Klausur

  Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele. Keiner nannte etwas von dem, was er hatte, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam. – Apg 4,32

Kerstin hat die Weihnachtstage und den Jahreswechsel nicht bloß überstanden, sondern voller Innigkeit erlebt. Wie in den Jahren zuvor hatte sie im Gästehaus einer Benediktinerabtei im westlichen Münsterland Quartier bezogen, unweit der Grenze zu den Niederlanden. An diesem Ort, den heilig zu nennen sie sich nicht scheut, hat sie schon mehrfach die dunkelsten Tage im Jahreskreis begangen, das Verweilen zu dieser emotional belasteten Zeit ist ihr eine kostbare Routine geworden. Und so gern sie zum Loslassen des von Korruption und Stress geprägten beruflichen Alltags hierhin kommt, dauerhaft leben in der Klausur möchte sie nicht.

Der Benediktinerorden ist der älteste der großen katholischen Orden, es gibt ihn in einer Männer- und in einer Frauenversion. Seine Gründung geht zurück auf den heiligen Benedikt von Nursia (circa 480 bis etwa 547), der um das Jahr 529 mit einigen Mönchen das Kloster auf dem Monte Cassino gründete. In der abgeschlossenen Gemeinschaft widmeten sich die Mönche primär dem Gebet, um Gott nahe zu kommen; ihren Lebensunterhalt erwirtschafteten die Mönche durch Landwirtschaft und Handel, letzteren in bescheidenem Umfang. Bevor im Mittelalter die ersten Universitäten gegründet wurden, waren die Klöster, speziell die benediktinischen, mit ihren Bibliotheken Zentren hoher Gelehrsamkeit, die das theologische, philosophische, pharmazeutische und ästhetische Wissen ihrer Zeit aufbewahrten. Für das Leben in der Kontemplation legten die Mönche und Nonnen ihre Profess ab, mit der sie Armut, Keuschheit und Gehorsam versprachen.

Bis heute liegt dem Leben in der Klausur die sogenannte Regel des heiligen Benedikt zugrunde. Dieses Brevier fasst die verbindlichen Regeln der klösterlichen Gemeinschaft zusammen, von der Kleidung, der Gebetsordnung und der Beschaffenheit der Mahlzeiten bis hin zur Arbeitsteilung und zu Strafen im Falle einer Verfehlung. Das Leben im Kloster mutet dabei kommunistisch an, kennen die Mönche doch keinerlei Privateigentum. Im Kapitel 33 der Regel heißt es: „Keiner maße sich an, ohne Erlaubnis des Abtes etwas zu geben oder anzunehmen. Keiner habe etwas als Eigentum, überhaupt nichts, kein Buch, keine Schreibtafel, keinen Griffel – gar nichts. Den Brüdern ist es ja nicht einmal erlaubt, nach eigener Entscheidung über ihren Leib und ihren Willen zu verfügen. Alles Notwendige dürfen sie aber vom Vater des Klosters erwarten, doch ist es nicht gestattet, etwas zu haben, was der Abt nicht gegeben oder erlaubt hat.“

Diese drastische Absage an das private Eigentum, zu Papier gebracht vor annähernd 1500 Jahren, hat auch heute noch Bestand, und das keineswegs metaphorisch. So kam Kerstin eine ergreifende Geschichte aus ihrer Gastabtei zu Ohren: Dort hatte ein Mönch, der von einer schweren Erkrankung genesen war, für sich das Fotografieren als kreative und heilsame Beschäftigung entdeckt. Seine Mutter, die den Genesungsprozess ihres Sohnes unterstützen wollte, schenkte ihm eine Kamera. Dieses Gerät jedoch durfte der Mönch nicht einfach annehmen, er musste den Abt des Klosters darüber informieren und diesen um die Annahme der Gabe bitten. Der Abt erteilte seinem Mitbruder schließlich sein Plazet. Ein anderer Mönch, der während einer dienstlichen Reise mit dem Auto einen Strafzettel wegen falschen Parkens kassierte, grämte sich ob dieses Vergehens furchtbar, weil er mit der Geldbuße das Budget des Klosters belastete.

Zu einem solch einengenden Verzicht wäre Kerstin nicht bereit, so sehr sie auch die gelebte Gemeinschaft des Klosters als stützend und sorgend auffasst. Sie ist zu sehr Individuum, als dass sie ganz in einer höheren Gruppe aufzugehen bereit wäre. Und die vorgeschriebene Uniform, bei den Frauen mit einem Schleier, der die Stirn und das Haar bedeckt, wäre ihr nicht nur unpraktisch, sondern auch ein dauernder Quell des körperlichen Unwohlseins – sie trägt auch im Winter keine Mütze, so sehr will sie rund um den Kopf keinerlei Textil haben, so praktisch oder schmückend es auch sei. Sie versteht, dass die Mönche und Nonnen im Kloster sich dem Dienste Gottes verschreiben und dabei ihre eigenen Bedürfnisse hintanstellen. Eine Berufung in diese Richtung, mit den Konsequenzen der Entsagung materieller und ideeller Art, ist bisher nicht an sie ergangen. Sie bemüht sich durch Gebete und richtiges Verhalten um den Glauben, ohne dass dieser ihr Leben vollends bestimmte.

