam

Dania fuhr den Rechner hinunter, etwas früher als sonst. Für heute hatte sie ihr Pensum erledigt, offizielle Termine hatte sie keine mehr. Sie packte ihre Sachen zusammen und verließ das Gebäude, in dem bis 1990 das Außenhandelsministerium der DDR angesiedelt war und das in den Jahren danach aufwändig saniert worden war. Beste Lage Unter den Linden, mit Blick auf die Botschaft der Russischen Föderation und die Komische Oper – im Zentrum der Hauptstadt liegen das Finstere und das Heitere stets nah beieinander. Das ließ sich auch über ihr Ziel sagen, das Café Einstein vis-à-vis ihres Büros, Treffpunkt für Politiker, Journalisten, PR-Leute, Start-up-Gründer und Touristen, die einen Blick auf die anderen erhaschen wollen.

Sie hatte Elke diesen heiklen Ort vorgeschlagen, weil er einfach zu finden war, verkehrsgünstig lag und es hier Kaffeespezialitäten fast auf Wiener Niveau gab. Elke hatte ihr Kommen kurzfristig angekündigt, regelmäßig in Mails über das Geschehen zu schreiben, war ihre Sache nicht; gerade deshalb hatte Dania der Anregung eines Treffens freudig zugestimmt. Als sie, die Hitze des Junitages hinter sich lassend, das abgeschattete Café betrat, sah sie Elke in einer Ecke sitzen, über eine Zeitschrift gebeugt. Die Blicke der Beiden trafen sich, sie umarmten einander zur Begrüßung und saßen sich mit einem breiten Lächeln gegenüber. Der junge Kellner, der in seiner Kluft aus weißem Hemd und schwarzer Weste wie ein Schauspieler wirkte, kam an ihren Tisch. Dania bestellte eine Tasse heißer Schokolade mit dem Kalorienwert einer Zwischenmahlzeit und einem unglaublich sahnig-weichen Geschmack; vor Elke stand bereits ein hohes Glas, dessen Inhalt nach Eistee aussah.

Die beiden Frauen hatten sich über ein Jahr nicht gesehen, sie trafen sich meist, wenn Elke beruflich an der Spree zu tun hatte. Sie hatten sich vor 25 Jahren im Dreiländereck kennengelernt, als sie beide im Sonnenwinkel der Republik eine neue Arbeitsstelle antraten. Dania fing als Referentin für Öffentlichkeitsarbeit eines Mittelständlers an, Elke erhielt eine Professur an der lokalen Universität. Ihre damaligen Partnerinnen lebten jeweils an anderen, weit entfernten Orten, gelegentlich trafen sie sich zu viert, meist jedoch zu zweit. Sie gingen ins Kino und kochten zusammen, liefen den Schlossberg hoch und fuhren mit den Rennrädern auf den Gipfel des Schauinsland. Auch als Dania dann für einen neuen Job Richtung Brandenburg wegzog, hielten sie lose beruflichen Kontakt; so lektorierte sie zwei Bücher, die Elke verfasste. Bis heute wusste sie nicht mit Bestimmtheit zu sagen, ob sie eigentlich auch befreundet seien.

Elke fragte sie, wie es ihr gehe. Dania zögerte mit der Antwort, entgegnete schließlich ehrlich, dass es ihr schlecht gehe. Ihre Depression blieb chronisch, als Kassenpatientin war es ihr unmöglich, einen Platz zur Behandlung bei einem Psychotherapeuten zu bekommen, ihre Selbstmedikation mit verschiedenen psychoaktiven Substanzen führte bedrohlich in Richtung einer Abhängigkeit, sie wollte am liebsten die Tage im Bett im abgedunkelten Zimmer verbringen, abends hing sie erschöpft am Schreibtisch und stierte leblos auf das Relief der Raufasertapete. Das erzählte sie aus dem Bedürfnis heraus, im Aussprechen dieser tristen Befindlichkeit sich ein wenig Erleichterung zu verschaffen. Im semikriminellen Milieu des Bundestages gab es keinen Raum für eine solche Offenheit. Dort lauerten die sogenannten Kollegen nur auf ein Zeichen der Schwäche, um sie dann entschlossen die Treppe hinunterzustoßen.

Elkes Reaktion war bezeichnend. Sie zeigte keinerlei Spur einer inneren Beteiligung, stellte vielmehr klinische Fragen nach dem Zeitpunkt der Einnahme der Präparate sowie ihrer Dosierung, ohne mit diesen Informationen irgendetwas anfangen zu können; ihr Gesicht blieb dabei ausdruckslos. Dania kam zur Gewissheit, dass Elke über die hinter der beschriebenen Depression und dem Substanzkonsum liegenden Gefühlen ihres Gegenübers nicht sprechen wollte. Angesichts der nebensächlichen Nachfragen kam sich Dania vor wie eine Versuchsperson im Labor, die Elke in der Vorbereitung einer neuen Arbeit interviewte, nicht wie eine Freundin, an deren Lage sie Anteil nahm. Ihr Versuch, einen emotionalen Kontakt zu ihrer langjährigen Bekannten herzustellen, ging ins Leere, die Dimension einer Freundschaft, wo so etwas möglich sein müsste, wurde verfehlt.

Im Gegenzug berichtete Elke von ihrem laufenden Forschungsprojekt, das sich um den Klimawandel und die politische Reaktion darauf drehte. Dania hörte interessiert zu, sie schätzte es, durch ein Minikolloquium an aktuelle Fragen der Sozialwissenschaft herangeführt zu werden. Doch nicht zum ersten Mal in diesem Zusammenhang fiel ihr ein dogmatischer Eifer Elkes auf, der die zulässigen Grenzen eines bürgerschaftlichen Engagements überschritt und von einer sachlich-nüchternen Distanz der Wissenschaft zu ihrem Forschungsgegenstand nicht mehr viel erkennen ließ. Bereits während der Corona-Jahre hatte Elke einen autoritären Zug, mit dem sie das staatliche Pandemieregime vom Impfzwang über die Maskenpflicht bis zum Kontaktverbot umstandslos guthieß, artikuliert. Die sich hier auftuende kommunikative Lücke zwischen ihnen ließ sich kaum mehr überbrücken; instinktiv mieden sie Themen, zu denen sie erkennbar unterschiedlicher Auffassung waren und bei denen Konflikte unumgänglich wurden.

Schließlich mussten die beiden Frauen aufbrechen, Elke war mit einer Kollegin zum Abendessen verabredet, auf Dania wartete eine Aufführung von La Traviata in der Deutschen Oper. Sie gingen durch die drückende Hitze des frühen Abends über die baumlose, dafür wieder autoverstopfte Friedrichstraße zur U-Bahn. Sie verabschiedeten sich mit warmen Worten und versprachen einander, per Mail den Kontakt zu halten. Als Dania im Wagen Richtung Charlottenburg saß, drängte eine Welle der Traurigkeit nach oben. Sie war enttäuscht von der Begegnung mit Elke, was nur ein Ausdruck überzogener Erwartungen war. Vertraut waren sie einander durchaus, nur blieb dieses Verhältnis ohne echte Annäherung. Sie hatten sich für die Dauer eines Cafébesuches genug zu sagen, um dies gleich nach dem Abschied wieder zu vergessen. Eine echte Verbindung zwischen den raren Treffen war auf diese Weise nicht zu stiften.