Juni

Gut hundert Tonnen Stahl auf blanken Knochen
Nur Fasern auf den Schienen voller Blut
Gekappt sogleich des Herzens wildes Pochen
Die Eisen kreischen aufgelöst in Glut

Dein Platz blieb leer bis an des Schuljahrs Ende
Der Tod bestand mit uns das Abitur
Die Hoffnung auf die bessre Lebenswende
Ward fortgenommen Fragen harrten stur

Erst Freund Dir und dann heute eine Freundin
Das Schicksal war der Antrieb meiner Zier
Der Wandel der Gestalt für viele Irrsinn
Auf Dein Verständnis zählen wäre Kür

Nichts was dem Sensenblatt der Zeit entgeht
Dein End selbst gesetzt Dein Werden verweht

Läuferin

  Ein wirkliches Glück ohne Müßiggang ist unmöglich. – Anton Tschechow

Der Samstag gehört traditionell dem Wald. Nach dem Frühstück mit etwas Obst, einem Croissant und einer Kanne Grünen Tees zieht Kerstin ihren Laufdress und ihre Asics an, geht um die Ecke zum Zeitungshändler und kauft sich die Wochenendausgabe ihrer Lieblingszeitung. Diese steckt sie in den Briefkasten, bevor sie in den nahe gelegenen Wald fährt. Nach einer Tour durch das ruhige Villenviertel im Westen der Stadt erreicht sie den Waldrand, schließt ihr Rad ab und macht die ersten Schritte in einer feierlichen Stimmung, als sei sie die Erste auf dem Weg. Ein warmer Duft nach Frühling empfängt sie, das Sonnenlicht blinzelt durch die dichten Kronen.

Seit etwa zwanzig Jahren kommt sie hierher in ihr bevorzugtes Revier. Sie war Teil einer Trainingsgruppe schwuler Männer, ist ab und an mit einer Freundin gelaufen, meistens nimmt sie die Strecke, die sie in der Länge variieren kann, allein unter die Sohlen. Laufen und Bäume passen unüberbietbar gut zusammen, nirgends sonst kann sie den Alltag mit seinem Korsett aus Terminen und Pflichten besser und schneller hinter sich lassen als in Gesellschaft von Blättern, Nadeln, Vögeln, gelegentlichen Wildschweinen und seltenen Rehen. Der Lärm der Stadtautobahn, die den weitläufigen Forst zerschneidet, ist gottlob nach ein paar Minuten nicht mehr zu vernehmen, das Summen der Mücken wechselt sich ab mit dem rhythmischen Ein und Aus des Atems.

So früh am Morgen hat sie die schattigen Wege fast für sich allein, die Familien kommen erst am Nachmittag. Daran hat sich seit ihrer Marathonzeit nichts geändert. Seit einigen Jahren ist Kerstin auf ihrer alten Trainingsstrecke lediglich im Schritttempo unterwegs, das rechte Knie von einer straff sitzenden Bandage umhüllt. Ihre progrediente Arthrose erlaubt ihr das Laufen im sportlichen Sinn nicht länger, der Schmerz, hervorgerufen durch den beschädigten Knorpel ist zu groß, als dass auch nur ein leichtes Traben möglich wäre. Laufen wird mechanisch dadurch charakterisiert, dass bei jedem Schritt der Körper für einen Augenblick vollends in der Luft steht; beim Gehen hat stets einer der Füße Bodenkontakt. Vor sich selbst bleibt Kerstin eine Läuferin.

Sie will nicht davon lassen, ihre freie Zeit im Wald zu verbringen. Das Gehen auf der Laufstrecke nahm sich anfangs etwas seltsam aus, zwischenzeitlich hat sie sich daran gewöhnt, dass sie für die etwa zehn Kilometer messende Standardrunde mehr als doppelt so lange braucht wie seinerzeit. Die Stunden unter Bäumen bleiben ein Geschenk, auch wenn der Körper nicht mehr so kann, wie sie es gewohnt war. Sie hat an konservativen Therapien alles versucht, was die Orthopädie bereit hält, von der Akupunktur über die Hyaluronkur und Gymnastik bis zu Elektroreizen, ohne dass die Beweglichkeit und die Belastbarkeit des Knies zurückgekommen wären. Ihr Orthopäde, ein Mann ihres Alters, verweist auf den künstlichen Gelenkersatz als Perspektive – wäre damit die Wiederherstellung des Laufens halbwegs sicher verbunden, hätte sie sich wahrscheinlich dafür entschieden.

Kerstin muss akzeptieren, dass sie eine Laufbehinderung erworben hat. Woher die Arthrose in ihrem Fall gekommen ist, bleibt spekulativ. Einen Riss des Kreuzbandes oder des Meniskus hat sie nicht erlitten, Einlagen zur Achskorrektur trägt sie seit langem in ihren Straßen- und Sportschuhen, ihr Trainingspensum während der unmittelbaren Marathonvorbereitung lag bei moderaten 80 Kilometern pro Woche, übergewichtig war sie nie. Sie hat die Befürchtung, dass die jahrzehntelange Behandlung mit Östrogenen aufgrund ihrer Transidentität ein Auslöser der Arthrose sein könnte; allerdings hat ihr Hausarzt auf ihre diesbezügliche Frage gesagt, dass er keine Studien kenne, die einen kausalen Zusammenhang belegten. Es wäre ein hoher Preis für ihr nachgeholtes Frausein.

Das Gehen im Wald ist mit dem Laufen kaum zu vergleichen, dennoch möchte sie auf diese Form der Bewegung nicht verzichten. Die Arthrose hat ein Stadium erreicht, in dem sie das rechte Bein nicht mehr vollständig strecken kann; vermutlich hat sie aufgrund der drohenden Schmerzen eine unbewusste Schonhaltung eingenommen, die zu einer Verkürzung der Muskulatur und der Sehnen geführt hat. Sie erinnert sich an ihre Mutter und auch an ihre Großmutter, die beide im Alter nicht aufrecht in einem Winkel von 180° zum Boden gingen, sondern den ganzen Körper um einige Grad nach vorn neigten. Sie ist dabei, dieses schiefe Gangbild in der nächsten Generation zu wiederholen, wie es ihr ihr Spiegelbild im Schaufenster verkündet. Sie versucht, mit Streck- und Dehnübungen der Beinmuskulatur dagegenzuhalten, damit ihre Haltungsschäden sich nicht weiter auswachsen. Wenn sie nach längerem Sitzen aufsteht, kann sie das rechte Bein in den ersten Sekunden nicht belasten, zu sehr schmerzen die Fasern in der Kniekehle.

Fast trotzig hält sie am Gehen durch den Wald fest, die Benutzung von Stöcken zur Entlastung der Gelenke lehnt sie ab, dazu greift sie nur in den Bergen, wenn es bergab geht, was die Knie und Knöchel besonders belastet. Hin und wieder nimmt sie schmerzlindernde und muskelentspannende Präparate zu sich, solche, die sie auf Rezept erhält und solche, die sie sich in speziellen Geschäften in Eigenregie beschafft. Ihre Behinderung ist für sie ein Indiz des Alters, nur halb im Scherz nennt sie ihr Fahrrad ihren Rollstuhl. Mobilität im Sport sowie im Alltag ist Ausweis von Gesundheit, Selbstständigkeit, Aktivität, nicht zuletzt Lebensqualität. Radfahren und Schwimmen, früher einmal mit dem Laufen zum Triathlon kombiniert, sind deutlich gelenkschonender, weil das Körpergewicht weitgehend vom Sattel respektive ganz vom Wasser getragen wird. Nun geraten ihr diese Disziplinen zur Kompensation für das unmöglich gewordene Laufen.

Wenn sie im Wald unterwegs ist, geht es ihr gut, auch bei vermindertem Tempo. Sie reagiert beschämt und irritiert, wenn andere Leute sie ob ihres Hinkens fragen, ob alles in Ordnung sei. In solchen Momenten registriert sie ihren Widerstand gegen ihre offensichtliche Behinderung. Sie realisiert, dass sie sich vom Laufen partout nicht verabschieden will, dass sie im Inneren eine Läuferin geblieben ist. Der Prozess der Trauer um das, was nicht mehr möglich ist, ist für sie noch nicht abgeschlossen. Sie will ihren Verlust nicht beklagen, sie will ihn einfach nicht wahrhaben. Dieses Rechthabenwollen gegenüber der Wirklichkeit kommt ihr manchmal kindisch vor, manchmal kämpferisch. Wenn sie sich zum Pinkeln in die Büsche schlägt, kann sie sich nicht hinhocken, sondern muss sich mit dem Hintern an einen Baum lehnen, der ihr Gewicht stützt, damit sie die Knie leicht anwinkeln und damit die Blase öffnen kann.

Der Fluss der Endorphine, der ihr das Laufen so lange so attraktiv gemacht hat, ist passé. Die ersten Meter auf dem Rad auf dem Weg nach Hause tun weh, das zirkuläre Beugen und Strecken der Knie im kleinen Gang will eingeübt werden. Zuhause angekommen, trägt sie ihr Rad in den Keller, was besser geht, wenn die Beine durch die Bewegung besonders durchblutet sind. Nach dem Duschen setzt sie sich mit der Zeitung und einer zweiten Kanne Grünen Tee an den Schreibtisch. Daneben steht ein altes Nachtschränkchen aus dem Fundus ihrer Großmutter, obenauf liegt ein turnierfähiges Schachbrett mit den Figuren in der Grundstellung. Sie zieht seit jeher die Leichtfiguren der Dame, den Türmen und den Bauern vor, sie bewegen sich eleganter und femininer, wie sie findet. Das ruhige Schach wird die Passion ihres Alters sein, ihre Lieblingsgestalt nennt sie Läuferin.