Im Speisesaal des Gästehauses hat Kerstin ihr Milieu gefunden. Die Gäste, über die Feiertage gut 40 an der Zahl, sind zu 80 Prozent weiblich, die meisten sind jenseits der 70, fast alle kommen aus der näheren ländlichen Umgebung. Über Weihnachten kommen sie hierher, um nicht allein daheim vor der Krippe zu sitzen, hier finden sie ihre emotionale Gemeinschaft auf Zeit. Etliche der Gesichter kennt Kerstin von früheren Besuchen, auch sie wird von mehreren Frauen als eine der ihren begrüßt. Eine Atmosphäre vollständiger Billigung liegt über den Tischen und dem üppigen Buffet, jede ist willkommen, die typische weibliche Lästerei hält sich merklich in Grenzen. Besonders wohltuend im Kontrast zum Alltag ist das Fehlen der Handys neben den Tellern; hier macht niemand Fotos vom Salat, keine greift dauernd zum Telefon, um die letzten Nachrichten auf X, TikTok und Telegram zu verfolgen und zu kommentieren. Dabei stellt das Haus seinen Gästen seit ein paar Jahren ein kostenloses WLAN zur Verfügung, die Router sind gut sichtbar auf den Fluren angebracht.

Kerstin verbringt die Zeit zwischen den Jahren kontemplativ. Sie liest den neuen Roman von Karl Ove Knausgard, macht lange Spaziergänge in der waldigen Umgebung, geht jeden Abend in die Vesper und singt Weihnachtslieder mit den anderen Gästen; die Stunden dazwischen vergehen pflanzenhaft, indem sie einfach Wurzeln in die Luft schlägt und sich vom Wind streicheln lässt. Das größte Geschenk, das ihr die Abtei macht, ist das Verschwinden all der Fragen und Zweifel, die ihren Alltag dominieren – hier wird sie ohne großes Zutun von einer Bedürfnislosigkeit erfasst, die im Zen wohl Satori genannt wird. Kerstin wünscht sich, diese Unmittelbarkeit mit zurück in die große Stadt zu nehmen, wo zu Jahresbeginn die berufliche Fron wieder ruft. Sie wird die Möglichkeiten prüfen, sich als Oblatin dem Kloster besonders zu verbinden. Aber um diese Form der Unterstützung zu schaffen, muss sie erst hier in die Nähe ziehen. Damit ist eines ihrer großen Vorhaben für die kommende Zeit benannt.

Dating

  Eine Frau ist zu allem bereit, wenn der Mann ihr das Gefühl gibt, sie wirklich zu wollen. – Lars Gustafsson

Immerhin, Kerstin hatte es versucht. Sie hatte sich auf einer Webseite angemeldet, um dort Männer für ein Treffen und langfristig für eine Beziehung kennen zu lernen. Ein Vorgehen, das für die jungen Leute gang und gäbe war und für die meisten normgeborenen ohnehin. Für Transfrauen, so Kerstins Befürchtung, war auch das Online-Dating mit den gewohnten Beleidigungen, Aggressionen und Gefahren verbunden; daher entschied sie sich für eine Seite speziell für Transfrauen. Doch auch die entpuppte sich als Rose voller Dornen, sodass sie nach einem halben Jahr entnervt ihr Konto kündigte, weiterhin unbemannt.

Voller Elan und etwas aufgeregt, hatte sich Kerstin im Mai auf der Seite angemeldet – corriger la fortune. Die Seite warb damit, von einem echten Transpaar – sie trans, er cis – betrieben zu werden und sich um echte Kontakte zwischen Männern und Transfrauen zu bemühen, abseits der Gewalt und der Demütigungen der Welt der Fetische und der Pornographie. Alle Profile seien, so die Macher, rigoros geprüft; hochgeladene Fotos müssten bestimmten Regeln entsprechen; jeder Versuch, Geld zu erheischen, werde mit dem sofortigen Bannen bestraft. Das klang nicht schlecht, hinzu kam, dass die volle Nutzung der Seite für Transfrauen gratis war, während Männer pro Monat 39,- US Dollar zahlen mussten. Mit dieser Politik wollte man Spinner, Hasardeure und Kriminelle fernhalten.

Kerstin füllte den Fragebogen zu ihrem Profil vollständig und wahrheitsgemäß aus, beschrieb sich und ihre Vorlieben und Wünsche konkret und ausführlich im Freitext. Lange haderte sie mit der Auswahl eines Bildes, einfach weil sie sich auf Fotos durchweg verabscheute und diese vermied, wo immer es ging. Schließlich entschied sie sich für ein Portrait knapp bis zur mückenstichgroßen Brust, das vor Jahren ein Profi gemacht hatte: frontal, leicht gedreht im Profil zur Schokoladenseite, die langen Haare offen, auf den geschlossenen Lippen ein feines Lächeln, Augen und Mund dezent geschminkt. Seriös und hinnehmbar, so kam sie sich vor neutralem Hintergrund vor. Auch wenn es sich um eine arrangierte Situation im Studio handelte, empfand sie den Ausdruck nicht als gestellt. Im Fragebogen stufte sie ihr Aussehen als „durchschnittlich“ ein.

Es dauerte nicht lange und erste Nachrichten landeten in ihrem Postfach. Die Politik der Seite sah vor, dass die Nutzer selbst aktiv werden mussten. Ihnen wurden keine algorithmengenerierten Vorschläge gemacht, die laut den gemachten Angaben zum Alter, zum Wohnort, zum Beruf, zu Ess- und Trinkgewohnheiten oder den erotischen Wünschen sowie der Reisebereitschaft passen könnten; vielmehr mussten die Nutzer in den Profilen der anderen stöbern und suchen, ob er oder sie ein geeigneter Kontakt sein könnte. Immerhin konnte man die Datei der Männer nach verschiedenen Kriterien selektieren und somit den Kreis der potentiell infrage Kommenden sinnvoll eingrenzen. Das war ein nützliches Element, waren doch nach Angaben der Betreiber, die ihren Firmensitz in Thailand hatten, rund 125.000 Menschen auf der Seite registriert. Dabei konnten die Frauen nur die Männer sehen und vice versa.

Früh schwante Kerstin, dass die Internationalität der Seite auch ihr größtes Manko war. Sie hatte den Eindruck, dass die Männer buchstäblich auf der ganzen Welt verteilt saßen, von Skandinavien, den Niederlanden und Frankreich über die USA und Kanada bis nach Südafrika, Indien, Japan und Australien. Selbst aus Pakistan und den VAR waren Interessenten zugeschaltet, das Gros allerdings kam aus Westeuropa und Nordamerika, also jenen Weltgegenden mit einer halbwegs liberalen Gesetzgebung hinsichtlich Transidentität. Die Frauen hingegen, so schrieben es ihr mehrere Männer unabhängig voneinander, lebten fast ausschließlich in Südostasien, in Thailand, Malaysia, Indonesien und auf den Philippinen. Sie träumten, so die Einschätzung, durchweg davon, von einem reichen Mann als Braut in den Westen geholt zu werden, inklusive Finanzierung des Visums, des Fluges und der Wohnung.

Kerstin genoss die Chats mit den unbekannten Kavalieren. Manche gaben sich gepflegt, vor allem jene ihres Alters; andere, die ihre Söhne hätten sein können, fragten sie unverblümt nach ihren Phantasien im Bett. Ausnahmslos alle priesen sie ob ihrer Schönheit und überschütteten sie mit Komplimenten für ihr Aussehen, das sie nur von einem Foto kannten. Sie wunderte sich, weil sie ein derartiges Charmieren im Alltag überhaupt nicht gewohnt war. Und dann dämmerte es ihr: Natürlich sahen die Männer nicht ihren realen Körper mit seiner Giraffenlänge in Relation zu anderen, sie sahen nur ein Gesicht, das sich zur Projektion all ihrer Wünsche bestens eignete. Sie hörten ihre tiefe Stimme nicht, sahen ihre senkrechte Silhouette ohne Busen, Taille und Hüften ebenso wenig wie ihre großen Hände und ihre riesigen Füße. Das, was Kerstin in ihrem Profil über sich geschrieben hatte, lasen sie erst gar nicht. Nach ihrem Beruf wurde sie ebenso wenig gefragt wie nach ihren sportlichen Aktivitäten, ihren Lieblingsbüchern oder ihrem Geschmack in Fragen der Architektur. Die Männer suchten keine unabhängige, starke, intellektuelle Transfrau, sondern ein Häschen für Bett und Küche.

Sie schrieb mit Männern aus Dänemark, Schweden, Großbritannien, den Niederlanden, Mexiko, Kanada, Australien und Frankreich. Sie schulte ihr Englisch und Französisch und ließ sich von den Galanen den Hof machen. Zu ihrer Verblüffung gab es kaum Männer aus Deutschland auf der Plattform, geschweige denn aus ihrer Stadt. So tauchte bei allem Spaß am Schreiben die Frage auf, wie denn nun ein reales Treffen zum Kennenlernen zu bewerkstelligen sei. Es war einleuchtend, dass sie nicht mal eben tausende von Kilometern über den Atlantik würde fliegen können, nur um ihre Internetbekanntschaft in einem Café zu einem Mokka zu treffen. Umgekehrt erwartete sie ein solches Investment auch nicht von ihren Gesprächspartnern. Und so verliefen die Plaudereien eine nach der anderen im Sande, was mit den Wochen und Monaten immer betrüblicher wurde.