Kriminell

Bei der Generalstaatsanwaltschaft München liegen anscheinend die Nerven blank. Am Mittwoch vergangener Woche wurden unter ihrer Federführung Wohnungen in mehreren Bundesländern durchsucht. Sie wirft mutmaßlichen Mitgliedern der „Letzten Generation“ vor, eine kriminelle Vereinigung gegründet zu haben respektive eine solche zu unterstützen. Dieses Vorgehen stellt eine neue Eskalationsstufe der Justiz in der Auseinandersetzung mit den Aktivisten dar, die in den letzten Monaten durch Straßenblockaden in deutschen Städten aufgefallen waren. Sie kreiden der Bundesregierung an, nichts Substantielles im Kampf gegen die menschengemachte Erderwärmung zu unternehmen.

Die Bildung einer kriminellen Vereinigung wird im deutschen Strafgesetzbuch (StGB) unter Paragraph 129 normiert. Deren Zweck ist auf „die Begehung von Straftaten gerichtet“, sie gilt weiterhin als „organisierter Zusammenschluss von mehr als zwei Personen zur Verfolgung eines übergeordneten gemeinsamen Interesses“. Die Mitgliedschaft in einer so verstandenen kriminellen Vereinigung ist mit einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren, in besonders schweren Fällen mit bis zu zehn Jahren zu ahnden, ihre Unterstützung kann bis zu drei Jahre Gefängnis nach sich ziehen. Bisher haben Gerichte gegen angeklagte Klimaaktivisten Geldstrafen und zur Bewährung ausgesetzte Haftstrafen über mehrere Monate verhängt. Der ad nauseam wiederholte Vorwurf: Nötigung.

Die Klimaaktivisten der „Letzten Generation“ als kriminelle Vereinigung? Junge Menschen, mehrheitlich Frauen, die voller Idealismus und Sorge um die Zukunft ihre Jobs kündigen und ihr Studium ruhen lassen, um, wie sie es nennen, in Vollzeit in den Widerstand zu gehen und Straßen zu blockieren, als schnöde Straftäter? Bei diesem Begriff denkt die unbefangene Beobachterin eher an die ’Ndrangheta (Drogenhandel), das IOC (Korruption) oder die US-Regierung (Kriegsverbrechen). Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichtes Andreas Voßkuhle kommt in seiner Beurteilung der „Letzten Generation“ zu einer ähnlichen Einschätzung. Im Vergleich zur Anti-AKW-Bewegung, der Hausbesetzerszene oder gar der RAF gehe es hier eher um „harmlose Sandkastenspiele“, überdies sehe er eine „gewisse Orientierungslosigkeit“.

Sei’s drum, die polizeiliche Gewalt zeigt Wirkung. Einzelne Aktivisten, die nun stellvertretend drangsaliert werden, sprechen über ihre Angst, wollen sich aber nicht von ihrem Tun abbringen lassen. Sie müssen allerdings mit dem tiefen Eingriff in ihre Grundrechte leben: Es ist in diesem Land offenbar mit einem Wimpernschlag möglich, einen Internetprovider dazu zu zwingen, eine Webseite vom Netz zu nehmen. Weiter kann mit einem Stirnrunzeln ein Bankkonto eingefroren und so die komplette finanzielle Kommunikation der Betroffenen lahmgelegt werden. Genau das ist im Zuge der Razzia in der Woche vor Pfingsten geschehen, allerdings mit einem Bumerang-Effekt. An vielen Orten gab und gibt es Protestdemonstrationen gegen das autoritäre Vorgehen der Behörden, Spenden an die Gruppe fließen reichlicher denn je.

Man darf der bayerischen Regierung unterstellen, sich die Justiz des Freistaats gefügig zu machen; schließlich wird in Bayern im Oktober dieses Jahres gewählt. Es gehört seit jeher zum Repertoire der Machthaber, sich vor Wahlen als harter Hund sowie als Garant von Sicherheit und Ordnung zu präsentieren. Da kommt eine völlig überzogene Kriminalisierung der Aktivisten gerade recht, wenn man schon keine Argumente gegen deren Tun vorzuweisen hat. Auch unterhalb der Schwelle eines ordentlichen Gerichtsverfahrens sticht Bayern unrühmlich hervor. Dort ist es möglich, Aktivisten in eine Präventivhaft von 30 Tagen zu nehmen; die liberaleren Stadtstaaten Berlin und Hamburg verhängen dieses bedenkliche Mittel vorausschauender Polizeiarbeit über maximal zwei Tage.

Man muss die Endzeitrhetorik der „Letzten Generation“ nicht gutheißen. Die Gruppe fungiert aber als ein Indikator für das, was in diesem Land sakrosankt ist. Der Verkehrssektor, genauer der private PKW-Verkehr, ist nicht nur ein zentraler Verursacher des klimaschädlichen CO2, er ist auch verantwortlich für immer mehr krankmachenden Lärm, Dreck und Enge in den Städten. Die autogerechte Stadt der 1960er Jahre lebt in Deutschland ungebrochen weiter, egal, welche Partei gerade den Verkehrsminister stellt. So verweigert sich der aktuelle Amtsinhaber einem Tempolimit auf Autobahnen, dem Ende von Dienstwagenprivileg, Dieselsubvention und Pendlerpauschale sowie dem Rückbau von Parkplätzen und Fahrspuren. Die eigentliche kriminelle Vereinigung hat ihre Zentrale in der Invalidenstraße unweit des Hauptbahnhofes. Dort wird nach Informationen der Nachrichtenseite „Der Postillon“ bereits an einem Modellprojekt für die menschenfreie Innenstadt gearbeitet.

Man kann den Deutschen allerhand zumuten. Man kann ihnen eine Impfpflicht gegen eine mäßig gefährliche Atemwegserkrankung aufhalsen, man kann sie wochenlang unter Hausarrest stellen und ihnen das Reisen verbieten, man kann ihre Ersparnisse mit chronischer Inflation abschmelzen, man kann ihre Städte und Dörfer mit unberechtigten Asylbewerbern fluten – all das nehmen sie mit geradezu stoischem Gleichmut hin. Wenn es aber an ihr Auto geht, legen sie verlässlich die Reste zivilisatorischer Hemmungen ab. Sobald eine Autobahnzufahrt blockiert wird, werden deutsche Autofahrer zu echten Männern. Sie beschimpfen und bespucken die friedlich dahockenden Aktivisten nicht nur, sie treten ihnen ins Gesicht und in den Bauch, reißen sie an den Haaren und schleifen sie über den Asphalt, natürlich ohne dass die Polizei einschritte. Die ist schließlich hinreichend damit ausgelastet, Türen einzutreten, die Wohnungen von Verdächtigen zu stürmen, diesen eine geladene Pistole an den Kopf zu halten und ihnen ihre mobilen Endgeräte sowie Notizbücher wegzunehmen.

Ein Sprecher der Klimabewegung hatte vor einem halben Jahr die Prognose gewagt, ein Teil der Szene könnte bei chronischer Passivität der Politik zu militanten Mitteln greifen und in die Illegalität abtauchen. Danach sieht es derzeit nicht aus, im Gegenteil. Die jungen Leute zeigen ihre Gesichter und geben ihre Namen an, sie kündigen ihre Taten an und lassen bei Klebeaktionen stets eine Rettungsgasse auf dem Asphalt frei. Sie erinnern die Bundesregierung an ihre eigenen Gesetze und fordern deren Einhaltung. Doch steht zu befürchten, dass die Politik im Bund und in den Ländern sehenden Auges das Gegenteil tut. So soll etwa im Reichshauptslum die Stadtautobahn A 100 durch zentrale Bezirke verlängert werden, für 450 Mio. Euro pro Kilometer, unter Abriss von Parks und Wohnblöcken. Absurder Alltag im so versiegelten wie überbevölkerten Deutschland.

Selbst Antonio Guterres, Generalsekretär der Vereinten Nationen, die noch am ehesten das globale Vorgehen in der Klimakrise koordinieren könnten, zeigte sich ob der deutschen Hilflosigkeit und Brutalität ihrer ermittelnden Beamten bestürzt. Wohl erst im Abstand von Jahrzehnten wird man die gegenwärtigen Proteste gegen die motorisierte Gewalt und ihre juristische Bekämpfung in den Städten richtig einordnen können: Als Beharrungskräfte der Motormafia oder als Beginn einer Verkehrswende, die ihren Namen verdient. In diesem Fall wäre die „Letzte Generation“ keine kriminelle Vereinigung, sondern ein Schrittmacher eines gesellschaftlichen Wandels. Oder um es mit den Worten der Fans des FC Sankt Pauli zu sagen: Kleben ist kein Verbrechen.

Mühe

Wer ihn jemals auf der Bühne des Theaters oder auf der Leinwand des Kinos gesehen hatte, konnte ihn nicht mehr vergessen. Sein mal warmer, mal stechender Blick aus blauen Augen, dazu die sonore Stimme und die sparsamen Bewegungen, in der Summe eine zarte Leiblichkeit sondergleichen. Den größten Triumph seiner Laufbahn erlebte er noch, als ihm 2007 für den Film „Das Leben der Anderen“ der Oscar verliehen wurde. Ein halbes Jahr später starb Ulrich Mühe an Magenkrebs, er wurde 54 Jahre alt.