Die Männer wollten es nicht glauben, dass sie mit ihrem femininen Aussehen immer noch allein war. Was stimmte mit den Kerlen in ihrem Lande nicht, fragte sie ein Mann aus Amsterdam offenherzig. Ein Mann aus Mailand behauptete gar, sie spiele hier nur rum, sie wolle gar keinen Partner, anders sei ihr Alleinsein nicht zu erklären. Kerstins Zweifel an der Richtigkeit dieses Ortes für ihre Zwecke wuchsen. Die Seite kam ihr immer mehr vor wie eine Mischung aus Social Media Plattform und Messengerdienst: Als ginge es nur um das Austauschen von Nachrichten zum Bedienen erotischer Phantasien, nicht aber um das Anbahnen einer Begegnung im Restaurant oder im Theater. Anders konnte sie es nicht begreifen, dass Schwiegermutterträume in ihren makellosen 30ern mit ihr hin und her texteten. Bei vielen rutschte sie ohnehin durch das Beuteraster: Diese suchten eine dominante Transfrau mit ihrer genitalen Erstausstattung und nicht eine passive wie Kerstin mit einer chirurgisch geformten Vagina.

Als sie diesen jungen Männern im Vorgriff auf eine denkbare gemeinsame Zukunft die Frage nach einem möglichen Kinderwunsch, den sie ihnen niemals würde erfüllen können, stellte, gaben diese nur ausweichende Antworten. Vielleicht, jetzt noch nicht, werde man dann sehen, habe man noch nicht drüber nachgedacht, Spaß haben sei wichtiger. Sie wollten von ihr wissen, zu wie vielen Orgasmen sie mit ihrer Pussy imstande sei, wie sie es mit BDSM halte, ob sie gern Kleider und Röcke trüge etc. Ein Mann aus Stockholm verblüffte sie mit seiner Offenheit: Er schätzte Transfrauen höher als geborene Frauen. Jene seien meist schöner als diese, sähen jünger und gepflegter aus, zelebrierten ihre Weiblichkeit, würden nicht regelmäßig einmal im Monat unter den blutigen Tagen leiden und könnten Männer nicht mit unerwünschten Kindern erpressen. Au weia, entfuhr es Kerstin, auch das war eine Form der Fetischisierung. Als Frau fühlte sie sich nicht gesehen.

Ihr Rubikon bezüglich einer Partnerschaft lag in der Sichtbarkeit. Sie bestand darauf, als mögliche Freundin dem Kreis ihres Partners vorgestellt zu werden. Ein Leben als heiß begehrte, aber strikt verheimlichte Geliebte im Dunkel war für sie inakzeptabel. Sie wollte keineswegs die sozialen Ängste und Zweifel eines Partners zu ihren eigenen machen. Sie kommunizierte die Erwartung, nach einer gewissen Zeit den Freunden, Kollegen und soweit vorhanden der Familie ihres Freundes vorgestellt zu werden. Sie wollte von ihm in die Oper begleitet werden und seinen Stolz auf sie am ganzen Körper spüren. Stürmisch wurde ihr entgegnet, dass man sie begehren und wie eine Trophäe präsentieren würde, so attraktiv und geil wie sie war. Aber da sich Kerstin nicht in einem Film oder einem Roman bewegte, sondern in der verdorbenen Welt, blieb es bei diesen wohlfeilen Beteuerungen.

Ein einziges Mal kam es dann tatsächlich zu einer Begegnung mit einem Mann. Er hatte ihr Alter, lächelte einladend, war in Bayern geboren und hatte als Entwicklungshelfer, Coach und Handwerker auf allen Kontinenten gearbeitet. Nun hatte er im Süden Schwedens einen Flecken Land im Wald gekauft, um dort eine Werkstatt zu bauen und um sich dort niederzulassen. Er war gerade im Land und konnte ein Treffen mit Kerstin einrichten. Sie aßen in einem indischen Restaurant und unterhielten sich angeregt, ohne dass der Funke richtig übersprang. Er hatte ihr eine langstielige gelbrote Rose mitgebracht, die noch Tage später ihre Kommode zierte. Dann fuhr er abrupt nach München, ohne ihr davon zu berichten. Ihre Verstimmung, als er sich Wochen später wieder meldete, konnte er nicht verstehen. Nein, dachte Kerstin, wenn es schon zu Beginn mit einem Mann an der Kommunikation hakt, wird es nichts. Außerdem war er ihr ohnehin zu klein.

Nach einem halben Jahr schließlich war sie bedient. Das Flirten mit den Männern auf der Seite kam ihr wie ein Videospiel vor, ohne Vorlauf und ohne Folgen. Sie schlief abends mit der Vorstellung ein, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie einen Partner fände. Die Realität am nächsten Tag unterschied sich indes in nichts von jener letzter Woche. Was auch immer sie unternahm, sie blieb allein; andere Frauen brauchten sich nur einmal mit den Fingern durch die Haare zu fahren, schon stand ihr neuer Bewunderer mit den Eheringen an ihrer Seite. Nach der Kündigung ihres Kontos nach einem halben Jahr kam es ihr so vor, dass eine virtuelle Pubertät ihr Ende gefunden hätte und sie bruchlos ins Stadium der alten Jungfer gewechselt wäre. Die Erfahrungen auf dieser Seite wollte sie nicht nutzen, um ein anderes Datingportal mit regionalem Bezug zu probieren: Dort wäre sie als Transfrau sowieso nicht zugelassen. So setzte sich ihr Parialeben, das sie im Alltag zur Genüge kannte, auch im digitalen Raum fort. Wer spricht von Lieben, Überstehen ist alles.

World Cup

Der Norweger Magnus Carlsen hat im Schach nahezu alles erreicht. Er war fast zehn Jahre lang Weltmeister und steht seit 2011 mit großem Abstand an der Spitze der Weltrangliste. Die großen Turniere des Kalenders von Wijk aan Zee über London und St. Louis bis Stavanger hat er mehrfach gewonnen, auch den Titel des Champions im Schnellschach und im Blitz hat er einige Male erobert. Nun ist es ihm endlich gelungen, auch den World Cup zu gewinnen, der dieses Jahr in Baku ausgetragen wurde – wie gehabt souverän und stilvoll.

Als Magnus Carlsen im Sommer 2022 ankündigte, seinen WM-Titel nicht mehr zu verteidigen, befiel eine große Depression die Schachwelt. Was ist der Titel noch wert, wenn der stärkste Spieler des Planeten nicht mehr antritt? Bereits nach seinem bravourösen Sieg im Wettkampf gegen den Russen Ian Nepomniachtchi im Dezember 2021 in Dubai ließ Carlsen durchblicken, dass er die erneute Strapaze einer Vorbereitung auf ein WM-Match nur gegen einen Herausforderer der nächsten Generation auf sich nehmen wolle. Sein Wunschgegner Alireza Firouzja, ein Franzose iranischer Herkunft, konnte sich im Kandidatenturnier von Madrid nicht durchsetzen, stattdessen gewann erneut Ian Nepomniachtchi, Jahrgang 1990 wie Carlsen selbst. Dieser machte seine Ankündigung wahr und verzichtete auf den WM-Kampf, den schließlich im April dieses Jahres Ding Liren als erster Chinese für sich entschied.

Titel hin, Krone her – Carlsen bleibt das Maß aller Dinge in der Schachwelt. Er spielt weiterhin Turniere, am Brett und im Netz, auch wenn er die Lust am klassischen Schach mit langer Bedenkzeit leicht verloren hat und kürzere Formate bevorzugt. Den World Cup hat er bislang nicht gewinnen können, umso motivierter ging er dieses Mal im aserischen Baku zu Werke. Gleich drei Plätze für das nächste Kandidatenturnier in Toronto im April 2024 waren zu vergeben, doch daran war Magnus Carlsen nicht interessiert. Ihm ging es um den Sieg am Kaspischen Meer und das damit verbundene Prestige. Das Format mit zwei klassischen Partien pro Runde im K.-O.-System kam ihm sehr entgegen, da es die Opponenten zu mehr Risikobereitschaft zwingt als Rundenturniere, bei denen jeder gegen jeden spielt.

In der ersten Runde hatte der Norweger ein Freilos, in der zweiten Runde fertigte er den jungen Georgier Levan Pantsulaia glatt mit 2:0 ab, bevor dann in der dritten Runde sein Landsmann Aryan Tari besiegt wurde. In der vierten Runde kassierte Carlsen seine einzige Niederlage im ganzen Wettbewerb gegen den jungen Deutschen Vincent Keymer, allerdings konnte er in der zweiten Partie auf Bestellung ausgleichen und mit seiner Routine auch den Stichkampf für sich entscheiden. Im Achtelfinale wartete mit Vasyl Ivantschuk eine echte Schachlegende, der Ukrainer durfte erst nach einer Sondergenehmigung das Land verlassen und in Baku am Brett sitzen – und beide Partien sang- und klanglos verlieren. Im Viertelfinale dann traf Carlsen auf den jungen Inder Dommaraju Gukesh, den er locker in die Schranken verwies – der Exweltmeister hatte sich eingespielt.

Im Halbfinale ließ er dem Lokalmatador Nijat Abasow keine Chance, seinem druckvollen Spiel über die ganze Partie konnte der junge Aseri nichts Richtiges entgegensetzen. Im Finale gegen einen weiteren indischen Superstar zeigte Carlsen, welche Qualitäten ihn für über zehn Jahre die Schachwelt dominieren ließen: Die beiden Partien mit klassischer Bedenkzeit gegen Rameshbabu Pragnanandhaa endeten unaufgeregt remis, auch weil sich Carlsen eine Lebensmittelvergiftung zugezogen hatte, die sein Spiel nach vorn beeinträchtigte. Im Stechen zog er dann alle Register. In der ersten Partie demonstrierte er seine singulären Endspielkünste, als er in des Gegners Zeitnot das Spiel urplötzlich verschärfte und mit reduziertem Material einen Mattangriff inszenierte, dem sein Kontrahent erlag. Mit Weiß hielt er dann in der zweiten Schnellschachpartie das Spiel immer in der Remisbreite und brachte die Mission erfolgreich zuende. Ein klarer Favoritensieg.