Ulrich Mühe wurde im Juni 1953 im sächsischen Grimma geboren, der Vater hatte eine Kürschnerwerkstatt, die Ulrichs Bruder übernahm. Nach der Schule absolvierte Mühe eine Ausbildung als Baufacharbeiter, seinen Wehrdienst musste er wegen eines Magengeschwürs abbrechen. Von 1975 bis 1979 studierte er Schauspiel in Leipzig, anschließend bekam er ein Engagement in Karl-Marx-Stadt. 1982 holte ihn Heiner Müller als Gast an die Berliner Volksbühne, im Jahr darauf wurde Mühe Ensemblemitglied des Deutschen Theaters, wo er zu einem der profiliertesten Schauspieler der DDR werden sollte und in allen Rollen des Repertoires von Shakespeare über Kleist bis Brecht brillierte. Bei der großen Demonstration am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz gehörte er zu den Organisatoren und Rednern.

Nach der Epochenschwelle 1989/91 hatte Mühe wachsenden gesamtdeutschen Erfolg, vor allem im Kino. Er trat am Burgtheater in Wien unter Claus Peymann auf und spielte in der Mediensatire „Schtonk!“ ebenso mit wie in den abgründigen Filmen „Bennys Video“ und „Funny Games“ von Michael Haneke. Populär schließlich wurde er in der Gestalt des Gerichtsmediziners Dr. Robert Kolmaar in der ZDF-Serie „Der letzte Zeuge“. Seine größte Rolle des Stasi-Hauptmanns Hans Gerd Wiesler im „Leben der Anderen“ sollte auch seine letzte werden. Ulrich Mühe, der dreimal verheiratet war und Vater von fünf Kindern wurde, starb im Juli 2007 im sachsen-anhaltinischen Walbeck, wo er auch begraben wurde und wo seitdem ihm zu Ehren eine Straße seinen Namen trägt.

„Das Leben der Anderen“ des Regisseurs Florian Henckel von Donnersmarck ist bis heute der heftigste und treffendste Film über die zersetzenden Machenschaften der DDR-Staatssicherheit. 1984, als der Film einsetzt, ist vom kommenden Reformer Mikhail Gorbatschow in der UdSSR noch nichts zu sehen. Ulrich Mühe spielt den Vernehmungsspezialisten Hans Gerd Wiesler, der zu einem operativen Vorgang auf den Dramatiker Georg Dreyman angesetzt wird. Routiniert betreibt Wiesler die Verwanzung der Wohnung Dreymans, die dieser mit seiner Freundin, der Schauspielerin Christa Maria Sieland teilt. Diese wiederum wird vom Kulturminister Bruno Hempf zu einer Affaire gezwungen, die sie aus Angst vor beruflichen Nachteilen widerwillig mitmacht. Wiesler nun hört Dreyman und Sieland in ihrer Wohnung ab, die sie für sicher halten, linientreu wie sie sind.

Als Albert Jerska, ein mit Berufsverbot geschlagener Regisseur und Freund Georg Dreymans, sich das Leben nimmt, wird der bis dahin unpolitische Dichter aktiv. Er schreibt einen Essay über den Selbstmord in der DDR, den er anonym im westdeutschen „Spiegel“ veröffentlichen will. Wiesler, der durch das Abhören von diesen Plänen erfährt, macht eine erstaunliche Wandlung zur Subversion durch. Er, der vor Jahrzehnten unter dem Motto „Schild und Schwert der Partei zu sein“ seinen Dienst bei den Organen angetreten hatte, wird nun von Zweifeln ob der Richtigkeit seines Tuns geplagt. Er verliert nach und nach den Glauben an seine Arbeit, an den Sozialismus und die DDR und sorgt durch aktive Unterlassung dafür, dass man Georg Dreyman nach der Veröffentlichung seines Textes nichts anhaben kann. Er gibt Meldungen nicht an Vorgesetzte weiter, legt falsche Fährten, versteckt belastende Gegenstände und sabotiert den eigenen Verhörvorgang. Dass er damit auch seine eigene Karriere ruiniert, nimmt er billigend in Kauf.

Diese Entwicklung eines überzeugten Stasi-Offiziers zum heimlichen Dissidenten wurde in der Rezeption des Films früh als irreal kritisiert. Mag die Figur des Hans Gerd Wiesler auch konstruiert erscheinen und mögen ihre Brüche historisch unwahrscheinlich sein, ist ihre Genese über die Dauer des Films schmerzhaft glaubhaft. Bei einem Besuch in der verwaisten Wohnung seiner Opfer nimmt der Täter Wiesler einen Band mit Gedichten von Bertolt Brecht an sich. Abends nach Schichtende liegt er auf der Couch seiner unpersönlich eingerichteten leeren Wohnung in einer Hochhausscheibe und liest ergriffen aus dem Gedicht „Erinnerung an die Marie A.“ Der allein lebende Wiesler, der keine Emotionen zu haben scheint, bekommt durch die Liebeslyrik Brechts einen zögerlichen Zugang zur Kunst, die er bisher völlig ignoriert hatte. Aus dem kalten Verhörroboter wird peu à peu ein Mann mit Gewissen, der faktisch seinen Dienst quittiert. Als Motiv drängt sich sein schülerhaftes Verliebtsein in Christa Maria Sieland auf, die er schützen will, so gut es eben geht.

Wiesler kann die Katastrophe nicht vollends verhindern. Christa Maria Sieland kommt bei einem Autounfall ums Leben, doch Georg Dreymans Autorschaft am inkriminierten „Spiegel“-Artikel kann diesem nicht nachgewiesen werden. Wiesler wird degradiert, die letzten Jahre der DDR verbringt er mit dem Aufdampfen und Zensieren von Briefen; nach der friedlichen Revolution, die seine berufliche Existenz vollends vernichtet, schlägt er sich als Prospektverteiler durch. In der tränenrührenden Schlussszene des Films betritt Wiesler eine Buchhandlung, in deren Schaufenster der neue Roman Georg Dreymans „Sonate vom guten Menschen“ prominent ausgestellt ist. Dieser hat zwischenzeitlich seine Stasi-Geschichte rekonstruiert und aus den Akten erfahren, dass ein hauptamtlicher Mitarbeiter mit dem Kürzel „HGW XX/7“ seine schützende Hand über ihn gehalten hatte. Eben diesem Offizier HGW XX/7 ist der neue Roman in Dankbarkeit gewidmet. Als Wiesler ein Exemplar kauft, antwortet er auf die Frage des Buchhändlers, ob das Buch als Geschenk verpackt werden solle: „Nein, das ist für mich.“

Ulrich Mühe gibt seinem Hans Gerd Wiesler zahlreiche Gesichter. Da ist eingangs der harte Vernehmer, der den Häftling erbarmungslos mit den immer gleichen Fragen traktiert, bis dieser nach 40 Stunden Dauerverhör schließlich kollabiert; da ist der wortkarge Protokollant, der nüchtern seine Berichte über das Mitgehörte tippt; da ist der schüchterne, fast jugendliche Leser, der durch die Dichtung Brechts eine erste Ahnung vom Zauber der Literatur bekommt; da ist der Doppelagent, der durch geschickte Fragen das Versteck einer Schreibmaschine herausfindet, nur um diese vor seinen Stasi-Kollegen zu verbergen. Dabei fehlt Wiesler eine konsistente Argumentation, die ihn weg von seinen Gewissheiten hin zum Widerstand treibt. Er macht es einfach intuitiv, seine wasserblauen Augen schauen dabei zunehmend melancholischer. Sein Mund ist noch meilenweit von einem Lächeln entfernt, aber aus seinem Antlitz ist die Genugtuung an der Qual seiner Opfer gewichenen.

Als Schauspieler, der mit dem verfemten Heiner Müller zusammenarbeitete, wurde Ulrich Mühe spätestens ausgangs der 1970er Jahre von der Staatssicherheit observiert; er ging so weit, seiner ehemaligen Ehefrau Jenny Gröllmann vorzuhalten, ihn als IM bespitzelt zu haben. Für die Vorbereitung auf die Rolle des Hans Gerd Wiesler musste er sich nach eigener Aussage nur erinnern. Mit dem „Leben der Anderen“, 2006 in die Kinos gekommen, hat die Historisierung der DDR einen ordentlichen Schub genommen. Das Konterfei Ulrich Mühes steht dabei für eine persönliche Tragödie im Strom der Geschichte mit all ihrer Wucht. Wenn es ein Signum eines bedeutenden Darstellers ist, dass man seine Züge stets erkennt, egal in welcher Rolle man ihn sieht, und er zugleich in jeder Rolle einmalig wirkt, als sei es seine erste, zählt Ulrich Mühe zu den ganz großen Mimen dieses Landes. Auch im Jahre 16 nach seinem Tod.

Kaiserdamm

Der Kontrast zum Alltag könnte nicht größer sein. Der Kaiserdamm, eine der wichtigen Ost/West-Verbindungen der Hauptstadt, ist auf einer Länge von 500 Metern für den Autoverkehr gesperrt. Lediglich Anlieger dürfen die sonst chronisch verstopfte Magistrale befahren. Wo sich ansonsten die motorisierte Gewalt in ihren schlimmsten Ausmaßen Bahn bricht, liegt der Autoverkehr nun für mindestens ein halbes Jahr brach.

Diese Vollsperrung des Kaiserdamms geht nicht auf die Aktivitäten der „Letzten Generation“ zurück, sondern auf eine Anordnung des Bezirksamtes Charlottenburg-Wilmersdorf. Ende April war die stark gerillte Fahrbahn auf Höhe des Sophie-Charlotte-Platzes teilweise abgesackt, fälschlicherweise nahm man zunächst einen Wasserrohrbruch als Ursache an. Tatsächlich ist der unter dem Kaiserdamm verlaufende Kanal, ein Relikt noch aus der Zeit Wilhelms II., beschädigt und muss nun aufwändig restauriert werden. Die städtischen Wasserbetriebe teilten nach einer eingehenden Analyse mit, dass die sogenannten Düker, Unterführungen für unterirdisch verlaufende Abwasser- und Trinkwasserleitungen, ausgebessert werden müssen. Die anstehenden Tiefbauarbeiten bringen es mit sich, dass der Autoverkehr für ihre Dauer gestoppt werden muss. Welch ein Segen.

Die Anwohner des Kaiserdamms und seiner Seitenstraßen zwischen Lietzensee und Schloss reagieren mehrheitlich begeistert über die Vollsperrung der einstigen Prachtchaussee mit ihren acht Spuren für den stockenden und drei Spuren für den ruhenden Autoverkehr. Sie stehen tief atmend auf der leeren Fahrbahn und blicken leicht abschüssig Richtung Ernst-Reuter-Platz und weiter zur Siegessäule im grünen Tiergarten. Wo ansonsten eine sich immer wieder neu formierende Mauer aus Glas, Chrom, Stahl und Pneus steht, herrscht nun eine ungewohnte Ruhe für das lärmgeplagte Quartier. Kein LKW-Gedonner, kein Reifenkreischen beim Kavalierstart, kein Feinstaub, kein Dieseldreck, kein Auspuffgeheul, keine schmerzende Vibration des endlosen Lindwurms aus Blech. Eine überfällige Therapie für den angeschlagenen Organismus der Großstadt.

Plötzlich wirkt die Zeit um mehr als 100 Jahre zurückgedreht, als gelegentlich ein Auto auf dem Asphalt gesteuert wurde. Die sepiagetönten Fotos aus der Zeit vor dem I. Weltkrieg zeigen Kutschen, eine Straßenbahn, Busse, Fahrräder und vor allem Fußgänger auf der Straße, diese diagonal schneidend und dabei präsentabel schreitend, nicht wie heute während der sekundenkurzen Grünphase der Ampel über das graue Band hetzend, aus Angst, von einem durchdrehenden Auto erfasst zu werden. Seinerzeit, als die Straßen noch den Menschen gehörten, flanierten diese durch den öffentlichen Raum, seit dem Siegeszug der autogerechten Stadt ab den 1960er Jahren finden sie sich vom ungestillten Flächenfraß der privaten PKW an den Rand der Häuser abgedrängt.

Was den klebenden Kommandos der „Letzten Generation“ mit ihren Blockaden der Autobahnen im Reichshauptslum nicht gelingt, wird durch die Verkrampfung der Gedärme der Unterwelt Realität in Charlottenburg: Der mörderische Autoverkehr, mit dem sich Stadt und Bewohner mit schwer verständlicher Langmut arrangiert haben, wird für mindestens ein halbes Jahr verbannt. Um die Düker wieder in Stand setzen zu können, müssen die unterirdischen Wasserleitungen vorübergehend über Tage geführt werden. Wenn es soweit ist, werden die Tiefbaufachleute die in der Erde noch unterhalb der U-Bahn-Schächte verlaufenden Rohre überprüfen und gegebenenfalls stückweise austauschen. Die Vollsperrung der Magistrale hat unter anderem zur Konsequenz, dass andere Bauvorhaben in der Nachbarschaft zunächst zurückgestellt werden müssen.

Aus den fahlen Gesichtern der Anwohner schwindet der Ausdruck von Müdigkeit und Gehetztheit, wie er zwangsläufig in Gesellschaft von Autos entsteht. Die Menschen fühlen sich beschenkt durch die Ruhe, den Platz und die gute Luft, die um sich greifen, kaum dass die Blechkisten verschwunden sind. Wer jetzt den Kaiserdamm entlang schlendert, kann sich mit seiner Begleitung unterhalten, ohne schreien zu müssen. Auf der Wiese am Lietzensee sitzen ganze Familien beim Picknick, ohne vom Dauerrauschen der Zylinder angegangen zu werden. Kinder hocken vorne im Babboe oder hinten im Chariot, ohne von giftigen Abgasen eingenebelt zu werden. Rentner queren die Magistrale, ohne ihre Hunde an der Leine vor Nervosität zu strangulieren. Welche Wohltat. Dem Kiez steht ein grüner Sommer ins Haus.

Wie sehr das Auto die Stadt von heute in seinen Klauen hält, wird erst in der Unterbrechung seiner Dominanz deutlich. Im Bezirk Mitte ist ein Kulturkampf um die Stilllegung der Friedrichstraße über eine Länge von 600 Metern entbrannt. Während dieses Relikt der Vorgängerregierung sicher bald vom neuen Senat kassiert werden wird, dürfen sich die Charlottenburger an der unvermuteten Vermenschlichung ihres Kiezes erfreuen. Sie empfinden das verhängte sechsmonatige Moratorium als kolossale Entlastung ihres Alltags, der die Bedürfnisse des Autos längst über jene der Menschen gestellt hat. Vielleicht geht den Menschen während der Abwesenheit der Autos auf, wie schwer sie durch diese geschädigt werden. Und wer weiß, vielleicht kommt es dann endlich zu einer Verkehrswende, die den Namen verdient, weg von den viel zu vielen PKW in der Stadt.

Der gut 50 Meter breite Kaiserdamm drängt sich geradezu auf für eine Neugestaltung des öffentlichen Raumes. Zwei Fahrspuren in jede Richtung ließen sich locker einsparen und mit Bepflanzungen oder gewerblich nutzen, gleiches gilt für den mittigen Parkstreifen. Die Klimaziele der Bundesregierung könnten dann endlich auch im Verkehrssektor eingehalten werden, jeder Umweltmediziner wird attestieren, dass Krach, Schmutz und Enge, konzentriert im privaten PKW, die Menschen krank machen. Die Stadt sollte dankbar sein für die große Baustelle, die ohne Absicht das brutale Chaos des Autoverkehrs bändigt und dabei aufzeigt, wie eine lebenswerte Stadt zu Beginn des 21. Jahrhunderts aussehen kann. Vielleicht gründet sich eine Bürgerinitiative, die das Provisorium eines autofreien Kaiserdamms verstetigen möchte. Nicht nur stundenweise zum jährlichen Halbmarathon.

Die Andere

  Es ist vorbei, wenn man gerade denkt, jetzt fängt es an. – Wolfgang Niedecken, Wie ne Stein

Nein, sie sollten sich nicht wiedersehen. Severin ließ Kerstin via Telegram wissen, dass seine zwischenzeitlich verflossene Geliebte Nadine sich wieder gemeldet habe und sich offen zeige für eine Wiederaufnahme ihrer Begegnungen. Da bleibe Severin nichts anderes übrig, als sich Nadine vollumfänglich zu widmen, natürlich auf Kosten der Zeit für Kerstin. Er versäumte es nicht, ihr gönnerhaft für ihre Offenheit zu danken und wünschte ihr für das Kommende alles Gute.

Kerstin fühlte sich unversehens in einen dunklen Keller gesperrt. Wenig Licht drang durch die schmalen Fenster hinein, die Weltgeräusche waren gedämpft, der Estrich staubig. Sie verstand Severin nicht, er hatte ihr bei ihrer letzten Begegnung versichert, sie wiedersehen und verwöhnen zu wollen, sein Engagement gegenüber anderen Frauen spiele dabei keine Rolle, wie er eifrig beteuerte. Ein Irrtum, wie sich keine zwei Wochen später herausstellen sollte. Die Andere war ihm vertraut und wichtig, Kerstin wahrscheinlich zu dubios und haram.

In Kerstin wuchs der Gedanke, dass Severin eben doch Anstoß nahm an ihrer Transidentität. Er wolle, so ihre Vermutung, doch eine richtige Frau und keinen Kastraten, sei dieser auch hübsch und kurvig und weiblich wie nur zu wünschen. Zugeben würde Severin diese Entscheidung natürlich nicht, aber treffen durchaus. Es ging ja schließlich auch um seinen Ruf als Mann, den er sich von einer Transfrau nicht beschädigen lassen dürfe. Für Kerstin gab es keine andere Erklärung, ihre chronischen Befürchtungen gegenüber Männern sah sie bestätigt.

Sie lag rücklings nackt auf dem frisch bezogenen Bett, am Wochenende hatte sie zusätzlich gesaugt und gewischt. Sie spreizte die Beine, winkelte die Knie und stellte die Fußsohlen über Hüftbreite auf, was ihre Spalte automatisch öffnete. Sie gab einen Klecks vom neu erworbenen Gleitgel auf die Fingerspitzen und rieb sich die Lippen und die Höhle ein, so üppig, dass der ebenfalls neue Vibrator glatt hineinglitt. Was als Training zur Aufnahme von Severin gedacht war, wurde nun zum Standardprogramm. Ein Penis sollte sie offenbar nicht ausfüllen, dann eben das Pendant aus Silikon.

Kerstin kam sich vor wie auf einem sich leerenden Bahnsteig in der Provinz. Die Fahrgäste, die mit ihr gemeinsam den Zug verlassen hatten, waren von ihren Angehörigen längst unter Umarmungen abgeholt worden, der Zug war wieder aufgebrochen zum nächsten Ziel. Auf Kerstin wartete niemand, so sehr sie auch die Augen über Perron und Vorplatz schweifen ließ. Ihr Stehenbleiben wurde peinlich, sie musste sich in Bewegung setzen und ihr Alleinsein vertuschen. Ihre lederne Reisetasche wurde dadurch doppelt schwer.