Sein über zehn Jahren liegt Carlsens Schach offen vor aller Augen, und dennoch gelingt es keinem Gegner, ihn zu überrumpeln. Der Norweger spielt mit Weiß 1. e4, 1. d4, 1. c4 oder 1. Sf3 nach Belieben, mit Schwarz reagiert er mit der Sizilianischen, der Berliner, der Slawischen oder der Grünfeld-Indischen Verteidigung, dabei alle Haupt- und Nebenlinien kennend. Er vermeidet die scharfen forcierten Abspiele und zwingt den Gegner früh zum Selberdenken in langen Manövern, das stellt nicht nur seine Generationenkollegen, sondern auch die Veteranen und die Jungstars vor große Probleme. Im Endspiel agiert er besser selbst als die Computer, die ihr Grundübel der Überbewertung des Materials gegenüber der Aktivität und der Felderschwäche noch immer mit sich herumschleppen. Carlsen weiß, wo seine Figuren am besten stehen, er lähmt die Initiative seiner Gegner und lässt am Ende gestandene Großmeister hilflos erscheinen. Diese verlieren, ohne sich eines entscheidenden Fehlers bewusst zu sein.

Ding Liren mag jetzt der Weltmeister sein, der beste Spieler bliebt weiterhin Magnus Carlsen, der eine ganze Epoche geprägt hat und weiterhin voller Biss und Ehrgeiz am Brett sitzt. Seine Physis ist ein weiteres Alleinstellungsmerkmal, durchtrainiert und topfit wie ein Modellathlet sitzt er am Brett, stundenlang über Konzentration verfügend, ohne fahrig oder müde zu werden. Für die Konkurrenz führt weiter kein Weg am Mann aus Tonsberg vorbei, auch wenn er ein selbsternannter König ohne Land geworden ist. Ein Triumph wird aber selbst diesem Ausnahmekönner verwehrt bleiben: Bei der Schacholympiade wird er keine Medaille erringen, dazu ist die norwegische Auswahl einfach zu schwach im Vergleich zu den dominierenden Nationen aus China, Indien, Russland, Armenien, Usbekistan, Frankreich, Polen und den USA. Aber ein Teamplayer ist Carlsen sowieso nie gewesen.

Je t’aime

Für ihren Sprung an die Spitze der französischen Popkultur brauchte die aus London stammende Schauspielerin Jane Birkin keine ausgefeilten Sprachkenntnisse. Das Lied mit dem treuherzigen Titel „Je t’aime (moi non plus)“ aus dem Jahr 1969, im Duett gesungen mit ihrem seinerzeitigen Lebensgefährten Serge Gainsbourg, machte sie aufgrund ihres erotischen Stöhnens weltberühmt. Jane Birkin reüssierte als Sängerin und Schauspielerin, nun ist sie mit 76 Jahren in Paris gestorben.

Jane Birkin wurde 1946 in London geboren, ihre Mutter war Schauspielerin, der Vater ein hoher Militär. In jungen Jahren war sie von 1965 bis 1968 mit dem Komponisten der James Band-Serie John Barry verheiratet. Ende der 1960er Jahre schaffte sie den Durchbruch als Aktrice in den Filmen „Blow up“ und „La piscine“. Sie zog nach Frankreich und traf dort den Sänger und Komponisten Serge Gainsbourg, mit dem sie 1971 die Tochter Charlotte hatte. In den 1980er Jahren, als sie mit dem Regisseur Jacques Doillon liiert war, gelang ihr im Kino der Schritt ins Charakterfach, etwa im Film „Die schöne Querulantin“. Als Sängerin interpretierte sie oft Lieder anderer Künstlerinnen, auch als Model vor der Kamera war sie häufiger zu sehen, eine Hermes-Handtasche wurde nach ihr benannt. Jane Birkin litt an Leukämie, im Juli 2023 starb sie in Paris.

Jane Birkin wird auf ewig verbunden bleiben mit dem Chanson „Je t’aime“, komponiert von Serge Gainsbourg. Der hatte das Lied bereits mit seiner ehemaligen Geliebten, der Schauspielerin Brigitte Bardot eingespielt; diese aber, die mittlerweile mit dem Playboy Gunter Sachs verheiratet war, bat den Komponisten, von einer Veröffentlichung abzusehen. Gainsbourg willigte ein und brachte das Lied dann 1969 mit seiner neuen Partnerin Jane Birkin als Couplet heraus. Das Lied hatte den beabsichtigten Skandaleffekt; wegen des unmissverständlichen orgasmischen Stöhnens Birkins wurde das Lied in Frankreich, England und Deutschland von den Radiostationen boykottiert, was es nur umso populärer machte.

Auf YouTube existieren einige Versionen dieses immergrünen Liedes, eine Altersverifizierung freilich wird dort ungeachtet des Inhalts nicht gefordert. Die Videosequenzen setzen Jane Birkin bewusst als Kindfrau in Szene, die sich mit dem 18 Jahre älteren Gainsbourg liebkost und mit ihm durch das Paris der späten 1960er Jahre schlendert. Die Melodie ist schleppend, die Orgel im Hintergrund leicht pathetisch, die Geigen schmalzig, der Text allegorisch eindeutig. Die Grenzüberschreitung erfährt das Stück durch das international verständliche Stöhnen, das die Liebe als Sex begleitet und den Orgasmus einleitet. Das wird dann selbst im Frankreich der Libertinage zu viel, die körperliche weibliche Andeutung ist dem Publikum offenbar schwerer zuzumuten als etwa männliche Protzereien.