Die neckischen Botschaften über den Messengerdienst rissen ab, kein Kontakt mehr von Severin. Kerstin war bereit, sich auf das wacklige Arrangement eines geteilten Liebhabers einzulassen. Sie glaubte sich, mit der zugewiesenen Rolle der Anderen klar zu kommen. Sie wusste von Sererins Hauptfrau und seinen Mätressen und machte sich keine Illusionen, dass sie auf der Reservebank würde Platz nehmen müssen. Doch dass Severin ihr nun kündigte, bevor noch die Probezeit begonnen hatte, traf sie unvermittelt.

Nicht einmal für den Trostpreis in seinem Harem kam sie infrage, sagte sie sich resigniert. Sie durfte das Gelobte Land der Liebe aus der Ferne sehen (Dtn 34,1-4) und hatte gar eine Zehe auf seinen Boden gesetzt. Doch die Vertreibung aus dem Paradiese folgte auf dem Fuße (Gen 3,23-24), für ihresgleichen sollte hier kein Platz sein, für sie war vielmehr die Feuerwalze über Sodom reserviert (Gen 19,23-29). Wie Onan sollte sie ohne Nachkommen bleiben und daher dem Tode anheimgegeben werden (Gen 38,8.10). Die Unausweichlichkeit dieses Schicksals war tief in Kerstins Blut gezogen, bei jedem Atemzug wurde sie daran erinnert und nun von Severin gesondert darauf gestoßen.

Die Latte der Partnerschaft würde sie beharrlich reißen, war Kerstin sich gewiss. Der Abend mit Severin war nichts weiter als die Ausnahme von der Regel, das weibliche Glück der Hingabe würde ihr immer fremdbleiben. Sie durfte einmal einen besonders intensiven Traum erleben, der ihr für einen Moment vorspiegelte, dazu zu gehören. Aber am nächsten Morgen war allen Beteiligten klar, dass sie die Andere, die Aussätzige bleiben werde. Sie vermochte Severin seine Feigheit nicht einmal vorzuwerfen, hatte er doch im Einklang mit seiner Epoche gehandelt. Transfrauen sind keine Frauen.

Franziska

Gibt es eine sozialistische Stadt? Natürlich, wenn man in die Geschichte der Sowjetunion und des Sojus blickt. Gibt es auch sozialistische Wünsche der Bewohner einer sozialistischen Stadt? Schon schwieriger zu beantworten. Vermutlich gibt es konstante menschliche Bedürfnisse nach Sicherheit, Beständigkeit, Übersichtlichkeit und Komfort, deren Befriedigung indirekt von Architekten und Stadtplanern erwartet wird. Den Konflikt zwischen Ideal und Wirklichkeit des Bauens schildert der Roman „Franziska Linkerhand“ der Autorin Brigitte Reimann, der 1974 erstmals veröffentlicht wurde. Das öffentliche Bauen kann ob seiner Dauerhaftigkeit nicht aus seiner Verantwortung für das Wohlergehen und die Gesundheit der Menschen entlassen werden, kann man doch einen Wohnblock, eine Industrieanlage oder eine Chaussee nicht einfach übermalen wie eine Parole.

Brigitte Reimann wurde 1933 als ältestes von vier Kindern in Burg bei Magdeburg geboren. Nach dem Besuch der Oberschule und dem Abitur arbeitete sie zunächst als Lehrerin, bevor sie sich der Schriftstellerei zuwandte. Bereits 1955 veröffentlichte die Erzählung „Der Tod der schönen Helena“, kurz darauf unterschrieb sie eine Erklärung zur Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit. Voller Zweifel über diese unbedachte Entscheidung sprach sie vor dem Magdeburger Schriftstellerverband von einer Dekonspiration und wurde in der Folge selbst vom MfS beobachtet. Bekannt wurde sie mit der Erzählung „Ankunft im Alltag“ von 1961; zu dieser Zeit lebte sie bereits in Hoyerswerda, wo sie im Kombinat Schwarze Pumpe arbeitete. Sie repräsentierte den sogenannten Bitterfelder Weg, nach dem Schriftsteller und andere Intellektuelle in der Produktion Erfahrungen sammeln sollen, um das Leben in der jungen DDR literarisch abbilden zu können. 1968, dem Jahr des Umzugs nach Neubrandenburg, verlor sie die rechte Brust an den Krebs. Brigitte Reimann, die viermal verheiratet war, ohne je ein Kind geboren zu haben, starb 1973 nach langer Krankheit in Berlin. Ihre letzte Ruhestätte fand sie schließlich auf dem Friedhof ihrer Geburtsstadt.

Brigitte Reimann wurde posthum berühmt durch ihren Roman „Franziska Linkerhand“, der 1974 auf Basis des leicht gekürzten Manuskriptes erschien und 1998 erneut aufgelegt wurde, dieses Mal ohne Streichungen. Der unvollendet gebliebene Roman, an dem die Autorin mit Unterbrechungen zehn Jahre gearbeitet hatte, schildert den Berufsalltag einer jungen Architektin, die im fiktiven Neustadt (eine Chiffre für Hoyerswerda) beim Aufbau einer sozialistischen Stadt mithelfen will. Sie ist „berauscht von dem Verlangen, mich zu behaupten und Häuser zu bauen, die ihren Bewohnern das Gefühl von Freiheit und Würde geben, die sie zu heiteren und noblen Gedanken bewegen“. Doch in der Realität muss sie sich mit starren politischen Vorgaben aus der Hauptstadt herumschlagen, in möglichst kurzer Zeit billigen Wohnraum für die Arbeiter des benachbarten Kombinats zu errichten, immer im Kampf mit fehlendem Material, ausfallenden Maschinen und mangelhaft ausgebildeten Bauarbeitern.

Es bleibt keine Zeit für städtebauliche Experimente oder Utopien, gar für Zierrat, Ambiente und Dekor. Vor allem, so wird es Franziska Linkerhand rasch klar, werden die Bewohner der großen Werksiedlungen nicht nach ihren Wünschen und Bedürfnissen gefragt. Die 1960er Jahre, in denen der Roman angesiedelt ist, sind der Trümmerlandschaften der Nachkriegszeit entronnen, die neuen sozialistischen Städte, zu denen Neustadt aka Hoyerswerda zählt, werden am Reißbrett auf der grünen Wiese entworfen und mit vorab zentral hergestellten Elementen auf der Baustelle montiert; hier beginnt die serielle Produktion von Häusern und Wohnungen, die in der Sowjetunion unter Nikita Chruschtschow ihren Anfang nahm und in den Ländern des Ostblocks zum monotonen Standard wurde. Wie man spätestens in der historischen Rückschau erkennt, führte das zu einer Gesichtslosigkeit der Städte, die in Ungarn, Rumänien, Russland, Polen und eben der DDR gleichermaßen trist aussehen.

Vom Vorzeigeprojekt der Stalinallee, an der opulente Wohnpaläste mit allem erdenklichen Komfort, Infrastruktur und Freizeiteinrichtungen für die Arbeiter entstehen sollten, hatte sich die DDR-Führung längst verabschiedet, nun wurden in Heiner Müllers bitterer Diktion „Fickzellen mit Fernheizung“ eingerichtet. Ein bereits resignierter Kollege empfängt Franziska Linkerhand im Büro mit den Worten: „Was Sie hier sehen, meine Freundin, ist die Bankrotterklärung der Architektur. Häuser werden nicht mehr gebaut, sondern produziert wie eine beliebige Ware, und an die Stelle des Architekten ist der Ingenieur getreten.“ Und weiter: „Wir sind Funktionäre der Bauindustrie geworden, für die Gestaltungswille und Baugesinnung Fremdwörter sind, von Ästhetik ganz zu schweigen.“ Dass Franziska ihre Ausbildung bei einem berühmten Architekten der Akademie erhalten hat, der nun das Gewandhaus in Leipzig baut, macht es ihr im Kollektiv nicht leichter, hier ist die Serie gefragt, nicht der Solitär.

Formal ist der Roman durchaus avantgardistisch zu nennen. So sind weite Passagen des Textes in der Ich-Form erzählt, andere hingegen aus der Sicht einer allwissenden Erzählerin. Detaillierte Beschreibungen der Natur wechseln sich ab mit lebhaften Dialogen, die ohne weiteres für ein Theaterstück verwendet werden könnten. Immer wieder kommt es zu zeitlichen Rückblenden, wobei selbst der Autorin der Überblick verloren zu gehen droht, erst recht, wenn der Liebhaber der Heldin direkt angesprochen wird. Hier wird deutlich, dass der Text keinem ordnenden Lektorat unterzogen wurde und wohl aus Respekt vor der verstorbenen Autorin in der Fassung von 1998 ohne Eingriff publiziert wurde, gewissermaßen als vollständige Edition. Im Zentrum steht Franziska, die höhere Tochter aus einem angesehenen Verlegerhaushalt, deren Eltern aus Enttäuschung über den Sozialismus der DDR noch vor dem Mauerbau in den Westen gehen und ihrer Tochter neben einer umfassenden humanistischen Erziehung ihren Geschmack, gute Manieren und ihren Willen hinterlassen.