Bereits 1965 hatte Serge Gainsbourg der jungen France Gall mit „Poupée de cire, poupée de son“ ihr Siegerlied für den Grand Prix d’Eurovision de la Chanson geschrieben. Frauen wurden in Frankreich zu dieser Zeit bevorzugt als Lolitas ausgestellt, jung, naiv und unschuldig tuend, dabei mit ihren Reizen die Männer um den Verstand bringend. Dieses Kostüm bekam auch Jane Birkin um die zierlichen Schultern gelegt; mit ihren großen Augen, dem kindlichen Lachen, dem langen dunkelblonden Haar und dem schlanken Körper passte sie bestens in diese Rolle, der sie sich bereitwillig fügte. Die Engländerin Birkin wurde trotz ihres Akzents vom französischen Publikum geliebt, so wie Romy Schneider, Juliette Greco, Catherine Deneuve und Brigitte Bardot. Ihre dauerjugendliche Schönheit lebt in ihrer Tochter Charlotte Gainsbourg, ebenfalls eine Schauspielerin, weiter.

Man könnte es sich leicht machen und Jane Birkin auf die Pose der Muse an der Seite Serge Gainsbourgs reduzieren, als Projektionsfläche männlicher heterosexueller Phantasien. Doch das verkennte Birkins Stärke als unabhängige Frau, die allein durch ihr Dasein wirkt und Bühne wie Leinwand vollends einnimmt. Die Londonerin in Paris war jahrelang Teil des französischen Jet-Sets, war an der Côte d’Azur ebenso zuhause wie am Strand der Bretagne sowie in den Bistros des Quartier Latin und den Boutiquen der Rive Gauche. Sie steht für ein Frankreich, das noch nicht überschwemmt ist von den Beurs aus der Banlieue. Diese versunkene Grande Nation der 1960er und 70er Jahre lebt weiter im Chanson „Je t’aime“, der unweigerlich zur Beschwörungsformel eines sorgenfreien Lebens wird. Merci Birkin, farewell Jane!

Theater

  Die Verzauberung ist die Voraussetzung aller dramatischen Kunst. – Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

Wenn das Deckenlicht im Zuschauerraum langsam erlischt, setzt unverzüglich die Magie ein. Im satten Dunkel des Gestühls stellen sich die Augen scharf, die Ohren hören fast noch besser als bei Licht. Auf der Bühne stehen Schauspielerinnen und Schauspieler, getaucht ins Helle der Scheinwerfer, sie fangen an zu sprechen und sich zu bewegen und spielen anscheinend nur für sie. Kerstin rutscht in die Handlung hinein und verfolgt konzentriert die Entwicklung der Geschichte, die sie als Buch im Regal zu stehen hat. Sie wird Teil der Inszenierung, der Genius Loci breitet seine Arme aus, das Publikum nimmt seine Rolle bereitwillig an. Wie sehr es darin aufgeht, zeigt sich in der Intensität des Applauses.

Das Wort Theater ist entlehnt aus dem griechischen theastai, was soviel wie schauen, anschauen bedeutet. Das Publikum auf seinen Stühlen wird zum Zeugen einer Darbietung, die es unterhalten soll, belehren, aufklären oder auch aufrütteln, je nach Autor, Dramaturg und Regisseur. Es interagiert mit den Gestalten auf der Bühne, wider besseres Wissen nimmt es sie als Irina Nikolaevna Arkadina und Konstantin Gavrilowich Treplev an und nicht als professionelle Avatare, die nur eine Rolle verleiblichen. Das Glücksgefühl, das eine Theateraufführung spendet, lässt sich schwer in klare Worte fassen. Das Hirn folgt dem Geschehen, geschmeckt wird es vom Bauch und goutiert vom Herzen. Nicht immer ist ausgemacht, welches Organ das dominante sein wird. Sicher nur, dass jeder Moment unwiederbringlich sein wird, nicht zu lösen vom gegebenen Ort zur richtigen Zeit.

Geschätzte 250 Personen sitzen im großen Saal des Hauses, die Reihen sanft im dreiviertel Kreis ansteigend, wie weiland in Athen oder Epidauros. Die Bühne wird eingenommen von einem mächtigen Baum, der bis zum Dach des Hauses reicht; er ist sorgfältig zersägt und wieder zusammengesetzt, seine Blätter sind täuschend echt aus Plastik, ein Meisterstück der Bühnenbildnerin. Die weiteren Requisiten bestehen aus Liegestühlen, einem Tisch und Getränkeflaschen. Nicht zu vergessen die titelgebende „Möwe“, die als Trophäe erlegt und später präpariert wird, damit sie an die Dame des Herzens verschenkt werden könne. Das Stück, das im Milieu der Künstler und Schriftsteller angesiedelt ist, dreht sich vordergründig um eine Mutter/Sohn-Beziehung und die hier ersehnte Aufmerksamkeit; weiter werden mehrere vergebliche Lieben vorgestellt, so richtig glücklich ist keines der realen Paare.