In einer Auseinandersetzung mit einem Kollegen, der sie nebenbei als schöne Frau umgarnt, drängt sie auf das „Abenteuer, ein Wagnis, von dem die großen Architekten geträumt haben: eine neue Stadt bauen, ein paar hundert Hektar Land, auf denen man eine städtebauliche Idee verwirklichen kann“. Und sie hält ihm vor, kapituliert zu haben, was er nicht einmal bestreitet. Als sie insistiert und ihn fragt, warum er Architekt geworden sei, bleibt er ihr die Antwort schuldig; er mokiert sich in Gedanken vielmehr über ihre Hingabe an den Beruf, die im Alter von 25 Jahren Frauen eine zusätzliche Attraktivität verleihe, sie mit 40 aber unausstehlich mache. Stattdessen spielt er auf Franziskas eigenwilligen Reiz einer jung geschiedenen Frau an, zusammen schlafen werden sie natürlich auch. Zwischen den Zeilen des Manuskripts wird, für geübte Leser, leise Kritik am Alltag der DDR geübt, etwa an den lebensfernen Beschlüssen des Politbüros mit seinen Verbindlichkeiten für die Architekten vor Ort.

Franziska beginnt sich an das öde Leben in der Provinz anzupassen, sie nimmt die störrischen Launen ihres Vorgesetzten hin und improvisiert nebenbei. Sie richtet auf Eigeninitiative eine Beratungsstelle für junge Familien ein, um zu erfahren, was für Wünsche die Menschen haben. Sie wollen neben einer guten medizinischen Versorgung und einem breiten Angebot an Lebensmitteln ein Kino, einen Ort zum Tanzen, regelmäßige Busverbindungen, etwas Grün zum Erholen. Gleichzeitig muss sie auf Geheiß der Bauleitung alte Bäume fällen und unter der Hand genutzte Schuppen abreißen lassen, die neue Stadtplanung liebt den rechten Winkel und vertreibt das Kopfsteinpflaster, die autogerechte Stadt wird auch im Ostteil Deutschlands zu einer Bedrohung allen menschlichen Lebens, wenn auch mit 30 Jahren Verzug. Die Suizide in der sozialistischen Mustersiedlung sind ein Tabu, es kostet Franziska enorme Mühe, unter der Hand die Zahlen, die ihre Vermutungen bestätigen, zu erhalten.

Nun gibt es in der Geschichte der Architektur nur wenige, die den Petersdom oder die Eremitage entwerfen und auch noch bauen können. Welcher Stadt- und Verkehrsplaner vermag schon wie Haussmann oder Hobrecht eine ganze Stadt während des laufenden Betriebes vom Kopf auf die Füße stellen oder wie Niemeyer sein Brasilia komplett in den gerodeten Dschungel pflanzen? Kaum einem Baumeister ist es vergönnt, für einen reichen Industriellen eine ausladende Villa auf einem Riesengrundstück mit exklusivem Seezugang zu planen und zu errichten. Die meisten Architekten entwerfen nicht, sondern zeichnen mit Akribie Schnitte, Aufrisse und Axonometrien, vor und mit AutoCAD und BIM. Hierbei muss das ausführende Büro die laufenden Kosten im Blick haben, alle Vorschriften stets beachten, verschiedene Gewerke orchestrieren und stets den Zeitplan einhalten.

Das ist für Franziska nicht anders, nur dass ihr Auftraggeber der Staat ist und sie dessen Bürokratin. Auch gilt es keine Ausschreibungen im freien Wettbewerb zu gewinnen, vielmehr kommen auch hier die Vorgaben von der politischen Spitze, die sich überdies in einem dauernden Systemstreit mit dem Westen sieht. Da bleibt der Architektin nur die Rolle als „Rädchen, funktionierend, weil verzahnt mit anderen Rädchen, bescheiden und zuverlässig, keinesfalls befugt, ins Getriebe zu greifen“. Sie wird für ihre Akkuratesse und ihren Eifer gelobt, auch für ihre Fähigkeiten auf der Baustelle. Als alleinstehende Frau hingegen wird sie argwöhnisch beäugt, die Frauen sehen sie als Konkurrentin, die Männer als Beute; das gilt auch für ihren väterlichen Vorgesetzten, der ihre sonntäglichen Spaziergänge in der überschaubaren Stadt süffisant kommentiert: „Sie schließen schon Bekanntschaften?“

„Franziska Linkerhand“ wurde nach seinem Erscheinen als ein Werk der Ankunftsliteratur der DDR etikettiert, tatsächlich beschreibt es eine junge Frau auf dem Weg zu ihrem Platz in der Gesellschaft, beruflich, privat und auch politisch. Unter der Haut ist es ein Roman über die intendierten wie überraschenden Auswirkungen des Bauens auf das alltägliche Leben der Menschen. Als eines Nachts ein Mädchen von einer Rotte Kerle vergewaltigt wird und lange vergebens um Hilfe schreit, greift niemand ein, alle hören angestrengt weg. Weil es zu wenig Licht auf dem Trottoir gibt, weil die Hochhäuser Anonymität fördern und die Menschen vereinzeln, weil die Straße weiter den Männern gehört, so Franziskas Fazit. Ihre Arbeit stellt die richtigen Fragen, auch wenn sie selbst keine befriedigenden Antworten geben kann. Das macht den Roman auch annähernd 50 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung wuchtig und fesselnd, als historisches Zeugnis wie als Parabel.

Weiter

Nach ihrer lustvollen Begegnung in der letzten Woche stellte sich für Kerstin und Severin die Frage, wie es nun weiter gehen solle. Beide wollten einander wiedersehen, allerdings nahm Severin Abstand von der Idee, sich erneut in der Wohnung seiner Freundin zu treffen, diese sollte von Intimitäten mit anderen Frauen freigehalten werden. Kerstin hingegen wollte sich mit Severin zunächst auf neutralem Boden treffen, um ihn über ihre Transidentität ins Bild zu setzen. So verabredeten sie sich in einem zentral gelegenen Café, das seine besten Tage in den 1980er Jahren gesehen hatte.

Vor diesem Treffen war Kerstin nach aufgeregter als vor ihrer ersten Tantra-Session. Severin hatte sie nicht nur begehrt, sondern wollte sie für unverbindlichen Sex wiedersehen. Dass sie für seine Erektion verantwortlich war, nahm sie als Kompliment. Kurz nach dem gemeinsamen Abend schickte er ihr via Telegram eine kleine Ballade, in der er einen gemeinsamen Weg zum Höhepunkt vorwegnahm, sie dabei als voller Hingabe und Passivität beschreibend. Allein das Lesen dieser Zeilen machte sie so weiblich, wie sie es sich lange nicht vorstellen konnte. Sie schrieb ihrer vertrauten Freundin Regina, was geschehen war, was diese zu überschwänglichen Hymnen des Glückwunsches animierte. Möge es doch einfach so weitergehen, war Kerstins letzter Gedanke vor dem Einschlafen.

Sie begrüßten sich mit einer Umarmung und einem zärtlichen Kuss und fanden im gut besuchten Café einen Platz auf der Empore, nah an den Toiletten, aber ruhig und gut geeignet zum Reden. Gottlob fing Severin an, über einen verstorbenen gemeinsamen Bekannten zu sprechen, den Kerstin noch vor ihrem Coming-out kannte. Dankbar nahm sie den Ball auf und erzählte von jenen Tagen kurz vor Mauerfall und Wende, die auch für sie persönlich eine existentielle Weichenstellung bedeuteten, weg von der männlichen Gestalt, hin zu Vornamensänderung, Hormonbehandlung und schließlich Operation. Severin stutzte und fragte direkt, Wie, Du warst mal ein Kerl? Und Kerstin antwortete, Wenn Du es so ausdrücken willst.

Nach diesem Geständnis ging es ihr besser, die Vorstellung einer Täuschung war von ihr genommen. Nun war es an Severin, dieses Wissen, das möglicherweise eine Ahnung bestätigte, anzunehmen und seine Schlüsse daraus zu ziehen. Er war interessiert an den technischen Fragen und wollte wissen, ob ein Bartwuchs durch die Hormonbehandlung verschwunden sei (zum Teil), ob sie plastisch-chirurgisch etwas im Gesicht habe machen lassen (nein) oder ob es sie es nicht vermisse, im Stehen pinkeln zu können (zu keiner Zeit). Körpersprachlich rückte er kein Jota von ihr ab, er streichelte sie und hielt ihre Hand, ließ sich von ihr die Beine tätscheln und küsste sie unvermindert auf den Mund. Er verstand nun, warum sie mit Männern offenkundig wenig Erfahrung hatte, was ihn aber nur in der Bereitschaft bestärkte, ihr in dieser Hinsicht Nachhilfeunterricht zu geben.

Für ihn schien ihre Auskunft zum Werden ihrer Weiblichkeit gegen biologische Vorgaben nichts an seinem Begehren zu ändern. Er sprach unterdessen von seiner Beziehung zu seiner Freundin, die mit einer parallelen Fickbeziehung einverstanden sei. Und es schien nicht bei einer Ergänzung zu bleiben, er erwähnte die Namen anderer Frauen, mit denen er sich zum Vergnügen traf, Kerstin fühlte sich eingereiht in dieses Defilee der Gespielinnen der Freude. Sie legte ihren Kopf an seine Schulter, die Augen halb verschleiert durch die offenen langen Haare, die ihm sehr gefielen. Was tat es ihr gut, dass er ihren Körper mochte, ihre weiche Haut, ihre Liebesgriffe an der Hüfte. Ihre panische Vorstellung, er werde sie verachten und verstoßen, erwies sich als haltlos; er schien zwar ihre Vergangenheit spannend zu finden, sah ihre Gegenwart aber um Längen reizvoller.