Der Schutzpatron des Theaters ist Dionysos, der Gott des Weines, der Fruchtbarkeit und des Rausches. Ihm zu Ehren entstehen in der klassischen griechischen Epoche die Tragödien, entlehnt aus dem griechischen tragoidia, dem Bocksgesang. Diese Kunstform, die mit mehreren Schauspielern und dem Chor, der das Volk der Polis symbolisiert, hat über die Zeiten nichts von ihrer Eindringlichkeit verloren. Aischylos, Sophokles und Euripides gehören ebenso wie Shakespeare, Molière, Goethe, Tschechow und Brecht zum Kanon, immer wieder variiert und neu entdeckt. Die Tragödie ist verschwistert mit dem religiösen Kultus, jede katholische Messe ist überreich versehen mit Riten und dramaturgischen Einfällen; sie appelliert an die Sinne, den Verstand und das Gewissen und gibt sich reichlich Mühe, das Geheimnis des Glaubens zu offenbaren.

Kerstin erinnert sich an einen Besuch in den Vatikanischen Museen, im ersten Jahr des Pontifikats Benedikts XVI. Sie wird inmitten des Touristenstroms durch die marmorverkleideten Säle gespült, dann steht sie plötzlich in der Stanza della Segnatura, vor ihr die „Schule von Athen“ von Raffael. Unwillkürlich treten ihr die Tränen in die Augen, sie findet sich losgelöst von den Touristen, die wie sie auf das weltberühmte Fresko blicken und schwatzend weitergeschoben werden. In ihrer Bibliothek hat sie einen exzellent gestalteten Bildband über Raffaels Schaffen in den Palästen des Vatikan, Detailfotos zeigen die Feinheiten der Komposition und den Pinselstrich bis ins kleinste Relief. Und doch kann das beste Foto nicht die Intensität der unverstellten Anschauung vermitteln, die Kerstin vor dem und vom Original geschenkt wird. Die Aura eines Kunstwerks ist nicht reproduzierbar.

Die deutsche Theaterlandschaft wird ob ihrer Dichte und Vielfalt in aller Welt beneidet, und das völlig zurecht. Die Metropolen sowieso, aber auch die mittleren Universitätsstädte verfügen über (mindestens) ein Drei-Sparten-Haus (Schauspiel, Oper, Ballett plus Orchester) mit festem Ensemble und dynamischem Spielplan. Zu etwa 80 Prozent werden diese Häuser aus dem Kulturetat der Länder finanziert, die verbleibenden 20 Prozent kommen über die Ticketpreise, Catering und Sponsoren in die Kassen. Dieses Investitionsmodell ist die Grundlage für die ausführliche Beschäftigung mit den Klassikern wie auch der zeitgenössischen Auftragsarbeit gleichermaßen. In den angelsächsischen Ländern beträgt der Anteil der öffentlichen Hand an den Theatern hingegen maximal 30 Prozent, der übergroße Rest muss am Markt eingeworben werden.

Manchmal wird das Theater wegwerfend als museale Kunstform apostrophiert, die in der Konkurrenz mit dem Radio, dem Film, dem Fernsehen und dem Internet nur noch Rückzugsgefechte schlagen könne. Wie kurzsichtig diese Behauptung ist, lässt sich etwa am epischen Theater Bertolt Brechts zeigen. Diese Revolution des Theaters wurde in den späten 1920er Jahren eingeläutet und nach dem II. Weltkrieg zur Hochform gebracht, in Abgrenzung zum bewegten, tonunterlegten Bild, simultan auf etlichen Leinwänden gezeigt. Im Gegensatz zum Kino, das nicht umsonst auch Filmtheater genannt wird, lebt jeder Abend aufs Neue vom Spiel im Original auf der Bühne. Es ist wohl dieser völlig unökonomische Verbrauch an Ressourcen, der den Zauber des Theaters birgt.

Nach drei Stunden ohne Pause ist die Inszenierung schließlich am Ende, der hoffnungsvolle, aber enttäuschte Dichter erschießt sich, niemand kann zufrieden sein. Der Applaus wirkt wie eine Absolution, wieder und wieder werden die Miminnen und Mimen auf die Bühne geklatscht, als Zeichen der Dankbarkeit für das Geleistete. Über mangelnden Zuspruch müssen sich Stück und Theater nicht beklagen, auch die verbleibenden Aufführungen vor der Sommerpause sind ausverkauft. Und auch die jungen Leute, denen dank TikTok eine nur noch Sekunden umfassende Aufmerksamkeitsspanne nachgesagt wird, bleiben gebannt bis zum Schluss. Kerstin tritt aus dem ikonischen Bau des Architekten Erich Mendelsohn ins Freie und wird von sommerlicher Wärme empfangen, der Asphalt speichert die Sonne des Tages. Sie schließt ihr Fahrrad auf und fährt durch die leeren Straßen der Nacht nach Hause. Theater macht glücklich, ist ihr letzter Gedanke vor dem Einschlafen.