Ihren alten Namen wollte er nicht unbedingt wissen, meinte aber, er würde gern einmal ein Bild aus Teenietagen sehen wollen. Sie antwortete, dass sie ihm gegebenenfalls ein solches zeigen werde. Sie war begeistert darüber, dass er sich entgegen ihrer Befürchtungen in seiner Männlichkeit nicht verunsichert fühlte durch den Umstand, dass sie dereinst unter anderen Vorzeichen ihr Leben begonnen hatte. Er sprach davon, dass schwere Genitalverletzungen hauptursächlich für Suizide unter US-Soldaten seien; sie registrierte zufrieden, wie weit weg sie von einer derartigen Reaktion sei. So wie sie sich in der Pubertät von Testosteron vergiftet gefühlt hatte, bevor das Antidot Östrogen zur Schadensbegrenzung eingesetzt wurde, so fremd und unpassend kam ihr rückblickend ihr Schwanz vor, dessen Transformation in eine Neovagina sie in keiner Weise bedauerte. Unterm Strich änderte ihre Offenbarung nichts an seinen Wünschen ihr gegenüber, höchstens, dass er seine Verantwortung gegenüber ihr als Jungfrau mannhaft annahm.

In den Tagen nach diesem Gespräch brach Kerstin zum Osterurlaub in die westfälische Heimat auf. Sie nahm eine überempfindliche juckende Pflaume mit auf den Weg, die das Anfassen und Waschen erschwerte. Hatte sie sich beim intimen Kontakt mit Severin eine Infektion eingefangen? Das Risiko für Frauen dafür war beim ungeschützten Geschlechtsverkehr deutlich höher als für Männer, zum einen wegen der kürzeren Harnröhre, zum anderen wegen der anatomischen Nachbarschaft zum Anus. Als sie Severin von einer diagnostizierten Blasenentzündung schrieb, antwortete er neckisch, sie sei ja wirklich erfolgreich auf das Leben einer Frau eingestellt worden, sogar mit den Nachteilen. Ob sie denn auch ihre Tage bekomme? Sie senkte schamhaft die Augen und schrieb ihm ermahnend, dass auch er ein Interesse daran habe, dass die fiese Entzündung bald wieder abklinge, Sex sei unter diesen Umständen kaum möglich.

Das gab er gerne zu. Und als er ihr einen Artikel über das gynäkologische Krankheitsbild der brennenden Vulva zusandte, traten ihr Tränen der Rührung in die Augen. Kerstin war für ihn einfach eine Frau, punktum. Ihre Befürchtungen vor einer Zurückweisung waren anscheinend übertrieben, sie war Teil des weiblichen Kollektives und wurde so behandelt. Vermutlich war sie schöner, als sie es sich in ihrem selbstkritischen Blick auf Gesicht und Körper zugestand. Gerne nahm sie Severins Anregung auf, sich mit Fingerübungen in der Spalte auf seinen nächsten Besuch vorzubereiten. Vielleicht war es sinnvoll, mit einem kleinen Delphin für eine Dehnung und Lockerung zu sorgen, um ihm den Platz zu bieten, den er beanspruchte. Und unter Umständen war es nach 32 Jahren Zeit für eine korrigierende Operation der Scham: Zum Vertiefen und Weiten der Höhle, zum Glätten und Straffen der Haut, zum Entfernen vernarbten Gewebes. Das wäre ein Dienst für sie beide, für sich und ihren Liebhaber in spe.

Offen

Noch am Morgen hatte er ihr auf Telegram geschrieben, wollte wissen, ob es bei der abendlichen Verabredung bleibe. Kerstin war aufgeregt, was sie auch kommunizierte, genauso erfreut war sie ob der Perspektive einer angeblichen Tantra-Session. Ihr war sonnenklar, dass Severin und sie bei der Massage nackt sein würden. Natürlich fragte sie sich bang, ob ihm ihre Brüste zu klein sein würden, was er über ihre Silhouette denken und was er zu ihrer Spalte sagen würde. Sie war erfüllt vom Versprechen auf eine zauberhafte Begegnung und sagte voller Freude zu.

Sie wollte sich schön machen für diesen Mann, den sie über zwölf Jahre kannte, als Freund, als Kollegen, als Vertrauten. Nun wünschte sie sich, dass er ihr Liebhaber werde. Er schien nicht abgeneigt, schließlich kam die Idee einer Massage von ihm. Sie zog das rote Etuikleid an, das dezent Taille und Dekolleté betonte, Hüften andeutete und knapp oberhalb des Knies endete. Mit den knöchelhohen schwarzen Stiefelchen fand sie sich im Spiegel ihres Schlafzimmers irre sexy. Die frisch getönten und gewaschenen Haare trug sie offen, die dunklen Wellen fielen ihr warm und lockend auf die Schultern. Sie zog die Lippen signalrot nach und fand, sie mache fürs Büro eine akzeptable Figur – und vor allem für den Feierabend.

Als sie das Büro verließ und im beigen Cape zur S-Bahn stöckelte, dämmerte es bereits. Sie fand es seltsam, sich mit Severin in der Wohnung seiner Freundin während deren Abwesenheit zu treffen, um mit ihm intim zu werden, aber sie wollte sich nicht seinen Kopf zerbrechen wegen dieses von ihm getroffenen Arrangements. Sein Angebot, seine Freundin kurz kennenzulernen, bevor diese zur Chorprobe fuhr, lehnte sie dankend ab, vielleicht ein anderes Mal. Sie ging durch die ruhige Seitenstraße mit ihren unzerstörten Altbauten mit den Jugendstilfassaden, fühlte sich auf Anhieb wohl auf dieser bürgerlichen Insel in der dreckigen Stadt und stand schließlich vor der genannten Hausnummer. Der Name auf dem Klingelschild war gut zu lesen, im entsprechenden Stockwerk brannte Licht, wie sie von unten gewahr wurde.

Die Wohnungstür stand leicht offen, Kerstin tippte mit den Knöcheln auf das Blatt und schob sie auf. Im Flur stand Severin im Bademantel, lächelnd, genau wie sie. Sie gaben sich einen flüchtigen Kuss, Severin zeigte ihr das Spielzimmer und das Bad. Dort duschte sie, frottierte sich trocken und hüllte ihren nackten Körper in den Kimono, der wie für sie geschneidert bereit lag. Sie warf einen Blick in den Badezimmerspiegel, atmete tief durch, fand sich reizend und ging nach vorn. Severin lag nackt bäuchlings auf einer Matratze, den Po mit einem Handtuch lose bedeckt, leise Musik lief, Kerzen brannten, Teeduft hing im Raum. Sie waren überein gekommen, dass sie mit der Massage beginnen solle, um sich dann in einem zweiten Schritt von ihm verwöhnen zu lassen.

Kerstin hockte sich über Severins Hüften, sich mit den Händen auf seinen Schulterblättern abstützend. Sie streichelte langsam in kreisenden Bewegungen den straffen Rücken, sie konnte ein Jauchzen nicht unterdrücken, als sie seine feste Oberarmmuskulatur griff. Sie kannte das Gefühl von früheren Umarmungen, nun lag dieser Mann mit seinem definierten Körper eines Turners vor ihr und ließ sich von ihr liebkosen. Denn genau das wurde es, aus der anfänglichen Massage wurde ein erotisches Streicheln, das sie von Beginn an gewollt und angestrebt hatte. Sie suchte vollen Hautkontakt zu ihm, legte sich mit ihrer Brust auf seinen Rücken, schob sich langsam reibend über ihn, strich mit ihren Füßen über seine Waden, gab ihm Küsse in den Nacken, verwuschelte ihm seinen Fassonschnitt. Sein wohliges Grunzen gab ihr das Gefühl, ihm wohlzutun.

Dann drehte er sich um und ein Blick auf seine Lenden zeigte beiden, dass er sehr bei der Sache war. Es wunderte ihn selbst, wie er ihr mitteilte, dass sein Schwanz gewachsen war und sich aufzurichten begann. Nun lag sie auf dem Rücken, die Beine offen, splitternackt seinen Augen und Armen dargeboten. Er lächelte, küsste sie tief in den Rachen hinein und fasste ihre kleinen Brüste, genau in der Stärke, wie sie es liebte. Er kauerte auf seinen Knien und mit einem schnellen Griff hatte er ihr Becken auf Gesichtshöhe angehoben, sie warf die Hände neben ihren Kopf und ließ es inniglich geschehen, als er anfing, ihre Spalte zu lecken. Das war keine Massage mehr zur Lockerung der Chakren, das war ein Liebesspiel, das beide wollten. Über sich erkannte Kerstin eine Uhr an der Wand, sie hatten noch gut 90 Minuten. Wenn Du mich weiter so anmachst, ficke ich Dich, hörte sie Severin sagen.

Ohne jede Scheu gab sie ihm zur Antwort, Mache doch, ich werde Dich nicht hindern. Er legte sie sich zurecht und führte einen ölgetränkten Finger ein. Sie wand sich vor Lust und Schmerz, als der zweite hinzukam. Es ging etwas eng zu in ihr, bei ihren bisherigen Erfahrungen mit ihrer Neovagina spielte die Penetration keine Rolle. Nun einem Mann Platz zu bieten, war nicht ganz einfach, sie würde diese sinnliche Region mit ihren Muskeln, Nerven und Hautfalten rund um die Öffnung trainieren müssen, um ihn gänzlich aufnehmen zu können. Severin musterte sie von Kopf bis Fuß und schien Gefallen zu finden an diesem Leib, der so lang und sehnig war wie seiner, mit einer seidigen Haut und angedeuteten Rundungen weiblicher Art. Unter seinen Griffen zuckte sie am ganzen Körper, sie fühlte sich genommen und befriedigt, auch ohne kompletten Vollzug.

Wohlig ermattet lagen sie nebeneinander, erfreuten sich an der Gegenwart des/der anderen. In Kerstin wuchs eine Furcht, Severin werde sie zu maskulin finden, ihre Hände waren kaum kleiner als seine, wie er sofort bemerkt hatte. Er musste registrieren, dass sie mit Männern wenig Erfahrung hatte, ohne dass es ihn zu verstören schien. Hier zahlte sich aus, dass beide einander seit Jahren vertraut waren und sich nun eine neue Dimension erschlossen. Er zog mit dem Daumen rund um ihren Bauchnabel und meinte, er sei froh, dass sie die Haare lang trage. Voller Eifer erzählte sie ihm vom letzten Friseurbesuch und ihrer Idee, sich die Haare zum Pagen kürzen zu lassen. Er korrigierte sie sanft und meinte, er habe die Locken rund um ihre Scham gemeint. Einmal mehr trat ihre Unbedarftheit zutage, sie machte Entdeckungen mit einem Mann, die geborene Frauen in jungen Jahren machen.

Ihr blieb noch eine halbe Stunde, bis die Dame des Hauses erwartet wurde. Voller Seligkeit ging sie ins Bad und wusch sich das Kokosöl von der Haut. Es war nicht gerade romantisch, in dieser verträumten Stimmung die Wohnung zu verlassen und nach Hause zu fahren, zu gern wäre sie an Severins Seite liegen geblieben und eingeschlafen. Egal, es hatte beiden Spaß gemacht, das Anrühren und Überschreiten der Grenzen war für beide eine schöne Erfahrung gewesen, die sie wiederholen wollten. Das war für Kerstin das Glück dieses Abends: Severin wurde durch sie angemacht, er wollte mehr von ihr, er wollte sie wiedersehen mit mehr Zeit für Experimente. Mochte er ahnen, dass sie ihre Weiblichkeit über Umwege erhalten hatte, für ihn war sie offenbar Frau genug, sie zu begehren. Sie gab ihm auf der Türschwelle einen Abschiedskuss und steppte die Treppen nach unten, leise die Karelia-Suite von Sibelius summend. Als sie in der S-Bahn saß, erkannte sie ihr lächelndes Gesicht in der dunklen Scheibe. Sie fühlte sich nun ein Stück mehr Frau, sie hatte lang genug warten müssen.

Ding

Das hat es in der Geschichte des modernen Schachs noch nicht gegeben: Ein Match um die Weltmeisterschaft steht vor der Tür und die Kiebitze interessiert es kaum. Am Ostersonntag spielen der Russe Ian Nepomniachtchi und der Chinese Ding Liren in Astana die erste Partie um den Titel, ohne dass auch nur eine deutsche Schachseite eine Vorschau dazu lieferte. Das liegt weniger an der Klasse der beiden Kontrahenten, sondern am fehlenden Titelverteidiger Magnus Carlsen, der sich die Anstrengung eines weiteren Matches nicht zumuten wollte. Einen klaren Favoriten für diese Weltmeisterschaft außer Konkurrenz gibt es nicht.

Das austragende Land Kasachstan liegt geografisch passend zwischen Russland und China, als Hauptsponsor tritt der Finanzdienstleister Freedom Holding auf, der an der New Yorker Nasdaq gelistet ist. Der Russe Ian Nepomniachtchi, Jahrgang 1990, spielt seinen zweiten WM-Kampf, im Dezember 2021 ist er in Dubai gegen Magnus Carlsen entsetzlich unter die Räder gekommen und hat sich nach der knappen Niederlage in der sechsten Partie wie ein Amateur fertigmachen lassen. Es wird spannend sein zu sehen, ob er seine Lehren aus diesem schachlichen Desaster gezogen hat und heuer etwas weniger halbseiden spielt. Den aktuellen Sanktionsregeln gegen Russland nach der Invasion der Ukraine entsprechend tritt er in Astana unter der neutralen Flagge der FIDE ans Brett.

Ding Liren ist 1992 geboren, er trägt den Großmeistertitel seit 2009. Der Chinese ist die klare Nummer Eins seines Landes und zählt seit Jahren zur absoluten Weltspitze, seine höchste Elozahl von 2816 Punkten datiert vom November 2018. Er gilt als flexibler Spieler, der sich sowohl in theoretischen Positionen wie auch in verwickelten taktischen Stellungen wohl fühlt; seine enorme Rechenfähigkeit kommt im auch im Endspiel zupass. Durch die katastrophale Covid-Politik seines Landes konnte er in den letzten Jahren an kaum einem Turnier der Spitzenklasse teilnehmen, sodass über seine gegenwärtige Form nur gemutmaßt werden kann. Die Teilnahme an dem Match in Kasachstan verdankt er einem doppelten Zufall: Ins Kandidatenturnier 2021 in Madrid rutschte er nur, weil der qualifizierte Sergej Karjakin wegen kriegsverherrlichender Tweets international gesperrt wurde; als zweiter eben dieses Turnieres spielt er nun gegen dessen Sieger um die WM, weil der Titelverteidiger Magnus Carlsen freiwillig verzichtet.

Dieser Coup des Norwegers, wenige Wochen nach seinem Triumph von Dubai Ende Dezember 2021 erstmals angedeutet, entwertet den Wettkampf in Astana zwangsläufig. Anders als Bobby Fischer, der 1975 nicht zur Titelverteidigung antrat und damit Anatoli Karpow kampflos zum Weltmeister machte, hat Carlsen ungebrochen Freude am Schach und bleibt die unumstrittene Nummer Eins der Weltrangliste mit mehr als 50 Zählern Vorsprung. Carlsen initiiert Onlineturniere, er kommentiert die Partien seiner Großmeisterkollegen, er gewinnt hoch besetzte Turniere im wieder anlaufenden Schachzirkus und ist Weltmeister im Blitz sowie im Schnellschach. Seine Intuition am Brett, sein Siegeswille und seine Endspieltechnik sind auch nach zehn Jahren als (scheidender) Weltmeister beispiellos. Er bleibt der Champion aller Klassen, egal, wer in der kasachischen Steppe die Krone holt.

Ding Liren freut sich natürlich über seine unverhoffte Chance, erster chinesischer Weltmeister zu werden. China ist in den vergangenen 30 Jahren zu einer Großmacht im Schach avanciert, neben Russland, den USA, der Ukraine, Frankreich und jetzt auch Indien. Bei den Frauen stellen die Chinesinnen die Weltmeisterin und ihre Herausforderin, auch bei Olympia holten die chinesischen Spielerinnen und Spieler mehrfach Gold; bei den Männern ist die Dominanz des Reiches der Mitte noch nicht ganz so erdrückend. Beim Turnier in Wijk aan Zee im Januar dieses Jahres lieferte Ding eine durchwachsene Vorstellung ab; er verlor drei Partien und verblüffte als Freund geschlossener Eröffnungen mit Weiß mit dem ersten Zug e4, gedacht wohl als Signal der Verwirrung an das Team seines Gegners in Astana. Die Partien zwischen den beiden werden anfangs im Zeichen gegenseitiger Neutralisierung stehen, das Risiko wird wohl erst in der zweiten Matchhälfte hochgeschraubt werden.

Es ist schade, dass dieser bescheidene, fast schon schüchterne junge Mann nicht die Gelegenheit bekommt, sich mit dem Besten seiner Zunft zu messen. Im Gegensatz zu Nepomniachtchi hätte Ding gegen Carlsen durchaus seine Anteile haben können. Doch Carlsen hatte nach fünf gewonnenen WM-Kämpfen keine Motivation mehr, gegen einen Spieler seiner Generation zu kämpfen; gegen den jungen iranisch-französischen Herausforderer Alireza Firouzja hätte er sich dem Vernehmen nach noch einmal zu einer Titelverteidigung aufraffen können. Doch am Ende aller Konjunktive nimmt Carlsen, ganz ohne etwas zu tun, bedeutsam Einfluss auf die Geschichte der Kämpfe um die Weltmeisterschaft. Er hat dem Schach in den letzten 15 Jahren seinen Stempel aufgedrückt mit einer Überlegenheit, wie man sie seit der Ära Garri Kasparow nicht mehr gesehen hat. Der neue Weltmeister wird einer des Übergangs sein.

Rein äußerlich betrachtet, gibt es keinen Grund, sich über die Begegnung in Kasachstan zu beschweren. Gespielt wird im feinen St. Regis Astana Hotel, die Börse von 2 Mio. Euro wird im Verhältnis 60:40 zwischen dem Sieger und dem Verlierer aufgeteilt werden. Steht nach den angesetzten 14 Partien mit klassischer Bedenkzeit noch kein Gewinner fest, wird dieser in einer Schnellschachverlängerung ausgespielt. Für Russland ist der WM-Titel nach wie vor mit einem großen Prestige verbunden; Jan Nepomniachtchi, der sich im März letzten Jahren vorsichtig, aber deutlich mit anderen Großmeistern gegen den Krieg gegen die Ukraine ausgesprochen hat und dennoch im Land geblieben ist, soll ihn nun „zurück“ holen. Gewänne Ding Liren, zahlten sich Chinas systematische Investitionen ins Spiel der Könige erneut aus. Doch in jedem Fall bleibt Magnus Carlsen der Maßstab des Schachs. Er hat sich vom legendären Programm AlphaZero inspirieren lassen, mag die schräge Variante Chess960 und sieht die Zukunft des Spiels im Modus mit verkürzter Bedenkzeit, ein erfolgreicher Geschäftsmann ist er obendrein. Souverän.